Jules Verne
Die Drangsale eines Chinesen in China
Jules Verne

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Fünfzehntes Kapitel:

das Herrn Kin-Fo ganz sicher und vielleicht auch dem Leser eine Ueberraschung aufhebt.

Der Vermählung des reichen Kin-Fo aus Schang-hai mit der liebenswürdigen Le-u aus Pe-king stand nun nichts mehr im Wege. Nur noch sechs Tage, dann war die Frist abgelaufen, die Wang bewilligt worden war, sein Versprechen einzulösen; aber der unglückliche Philosoph hatte seine Flucht, für die sich nach keiner Seite hin eine Erklärung fand, mit dem Leben bezahlt. Zu fürchten stand also jetzt nichts mehr. Die Hochzeit konnte stattfinden. Sie wurde beschlossen und auf jenen 25. Juni festgesetzt, den Kin-Fo zum letzten Tage seines Lebens hatte machen wollen!

Die junge Frau kannte nunmehr die ganze Sachlage. Sie wußte, durch welche verschiedenen Lebensphasen derjenige eben gewandelt war, der jetzt wieder zu ihr zurückkehrte, nachdem er nichts davon hatte wissen wollen, sie arm und elend und zum zweiten Male zur Witwe machen zu wollen, und nun in der festen Absicht zu ihr zurückkehrte, sie glücklich zu machen, nachdem ihm die Hände nach keiner Seite hin mehr gebunden waren.

Aber als Le-u den Tod des Philosophen vernahm, konnte sie Thränen nicht zurückhalten. Sie kannte ihn, sie hatte ihn gern, er war der erste Vertraute ihrer Herzensneigung zu Kni-Fo gewesen.

»Armer Wang!« sagte sie – »er wird bei unserer Hochzeit recht fehlen!«

»Jawohl! armer Wang!« antwortete Kin-Fo, dem es nicht minder weh that, diesen Kameraden seiner Jugend, diesen Freund seit zwanzig Jahren, zu missen – »und doch,« setzte er hinzu, »würde er mich zu Tode getroffen haben, ganz, wie er's geschworen hatte!«

»Nein! nein!« versetzte Le-u, das hübsche Köpfchen schüttelnd, »wer weiß, ob er den Tod nicht in den Fluten des Pei-ho bloß gesucht hat, um dieses gräßliche Versprechen nicht zu erfüllen!«

Ach! Diese Möglichkeit ließ sich nur allzusehr annehmen! Die Möglichkeit, daß Wang sich hatte ertränken wollen, um der übernommenen Verpflichtung zu entgehen! In dieser Hinsicht dachte nun Kin-Fo ganz so, wie die junge Frau, und hinfort gab es zwei Herzen, in denen das Bild des Philosophen sich nie mehr verwischen sollte!

Daß infolge des unglücklichen Vorganges auf der Palikao-Brücke die chinesischen Zeitungen mit dem Abdruck der haltlosen Anzeigen Seiner Ehren William J. Bidulphs aufhörten, versteht sich von selbst. Kein Wunder, daß die unerfreuliche Berühmtheit Kin-Fo's zufolgedessen ebenso schnell verflog, wie sie entstanden war. Und nun – was sollte aus Craig und Fry hinfort werden? Die Aufgabe, die Interessen der »Centennar«-Gesellschaft bis zum 30. Juni zu schützen, blieb für sie nach wie vor bestehen, also noch immer auf volle sechs Tage; in Wahrheit aber war Kin-Fo ihrer Dienste nicht mehr bedürftig. Stand denn noch zu befürchten, daß Wang einen Angriff gegen seine Person wagen würde? Nein! denn er war nicht mehr am Leben! Konnten sie fürchten, daß ihr Schutzbefohlener verbrecherisch Hand an sich selbst legen würde? Auch nicht! Kin-Fo verlangte jetzt nach nichts anderem, als nach einem möglichst recht langen und recht guten Leben! Mithin hatte die unablässige Ueberwachung durch Fry-Craig keinen Grund mehr zu weiterem Bestande. Alles in allem genommen, waren es aber ganz brave Menschen, diese beiden Originale! Wenn sich auch ihre Ergebenheit gegen Kin-Fo im großen Ganzen nur aus dem Umstande herschrieb, daß er Klient ihrer Gesellschaft war, so war er um deswillen nicht weniger aufmerksam gegen sie gewesen, sondern hatte sie vielmehr zu jeder Zeit äußerst liebenswürdig behandelt. Darum lud sie auch Kin-Fo zu seinem Hochzeitsfest ein, und sie nahmen die Einladung auch an.

»Uebrigens,« meinte Fry scherzhaft zu Craig, »ist ja Heiraten zuweilen der reine Selbstmord!«

»Man giebt sein Leben hin, indem man es erst recht bewahrt,« antwortete Craig mit liebenswürdigem Lächeln.

Vom folgenden Tage ab war Nan im Hause der Avenue Scha-Kua durch eine besser geeignete Person ersetzt worden. Eine Tante der jungen Wittib, eine Frau Lutalu, war zu ihr gekommen und sollte bis zu ihrer Hochzeit Mutterstelle bei ihr vertreten. Frau Lutalu war die Gattin eines Mandarinen vierten Ranges und zweiter Klasse, mit blauem Knopf, eines alten kaiserlichen Lektors und Mitgliedes der Akademie der Han-Liu, und besah alle physischen und moralischen Eigenschaften, die für eine schickliche Erfüllung dieser wichtigen Obliegenheiten erforderlich waren.

Was Kin-Fo anbetrifft, so rechnete er bestimmt darauf, Peking nach seiner Verheiratung zu verlassen, da er keiner von jenen Söhnen des Himmels war, welche die Nähe des Hofes lieben. Wahrhaft glücklich würde er erst dann werden, wenn er seine junge Frau im reichen Yamen von Schang-hai beherbergt wüßte. Inzwischen war also die Notwendigkeit an ihn herangetreten, sich eine provisorische Wohnung zu mieten, und er hatte, was er brauchte, in Ti-en-su-tang, dem »Tempel des Ewigen Glücks«, gefunden, einem sehr gut und bequem eingerichteten Gast- und Logierhause, das unfern vom Boulevard Ti-en-Men zwischen der tatarischen und der chinesischen Stadt gelegen war. Dort wurden auch Craig und Fry einquartiert, die sich aus Gewohnheitsrücksichten nicht dazu entschließen konnten, ihren Schutzbefohlenen zu verlassen. Was nun Sun anbetrifft, so hatte er, knurrig wie immer, aber fürsorglich darauf bedacht, keinem Phonographen, dessen Indiskretion ihm einen heillosen Schrecken eingejagt hatte, in den Weg zu laufen, seinen Dienst wieder aufgenommen. Nan's Abenteuer hatte ihn wenigstens in dieser Hinsicht klug gemacht.

Kin-Fo hatte die Freude gehabt, zwei seiner alten Freunde aus Canton in Peking wiederzufinden, den Handelsherrn Yin-Pang und den Gelehrten Hu-al. Andererseits war er mit einigen Beamten und Würdenträgern näher bekannt, auch mit einigen Kaufherren der Hauptstadt, und alle erblickten eine Pflicht für sich darin, ihm bei diesen großen Anlässen mit Hilfe und Beistand an die Hand zu gehen.

Jetzt war er wirklich glücklich, der ehedem so indifferente, so gefühl- und leidenschaftslose Zögling des Philosophen Wang! Acht Wochen Sorgen, Aengste, Mühen, diese, wenn auch kurze, so doch um so aufgeregter verlaufene Zeit seines Daseins war hinreichend gewesen, ihm für das, was hienieden Glück ist, Glück sein soll und Glück sein kann, die Augen zu öffnen. Ja! der weise Philosoph hatte recht! Ach, daß er jetzt nicht da war, um die Vortrefflichkeit seiner Lehre ein neues Mal noch festzustellen!

Kin-Fo verbrachte bei der jungen Frau alle Zeit, die er nicht den Vorbereitungen zur Hochzeltsfeier widmete. Le-u war glücklich von dem Augenblick an, da ihr Freund an ihrer Seite weilte. Wozu hatte er nötig, die reichsten Kaufläden der Hauptstadt in Kontribution zu setzen, um sie mit prächtigen Geschenken zu überschütten? Sie dachte einzig und allein an ihn und wiederholte sich die weisen Lehren der berühmten Sammlung Pan-Hoei-Pan:

»Wenn ein Weib einen Mann hat nach ihrem Herzen, so gilt das für ihr ganzes Leben.«

»Die Frau soll eine Achtung ohne Grenzen im Herzen halten vor demjenigen, dessen Namen sie trägt, und soll die Acht hierauf nie aus den Augen lassen.«

»Die Frau soll im Hause sein als wie ein lauterer Schatten und ein flüchtiges Echo.«

»Der Ehemann ist der Himmel der Ehefrau.«

Inzwischen rückten die Vorbereitungen zu dieser Hochzeit, die Kin-Fo recht großartig und prächtig gefeiert sehen wollte, immer näher heran. Schon waren die dreißig Paar gestickter Schuhe, die zur Ausstattung einer Chinesin gehören, in der Wohnung in der Scha-Kua in Reih und Glied gestellt. Die Zuckerwaren von der Konditoreifirma Si-nujan, Konfitüren, getrocknete Früchte, gefüllte Schokolade, Gerstenzucker, dick eingekochte Prünellen und Apfelsinen, Ingwer- und Pompelmus-Saft, die prachtvollen Seidenstoffe, die Juwelen aus kostbaren Edelsteinen und aus fein ciseliertem Gold, die Ringe. Armbänder, Fingernägel-Kappen, Haarnadeln usw. usw., all die reizenden Phantasiewaren der Pekinger Goldschmiedekunst wanderten schier haufenweis in das Boudoir der schönen Wittib Le-u.

In diesem seltsamen Kaiserreiche der Mitte bringt kein junges Mädchen eine Mitgift in die Ehe. Sie wird von den Eltern des Mannes oder von dem Manne selbst richtig gekauft, und wenn keine Brüder da sind, kann sie von dem väterlichen Vermögen einen Teil nur erben, wenn ihr Vater hierüber eine ausdrückliche Verfügung trifft. Diese Bedingungen werden gewöhnlich durch Mittelspersonen geregelt, die den Namen »mei-jin« führen, und erst, wenn in dieser Hinsicht alles abgemacht und in Ordnung ist, wird die Hochzeit festgesetzt.

Die junge Braut wird nun den Eltern des Mannes vorgestellt. Der Mann selbst sieht sie gar nicht. Er bekommt sie erst in dem Augenblick zu sehen, wenn sie in einer geschlossenen Sänfte im ehelichen Hause ihren Einzug hält. In diesem Augenblick wird dem Manne der Schlüssel zur Sänfte gegeben. Er schließt die Thür auf. Gefällt ihm seine Frau, so reicht er ihr die Hand; mißfällt sie ihm, so schließt er die Thür auf der Stelle wieder zu, und alle Beziehungen gelten als abgebrochen unter der Bedingung, daß den Eltern der jungen Frau das gezahlte Handgeld bleibt.

Von solchen Dingen konnte bei Kin-Fo's Heirat nicht die Rede sein. Er kannte die junge Frau und brauchte sie nicht zu kaufen. Das vereinfachte die Dinge wesentlich.

Endlich kam der 25. Juni. Alles war bereit. Seit drei Tagen blieb, der Landessitte gemäß, Le-u's Haus im Innern erleuchtet. Drei Nächte lang hatte Frau Lutalu, die als Repräsentantin für die Familie der Zukünftigen galt, sich alles Schlafes enthalten müssen – was zu dem Zweck geschieht, um recht traurig zu erscheinen in dem Augenblick, wo die Braut das väterliche Haus verläßt. Hätte Kin-Fo noch Eltern besessen, so würde auch sein eigenes Haus zum Zeichen der Trauer erleuchtet worden sein, weil die Verheiratung des Sohnes, dem Familiengesetz gemäß, »als ein Gleichnis für den Tod des Vaters betrachtet werden soll und der Sohn ihm nun als Vater den Platz streitig zu machen scheint«, heißt's im »Hao-Khi-e-u-Tschu-en«.

Konnten nun auch diese Bräuche auf den Bund der beiden Brautleute, die völlig freie Herrschaft über ihre Personen hatten, keine Anwendung finden, so gab es deren andere, denen Rechnung getragen werden mußte. So wurde keine einzige astrologische Förmlichkeit verabsäumt. Die nach allen Regeln der Kunst gestellten Horoskope verkündeten eine vollkommene Uebereinstimmung von Schicksalen und Temperament. Jahreszeit und Mondesalter erwiesen sich als günstig. Nie hatte sich eine Ehe unter beruhigenderen Auspizien vollzogen.

Der Empfang der Braut sollte um 8 Uhr abends im Gast- und Logierhause »zum Himmlischen Glück« vor sich gehen, das heißt, die Gattin sollte unter großem Pomp in das derzeitige Domizil des Gatten geführt werden. In China braucht es zu solchem Zweck weder eines Ganges aufs Standesamt, noch in eine Kirche.

Um 7 Uhr empfing Kin-Fo seine Freunde auf der Schwelle seiner Wohnung – Kin-Fo noch immer in Begleitung Craig-Fry's, die ihm strahlend zu beiden Seiten standen, wie Trauzeugen auf einer Hochzeit im Abendlande . . . Welch ein Ueberschwang von Komplimenten und Höflichkeiten! Auf rotem Papier waren die Einladungen an all die vornehmen Persönlichkeiten, die dem Feste beiwohnten, ergangen; in Schrift von mikroskopischer Kleinheit hatten die einladenden Worte gelautet, wie folgt: »Herr Kin-Fo aus Schang-hai empfiehlt sich demütig und bescheiden Herrn . . . und bittet ihn noch demütiger und bescheidener . . . der bescheidenen Feier . . . etc. beizuwohnen.« etc.

Alle waren gekommen zu Ehren des jungen Paares, und um teilzunehmen an dem großartigen Festmahl, das für die Herren hergerichtet war, während sich die Damenwelt an einer für sie besonders aufgeschlagenen Tafel zusammenfand. Anwesend waren der Handelsherr Yin-Pang und der Gelehrte Hu-al. Ferner einige Mandarinen, die an ihrem Amtshute das rote Kügelchen, etwa so groß wie ein Taubenei, trugen, zum Zeichen, daß sie zu den drei ersten Ordnungen gehörten. Andere, von niedrigerer Kategorie, trugen nur Knöpfe von undurchsichtigem Blau oder undurchsichtigem Weiß. Der Mehrzahl nach waren es bürgerliche Würdenträger chinesischer Abstammung, wie es die Freunde eines, der tatarischen Rasse feindlich gesinnten Schang-haier notwendigerweise auch sein mußten. Alle in eleganten Toiletten, die Herren im vornehmen Oberkleid, die Damen in strahlenden Roben, beide in festlichem Kopfputz, in der That eine Hochzeitsgesellschaft von blendender Pracht!

Kin-Fo – so verlangte es die Höflichkeit – erwartete seine Gäste direkt am Eingange des Hotels. Jeden, der kam, geleitete er nach dem Empfangszimmer, nachdem er ihn an jeder Thüre, die von Lakaien in großer Livree geöffnet wurde, zweimal ersucht hatte, gütigst ihm voraufgehen zu wollen. Er titulierte jeden mit seinem »edlen Namen«, fragte jeden, wie es um seine »edle Gesundheit« stände, er erkundigte sich nach ihren »edlen Familien«. Kurz, kein noch so peinlicher Kritiker der kindischen und ehrsamen Landeshöflichkeit hätte ihn auch nur des leisesten Mangels an Korrektheit in seiner Haltung bezichtigen können.

Craig und Fry zollten diesen Höflichkeiten ihre Bewunderung: über alledem ließen sie den ihrem Schutz anbefohlenen Gesellschaftsritter »ohne Furcht und Tadel« nicht eine Sekunde aus den Augen. Ein und derselbe Gedanke war ihnen beiden gleichzeitig gekommen. Wenn nun möglicherweise Wang nicht, wie man annahm, in den Fluten des Pei-ho gestorben wäre? . . . wenn er sich jetzt unter diese Gruppen von Gästen mischte!? . . . Noch hatte ja die vierundzwanzigste Stunde des fünfundzwanzigsten Junitages – die letzte Stunde – nicht geschlagen! Die Hand des Tai-pings war nicht entwaffnet! Wenn etwa im letzten Augenblicke? . . .

Nein! so etwas war nicht wahrscheinlich, schließlich aber – auch nicht unmöglich! Darum hielten, mit einem letzten Ueberrest von Vorsichtigkeit, Craig-Fry die ganze anwesende Gesellschaft scharf im Auge . . . Aber, so scharfen Ausblick sie auch hielten, sie bemerkten kein einziges verdächtiges Gesicht darunter . . .

Unterdessen verließ die zukünftige Gattin Kin-Fo's ihr Haus in der Avenue Scha-Kua und nahm in einem geschlossenen Palankin Platz.

Wenn auch Kin-Fo nicht das Mandarinen-Kostüm trug, das jeder Bräutigam das Recht hat, anzulegen – zur Ehre für die von den alten Gesetzgebern hochgeachtete Satzung der Ehe – so hatte anderseits Le-u sich den Vorschriften der vornehmen Gesellschaft gemäss gekleidet. In ihrer durchweg roten Toilette aus wunderbarem Seidenstoff mit wunderbarer Stickerei sah sie blendend aus. Ueber ihrem Gesicht trug sie einen Schleier aus zartesten Edelperlen, die von dem reichen Diadem, dessen goldener Reif ihre Stirn umschloß, herniederzutropfen schienen. Und der herrliche Schleier selbst schien ihr holdes Gesicht weniger zu verhüllen, als vielmehr, wenn sich so sagen läßt, zu enthüllen – zum wenigsten trat es hinter der scheinbaren Schleierhülle in neuer, nicht gekannter Schönheit vor Kin-Fo's Auge. Köstliches Edelgestein und künstliche Blumen von bestem Geschmack glitzerten sternengleich in ihrem schwarzen Haar und ihren langen schwarzen Flechten. Daß Kin-Fo sie noch holder und reizender finden würde, als bisher, wenn sie jetzt aus dem Palankin stieg, dessen Thür von seiner Hand alsbald geöffnet werden sollte, wäre wirklich und wahrhaftig nicht zu verwundern gewesen!

Der Hochzeitszug setzte sich in Bewegung, bog um die Ecke der großen Avenue, zog diese entlang und den Boulevard von Ti-en-Men entlang. Zweifelsohne wäre er großartiger und prächtiger gewesen, wenn es kein Hochzeits-, sondern ein Leichenzug gewesen wäre; alles in allem lohnte es aber auch bei ihm für die Fußgänger der Mühe, stehen zu bleiben und ihm nachzuschauen.

Freundinnen, Kameradinnen von Le-u folgten dem Palankin und trugen in großem Aufzuge die verschiedenen Ausstattungssachen und Hochzeitsgeschenke. An die zwanzig Musiker schritten mit lauter Blechmusik voran, aus der der schmetternde Klang des Gong vor allem andern herauszuhören war. Um den Palankin herum bewegte sich eine Menge von Fackelträgern und ein Schwarm von Leuten, die bunte Papierlaternen in tausenderlei Farben trugen. Die zukünftige Gattin Kin-Fo's blieb den Augen der Menge absolut unsichtbar. Der Etikette gemäß durften keines andern Blicke früher auf sie fallen, als ihres Gemahls Blicke.

Also beschaffen und zusammengesetzt und inmitten eines lärmenden Andrangs von Volksmengen kam der Zug gegen 8 Uhr abends am Gast- und Logierhause »zum Himmlischen Glück« an.

Kin-Fo stand vor dem reichgeschmückten Hause. Er wartete, um die Thür des Palankins zu öffnen, auf seine Ankunft. Gleich hernach gedachte er seiner Zukünftigen beim Aussteigen zu helfen, sie in die für sie bestimmten Gemächer zu führen, wo sie beide viermal sich vor dem Himmel verneigen sollten. Dann würden sie sich zusammen zum hochzeitlichen Mahle begeben. Die Braut würde vier Kniebeugungen vor ihrem Manne machen. Dieser hingegen würde gleiches vor seiner Frau zweimal thun. Unter der Gestalt von Trankopfern würden sie ein paar Tropfen Wein verschütten. Den vermittelnden Geistern würden sie einige Speisen anbieten. Dann würde man ihnen zwei volle Becher bringen, die sie zur Hälfte leeren würden und die übrige Hälfte dann in einen einzigen Becher zusammenschütten und diesen nacheinander, erst den Gemahl, dann die Gemahlin, bis auf die Neige leeren lassen. Hiernach würde der eheliche Bund als geweiht gelten.

Der Palankin war gekommen. Kin-Fo that einen Schritt vorwärts. Ein Ceremonienmeister übergab ihm den Schlüssel. Er nahm ihn entgegen, schloß die Thür auf und reichte der reizenden Le-u, die von tiefer Rührung ergriffen war, die Hand. Leichten Fußes stieg die Braut aus der Sänfte und schritt durch die Gruppe der Hochzeitsgäste, die sich respektvoll verneigten und die Hand bis zur Brust herauf erhoben.

In dem Augenblick, als die junge Frau sich anschickte, die Schwelle zu überschreiten, wurde ein Signal gegeben. Leuchtende Papierdrachen von ungeheurer Größe stiegen in die Luft empor und schaukelten im Hauche des Windes ihre buntfarbigen Drachen-, Phönix- und andern Sinnbilder der Ehe. Aeolische Tauben, an deren Schwanz ein kleiner schallender Apparat befestigt war, flogen auf und erfüllten den Raum mit himmlischer Harmonie. Tausendfarbige Raketen flogen zischend auf, und aus ihrem blendenden Strauße fiel ein Goldregen hernieder.

Plötzlich ließ sich ein fernes Geräusch auf dem Boulevard von Ti-en-Men vernehmen, lautes Geschrei, in das sich die hellen Klänge einer Trompete mischten. Dann trat Stillschweigen ein, und nach einigen Augenblicken nahm der Lärm wieder seinen Anfang. Nicht lange dauerte es, so war er bis zu der Straße vorgedrungen, wo der Hochzeits-Zug gehalten hatte.

Kin-Fo und seine Freunde warteten unschlüssig, daß die junge Frau in das Gasthaus eintrete. Fast ebenso schnell füllte sich aber die Straße mit eigentümlichem Leben. Die Trompetenstöße verdoppelten sich, je näher die Menge heranflutete.

»Was geht denn vor?« fragte Kin-Fo.

Le-u's Züge hatten sich verändert. Eine geheime Ahnung beschleunigte den Schlag ihres Herzens. Plötzlich drang die Menge in die Straße hinein; sie umringte einen Herold in kaiserlicher Uniform, dem mehrere Tipaos das Geleit gaben, und der mitten in das allgemeine Schweigen die bloßen Worte rief:

»Tod der Kaiserin Witwe!
Interdikt! Interdikt!«

Dumpfes Murren antwortete auf die Worte.

Kin-Fo hatte begriffen. Es war ein Streich, der ihn unmittelbar traf. Er vermochte eine zornige Gebärde nicht zurückzuhalten. Die kaiserliche Trauer für den Tod der Witwe des letzten Kaisers war über das Reich verhängt worden. So lange Zeit, wie durch Gesetzerlaß vorgeschrieben werden würde, war es zufolge des verhängten Interdikts jedem Manne verboten, sich den Kopf zu rasieren oder rasieren zu lassen, war es verboten, öffentliche Feste zu feiern und Theatervorstellungen zu geben, war es den Gerichtshöfen verboten, Recht zu sprechen, war es der gesamten Bürgerschaft im Reiche verboten, Ehen zu schließen und Hochzeiten zu feiern!

Le-u war untröstlich, aber voll Mut nahm sie, um den Schmerz ihres Bräutigams nicht zu vermehren, den Schicksalsschlag gelassen hin und ergriff die Hand ihres lieben Kin-Fo, um ihm mit einer Stimme, deren lebhafte Rührung sie sich zu verbergen bemühte, das einzige Wort: »Warten wir!« zuzurufen.

Und der Palankin trug die junge Frau zurück nach ihrem Hause in der Avenue Scha-Kua, und die Feste wurden aufgehoben, die Tafeln wurden abgeräumt, die Musikchöre heimgeschickt, und die Freunde des untröstlichen Kin-Fo gingen auseinander, nachdem sie ihn sämtlich ihres innigsten Beileids versichert hatten.

Dem kaiserlichen Interdikt zuwider handeln zu wollen, durfte man auf keinen Fall wagen!

Ganz entschieden fuhr das Mißgeschick fort, Kin-Fo zu verfolgen. Wiederum ein Anlaß, der ihm gegeben wurde, damit er aus den philosophischen Lehren, die er von seinem alten Meister vernommen, Nutzen und Segen ziehen lerne!

Kin-Fo war mit Craig und mit Fry allein in jenem öden Gemach des Gasthauses »zum Himmlischen Glück« zurückgeblieben, dessen Name ihm jetzt ein bitterer Hohn zu sein bedünkte. Die Interdikts-Zeit konnte so lange dauern, wie es dem Sohne des Himmels zu bestimmen beliebte! Und das mußte ihm passieren, der doch darauf gerechnet hatte, auf der Stelle nach Schang-hai zurückzukehren und seine junge Gattin in seinen reichen Yamen einzuführen, um dort mit ihr ein neues Leben unter diesen neuen Bedingungen zu beginnen!

Eine Stunde etwa mochte verstrichen sein, da trat ein Diener in sein Zimmer und reichte ihm ein Schreiben, das soeben durch einen Eilboten abgegeben worden sei. Sobald Kin-Fo die Schrift auf der Adresse gesehen, konnte er einen Aufschrei nicht unterdrücken. Es war ein Schreiben von Wang und enthielt die folgenden Sätze:

»Freund! Ich bin nicht tot, aber wenn Du diesen Brief erhalten wirst, werde ich zu leben aufgehört haben! Ich gehe in den Tod, weil ich nicht den Mut habe, mein Versprechen zu halten. Aber fasse Dich in Ruhe! Ich habe für alles Vorsorge getroffen. Lao-Schen, ein Tai-ping-Häuptling und alter Kamerad von mir, besitzt Deinen Brief! Er wird eine festere Hand und ein festeres Herz haben, um die furchtbare Mission zu erfüllen, zu deren Entgegennahme Du mich bestimmt hattest. Ihm also wird das Kapital zufallen, das Du zu meinen Gunsten versichert hast: ich habe es ihm testamentarisch vermacht, und er wird es bei der Versicherungskasse abheben, wenn Du nicht mehr sein wirst! . . .

»Lebe wohl! ich gehe Dir im Tode voraus! Auf ein baldiges Wiedersehen! Lebe wohl!

Wang!«



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