Jules Verne
Die Drangsale eines Chinesen in China
Jules Verne

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel:

das dem Leser vielleicht die Lust zu einem Gang in die Kontore der »Centennar« benehmen wird.

Am Tage nachher schritt Kin-Fo, dessen Verachtung gegen alles Irdische sich nicht einen Augenblick verleugnete, allein aus seiner Wohnung. In seinem ewig gleichen Tempo ging er am rechten Ufer des Baches hinunter. An der Holzbrücke angelangt, welche die englische mit der amerikanischen Niederlassung verbindet, schritt er über den Bach und lenkte die Schritte nach einem Hause ziemlich schönen Aussehens, das zwischen der Missionskirche und dem Konsulat der Vereinigten Staaten errichtet war.

Am Giebel dieses Hauses spreizte sich ein großes, breites Kupferschild, auf dem in großer Grabschrift zu lesen stand:

Die Centennar-Lebensversicherungs-Gesellschaft.
Grundkapital: 20 Millionen Dollar.
General-Agent: William J. Bidulph.

Kin-Fo stieß die Thür auf, die ein zweiter Polsterflügel schützte oder sicherte, und stand in einem Kontor, das durch ein einfaches Geländer von Armeshöhe in zwei Hälften abgeteilt war. Einige Schränke mit Pappkästen, Bücher mit Nickelverschluß, ein amerikanischer Tresor mit Selbstverschluß, ein paar Tische, an denen die angestellten Commis saßen und schrieben, ein komplizierter Schreibtisch, Seiner Ehren Herrn William J. Bidulph vorbehalten, das war das ganze Mobiliar dieses Zimmers, das in ein Haus auf dem Broadway und nicht in ein am Ufer des Wu-sung errichtetes Gebäude zu gehören schien.

William J. Bidulph war in China Generalagent der Lebens- und Feuerversicherungsgesellschaft, deren Sitz sich in Chicago befand. Die »Centennar« – ein famoser Name, der Klienten anlocken sollte –, die in den Vereinigten Staaten fein rennomierte »Centennar« besaß Filialen und Vertreter in allen fünf Weltteilen. Sie machte ungeheure und ausgezeichnete Geschäfte dank ihren überaus kühn und liberal abgefaßten Satzungen, die sie zu Versicherungsabschlüssen gegen alle möglichen Fährlichkeiten ermächtigten.

Die Söhne des Himmels fingen gleichfalls an, diesem modernen Ideenkreislauf zu folgen, der die Kassen der Gesellschaften solcher Gattung füllt. Eine große Zahl von Häusern im Reiche der Mitte waren gegen Feuersgefahr versichert, und auch für Versicherungsverträge auf den Todesfall mit all den vielfältigen Kombinationen, die sie enthielten, war an chinesischen Unterschriften kein Mangel. Das Schild der »Centennar« spreizte sich bereits am Sims von Thüren in Schang-hai, unter anderm auch an dem Säulenportale des reichen Yamens Kin-Fo's. Die Absicht also, sich gegen Feuersgefahr zu versichern, war es nicht, die den Zögling Wangs veranlaßte, Seiner Ehren Herrn William J. Bidulph einen Besuch zu machen.

»Herr Bidulph?« fragte Kin-Fo beim Eintritt.

William J. Bidulph war zugegen, »in Person«, wie ein Photograph, der seine Aufnahmen selbst bewirkt, immer dem Publikum zur Verfügung und zu Diensten – ein Mann von fünfzig Jahren, in tadellosem schwarzen Anzug; Frack, weiße Krawatte, Vollbart mit Ausnahme von Schnurrbart, Benehmen, Aussehen, Haltung, Wesen durch und durch amerikanisch.

»Mit wem habe ich die Ehre?« fragte William J. Bidulph.

»Mit Herrn Kin-Fo aus Schang-hai.«

»Ach, Herr Kin-Fo! . . . Klient der ›Centennar‹ . . . Police Nummer 27 200 . . .«

»Jawohl – derselbe!«

»Dürfte ich mich glücklich genug schätzen, mein Herr, Ihnen dienen zu können?«

»Ich wünsche ein paar Worte mit Ihnen privatim zu sprechen,« versetzte Kin-Fo.

Die Unterhaltung zwischen den beiden Personen mußte ja um so leichter von statten gehen, als William J. Bidulph das Chinesische ebenso geläufig sprach, wie Kin-Fo das Englische. Der reiche Klient wurde also mit aller ihm schuldigen Rücksicht in ein mit schweren Teppichen behangenes, durch Doppelthür abgesperrtes Kabinett geführt, in welchem man, ohne Furcht, von einem der pfiffigern Tipaos des Himmlischen Reiches belauscht zu werden, ein Komplott gegen die Dynastie der Tsing hätte schmieden können.

»Mein Herr,« hub Kin-Fo an, sobald er sich in einen Schaukelstuhl neben einem mit Gas geheizten Kamin gesetzt hatte – »ich wünsche mich bei Ihrer Gesellschaft zu versichern; Prämie zahlbar bei Todesfall; die Höhe der Summe will ich Ihnen gleich nennen.«

»O, mein Herr,« versetzte William J. Bidulph – »nichts einfacher als das! Zwei Unterschriften, die Ihrige und die meinige – am Fuß einer Police – und die Versicherung ist perfekt, die Erfüllung einiger Formalitäten natürlich vorbehalten. Aber, mein Herr . . . Sie erlauben mir wohl, bitte, diese Frage! . . . Sie haben doch den Wunsch, erst in vorgerückterem Alter zu sterben? . . . ein Wunsch übrigens, der durchaus natürlich ist!«

»Warum?« fragte Kin-Fo. »Am häufigsten läßt doch der Abschluß einer Lebensversicherung bei dem Versicherten auf Furcht vor allzu nahem Tode schließen . . .«

»O, mein Herr!« versetzte William J. Bidulph im ernstesten Tone der Welt – »solche Furcht giebt's bei den Klienten der ›Centennar‹ niemals! Sagt das nicht schon ihr Name? Wer sich bei uns versichert, erwirbt ein Patent auf langes Leben! Verzeihen Sie, bitte! Aber es ist eine Rarität, wenn bei uns mal ein Klient stirbt, der jünger ist als hundert Jahre . . . wirklich eine große, sehr große Rarität! . . . Im eigensten Interesse der Leute müßten wir ihnen das Leben nehmen! Darum machen wir so großartige Geschäfte! Ich sage Ihnen also, mein Herr, eine Versicherung in der ›Centennar‹ ist die Quasi-Sicherheit, selbst ein Centennarier zu werden!«

»Was Sie sagen!« bemerkte mit Seelenruhe Kin-Fo, indem er William J. Bidulph mit seinen kalten Augen musterte.

Der Generalagent, feierlich wie ein Minister, sah nicht im geringsten darnach aus, als könne er scherzen.

»Wie dem sei,« versetzte Kin-Fo, »ich wünsche, mich im Betrage von 200 000 Dollars zu versichern.«

»Nehmen wir also an: ein Kapital von zweimalhunderttausend Dollars,« wiederholte William J. Bidulph und schrieb die Summe, deren Höhe nicht eine Wimper bei ihm zucken machte, auf einen Abreißblock. »Sie wissen,« setzte er hinzu, »daß die Versicherung null und nichtig wird und daß sämtliche bezahlten Prämien, gleichviel welche Höhe sie erreicht haben, der Gesellschaft als Besitz und Eigentum verbleiben, wenn die versicherte Person durch diejenige Person, zu deren Gunsten die Versicherung lautet, vom Leben zum Tode gebracht wird?«

»Das weiß ich.« – »Und auf welche Gefahren soll die Versicherung sich erstrecken, mein Herr?« – »Auf all und jede Gefahr!« – »Auf Reisen zu Wasser und zu Lande? Auch auf einen Aufenthalt außerhalb der Grenzen des Himmlischen Reiches?« – »Ja!« – »Auf ein Todesurteil ebenfalls?« – »Ja!« – »Auf Zweikampf?« – »Ja!« – »Auf Dienst im Heere?« – »Ja!« – »Dann werden die Prämien sehr bedeutend sein!« – »Ich werde bezahlen, was bezahlt werden muß!« – »Mir schon recht!«

»Aber,« bemerkte Kin-Fo, »von einer weitern höchst wichtigen Gefahr sprechen Sie nicht, trotzdem sie doch vorhanden ist!«

»Und die wäre?«

»Der Selbstmord! Ich glaubte, die Satzungen der ›Centennar‹ ermächtigten auch zur Versicherung gegen Selbstmord?«

»Ganz gewiß, mein Herr, ganz gewiß!« antwortete William J. Bidulph, indem er sich die Hände rieb. »Gerade dieser Paragraph bildet ja eine der großartigsten Chancen für uns! Sie begreifen doch, daß unsere Klienten im allgemeinen Personen sind, die am Leben hängen, und daß, wer zufolge einer übertriebenen Vorsicht gegen Selbstmord versichert, sich im ganzen Leben nicht selbst umbringt.«

»Mag sein,« antwortete Kin-Fo. »Aus persönlichen Gründen wünsche ich, auch diese Gefahr einbezogen zu sehen.«

»Ganz wie Sie wünschen, mein Herr! Aber die Prämie wird außerordentlich steigen.«

»Ich wiederhole, daß ich bezahle, was zu bezahlen ist!«

»Abgemacht! Wir sagen also, hub William J. Bidulph wieder an, indem er auf seinem Abreißblock zu notieren fortfuhr – »einschließlich aller Gefahren auf Reisen zu Wasser und zu Lande, der Selbstmord einbezogen . . .«

»Wie hoch wird die Prämie unter diesen Bedingungen sein?« fragte Kin-Fo.

»Mein werter Herr,« versetzte der Hauptagent, »unsere Prämien werden mit mathematischer Gerechtigkeit festgesetzt. Hierin beruht die Ehre unserer Gesellschaft! Die Prämien werden nicht mehr, wie in früherer Zeit, nach den Tabellen von Duvillars berechnet . . . Kennen Sie Duvillars?«

»Duvillars kenne ich nicht.«

»Ein hervorragender, aber schon veralteter Statistiker, dermaßen alt schon, daß er zu den Toten gehört und nicht zu den Lebenden! Zur Zeit, als er seine berühmten Tabellen aufsetzte, die der Mehrzahl von europäischen Gesellschaften, allerdings stark hinterm Monde zurück! noch immer als Prämienstaffel dienen, war die mittlere Lebensdauer niedriger als in der Gegenwart – was wir dem allgemeinen Fortschritt der Wissenschaften etc. zu verdanken haben. Wir basieren unsre Prämienstaffeln also auf eine höhere Durchschnittslänge des menschlichen Lebens, bewegen uns also in wesentlich günstigeren Bedingnissen für den Versicherten, der keine so hohe Prämie mehr bezahlt und ein längeres Leben genießt . . .«

»Wie hoch wird sich der Betrag für meine Prämie belaufen?« fragte Kin-Fo neuerdings, denn er hatte den sehnlichen Wunsch, den Redefluß des Agenten aufzuhalten, der sich keine Gelegenheit entgehen ließ, eine Lanze zu gunsten seiner »Centennar«-Gesellschaft einzulegen.

»Mein Herr,« erwiderte William J. Bidulph, »ich werde so indiskret sein müssen, Sie nach Ihrem Alter zu fragen?«

»Einunddreißig Jahre.«

»Nun, bei 31 Jahren würden Sie, wenn es sich bloß um die gewöhnlichen Fährlichkeiten im Leben handelte, bei jeder Gesellschaft 283 pro 100 zu zahlen haben. Bei der »Centennar« aber wird der Betrag sich bloß auf 270 stellen, was im Jahr auf ein Kapital von 200 000 Dollars 5400 Dollars ausmacht.«

»Und bei den Bedingungen, wie ich versichert zu sein wünsche?« fragte Kin-Fo.

»Alle Fährlichkeiten also, einschließlich Selbstmord, einbezogen?«

»Selbstmord besonders!«

»Mein Herr,« antwortete in liebenswürdigem Tone William J. Bidulph, nachdem er eine gedruckte Tabelle auf der Rückseite seines Abreißblocks zu Rate gezogen, »wir können's nicht billiger als zu 25 Prozent machen.«

»Das beträgt also . . .?«

»50 000 Dollars!«

»Und wie muß die Prämie bezahlt werden?«

»Auf einmal oder in monatlichen Raten – ganz nach dem Belieben des Versicherten . . .«

»Für die ersten beiden Monate hätte ich also zu bezahlen . . .?«

»8332 Dollars, die also, wenn sie heute, am 30. April, bezahlt werden, mein werter Herr, der Police Deckung schaffen bis zum 30. Juni des laufenden Jahres!«

»Mein Herr,« sagte Kin-Fo; »diese Bedingungen sind mir genehm. Bitte, hier ist der Prämienbetrag für die zwei ersten Monate!« und Kin-Fo legte ein dickes Bündel Dollarnoten, das er aus der Tasche langte, auf den Tisch.

»Sehr gut . . . mein Herr . . . sehr wohl!« antwortete William J. Bidulph. »Aber ehe die Police unterzeichnet wird, handelt es sich noch um die Erfüllung einer Formalität!«

»Und die wäre?«

»Sie müssen die Güte haben, sich vom Arzt unsrer Gesellschaft untersuchen zu lassen!«

»Zu welchem Zweck untersuchen lassen?«

»Um festzustellen, ob Sie im Besitz einer guten Körperkonstitution sind – ob Sie an keiner organischen Krankheit leiden, die Ihre Lebensdauer verkürzen könnte – kurz, ob Sie uns Garantien für ein langes Leben bieten!«

»Wozu das?« bemerkte Kin-Fo – »Wenn ich doch gegen Zweikampf und Selbstmord mich versichre?«

»Hm, mein lieber Herr,« erwiderte William J. Bidulph, nach wie vor mit Lächeln, »eine Krankheit, deren Keim Sie in sich tragen, die Sie in wenigen Monaten wegraffen könnte, würde uns klippeklar 200 000 Dollars kosten!«

»Mein Selbstmord doch auch? nehme ich an.«

»Lieber Herr,« antwortete der leutselige Generalagent, indem er Kin-Fo's Hand nahm und sanft zu wiederholten Malen drückte, »ich habe bereits die Ehre gehabt, Ihnen zu sagen, daß viele Klienten von uns auf Selbstmord versichern – daß sie sich aber niemals selbst umbringen! Uebrigens ist es uns nicht verwehrt, Sie überwachen zu lassen . . . O! mit der größtmöglichen Diskretion natürlich!«

»Ach!« machte Kin-Fo.

»Ich füge noch hinzu, als persönliche Bemerkung von mir, daß das grade von allen Klienten der ›Centennar‹ diejenigen sind, die ihre Prämie am längsten bezahlen. Sehen wir doch mal, unter vier Augen, warum sich der reiche Kin-Fo das Leben nehmen sollte?«

»Und warum sollte der reiche Kin-Fo sich versichern?«

»O!« versetzte William J. Bidulph, »um die Gewißheit zu haben, in seiner Eigenschaft als Klient der ›Centennar‹ ein sehr hohes Alter zu erreichen!«

Es hatte keinen Zweck, mit dem Generalagenten der berühmten Gesellschaft noch länger zu diskutieren. Er war seiner Sache viel zu sicher!

»Und nun,« setzte er hinzu, »zu wessen Gunsten soll diese Versicherung auf 200 000 Dollars lauten? Wer soll die Prämie ausgezahlt bekommen?«

»Die Prämie soll an zwei Personen zur Auszahlung gelangen,« erwiderte Kin-Fo.

»Zu gleichen Teilen?«

»Nein! Zu ungleichen Teilen. Auf den einen Teil entfallen 150 000, auf den andern 50 000 Dollars!«

»Die 50 000 also, mein Herr, gelangen zur Auszahlung an . . .?«

»An Wang.« – »An Wang, den Philosophen?« – »Denselben!« – »Und die 150 000?« – »An Madame Le-u in Peking!«

»In Peking!« wiederholte William J. Bidulph, während er die Namen der Policeberechtigten auf seinem Abreißblock verbuchte. Dann fragte er wieder:

»Wie alt ist Madame Le-u?«

»Einundzwanzig Jahre,« antwortete Kin-Fo.

»O!« meinte der Agent, »noch eine recht junge Dame, die wohl aber im alten Register stehen wird, wenn sie den Betrag des versicherten Kapitals ziehen wird!«

»Warum? Wenn ich bitten darf?«

»Weil Sie länger als hundert Jahre leben werden, mein werter Herr! Und Philosoph Wang . . . Wie alt ist dieser?«

»Fünfundfünfzig Jahre!«

»Hm, der liebenswürdige Herr kann Gift darauf nehmen, daß er von dem Policengelde keinen roten Heller zu sehen bekommt!«

»Das wird sich ja zeigen, mein Herr!«

»Mein Herr,« versetzte William J. Bidulph, »wenn ich im Alter von 55 Jahren der Erbe eines Mannes von 31 Jahren wäre, der als Hundertjähriger sterben wird, so würde ich nicht so einfältig sein, mit seinem Erbe zu rechnen.«

»Ihr Diener, mein Herr,« sagte Kin-Fo, indem er sich zur Thür begab.

»Ganz der Ihrige, mein Herr!« versetzte Seine Ehren Herr William J. Bidulph, indem er sich vor dem neuen Klienten der »Centennar« tief verneigte.

Am andern Tage hatte der Gesellschaftsarzt bei Kin-Fo den vorschriftsmäßigen Besuch abgestattet. »Eiserne Konstitution, Muskeln von Stahl, Lungen, die für Orgelpfeifen taugten!« – also stand im ärztlichen Bericht. Für die Gesellschaft gab es absolut kein Hindernis, einen so vorzüglich fundierten Kandidaten in ihre Gesellschaft aufzunehmen. Die Police wurde also an diesem Tage von Kin-Fo einerseits zu Gunsten der jungen Wittib und des Philosophen Wang und anderseits von William J. Bidulph als Vertreter der Gesellschaft unterzeichnet.

Weder Le-u noch Wang sollten, sofern nicht unwahrscheinliche Umstände einträten, jemals früher erfahren, was Kin-Fo soeben zu ihrem Besten gethan hatte, als an dem Tage, an welchem die »Centennar« in die Lage treten würde, dies Kapital an sie auszuzahlen als letzte Großmut des Ex-Millionärs.



 << zurück weiter >>