Jules Verne
Die Drangsale eines Chinesen in China
Jules Verne

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreizehntes Kapitel:

worin man das berühmte Rührstück von den »Fünf Nachtwachen des Mannes, der hundert Jahre alt werden will«, mit anhört.

»Meine Herren,« redete Kin-Fo seine beiden Leibwächter an, als die Radeberge draußen vor der Vorstadt von Tong-tsche-u hielt, »wir befinden uns nur noch 40 Li von Peking entfernt, und es ist meine Absicht, bis zu dem Augenblick hier zu verweilen, wo das zwischen Wang und mir geschlossene Abkommen seine Rechtskraft verliert. In dieser Stadt von 400 000 Seelen wird es mir leicht sein, unbekannt zu bleiben, sofern es Sun nicht vergibt, daß er bei Ki-nan in Diensten steht, einem schlichten Kaufmann aus der Provinz Schen-Si.«

Ganz ohne Frage würde das Sun nicht mehr vergessen! Ganz ohne Frage nicht mehr! Seine Tölpelhaftigkeit hätte ihm doch für die letzten acht Tage die Ehre eingebracht, als Karrengaul zu funktionieren – und er hege nun allen Ernstes die Hoffnung, daß Herr Kin-Fo . . .«

»Ki . . .« hub Craig an.

». . . nan« ergänzte Fry.

». . . daß Herr Ki-nan ihn nicht länger seiner gewöhnlichen Dienstverrichtungen für überhoben ansehen werde! In Anbetracht des Zustandes gänzlicher Erschöpftheit, in welchem er sich befände, bäte er jedoch momentan um weiter nichts, als daß ihm Herr Kin-Fo . . .«

»Ki . . .« hub Craig an.

». . . nan« ergänzte Fry.

». . . die Erlaubnis erteilen wolle, achtundvierzig Stunden lang zum wenigsten zu schlafen, ohne aber, wie er sich ausmachen möchte, gestört zu werden!«

»Meinetwegen acht Tage lang, wenn's nur Dir recht ist!« antwortete Kin-Fo. »Wenigstens werde ich sicher sein können, daß Du im Schlafe nicht schwatzest!«

Kin-Fo befaßte sich nun im Verein mit seinen beiden Begleitern mit der Aufgabe, ein passendes Gasthaus zu finden, und daran hatte es in Tong-tsche-u ja keinen Mangel. Diese ungeheure Stadt ist im Grunde genommen nur eine große Vorstadt von Peking. Die gepflasterte Strasse, die sie mit der Hauptstadt verbindet, ist eine endlose Reihe von Villen, Häusern, Vorwerken, Grabmälern, kleinen Pagoden, grünen Gärten und lauschigen Plätzen, und auf der ganzen langen Straße nimmt der Wagenverkehr, nehmen die Reiter und Fußgänger kein Ende.

Kin-Fo kannte die Stadt und ließ sich zum Ta-e-Wang-Miao hinführen, »dem Tempel der souveränen Prinzen«, unter dem aber nichts weiter zu suchen ist, als ein zum Gast- und Logierhaus umgewandeltes Fan-seng oder (nach portugiesischer Transkription) Bonzen-Kloster, in welchem sich für Fremde ein recht behaglicher Aufenthalt bietet. Kin-Fo, Craig und Fry richteten sich dort sehr bald ein, die beiden Akoluthen in einem Zimmer, das unmittelbar neben dem von ihrem kostbaren Klienten bewohnten Zimmer lag. Sun dagegen verschwand, um sich in dem ihm angewiesenen Winkel schlafen zu legen, und man bekam ihn nicht wieder zu sehen.

Eine Stunde später verließen Kin-Fo und seine Getreuen ihre Zimmer und frühstückten mit Appetit. Dann berieten sie sich, was am besten unternommen würde.

»Am geratensten ist wohl zunächst,« antworteten Craig und Fry, »im Amts- und Regierungsblatte nachzusehen, ob sich ein uns interessierender Artikel vorfindet.«

»Sie haben recht,« erwiderte Kin-Fo – »vielleicht erfahren wir, was aus Wang geworden.«

Die drei Herren verließen also das Gast- und Logierhaus. Vorsichtshalber marschierten die beiden Akoluthen rechts und links von ihrem Klienten, ohne daß sie aber dabei außer acht ließen, allen Passanten scharf ins Gesicht zu sehen und keinen herankommen zu lassen. Ihr Weg führte sie durch die schmalen Gassen der Stadt auf die Quais hinaus, wo sie sich eine Nummer des Amts- und Regierungsblattes kauften und begierig durchstudierten.

Nichts drin zu finden, nichts als das Versprechen von 2000 Dollars oder 1300 Taëls für jeden, der William J. Bidulph den gegenwärtigen Aufenthalt des Herrn Wang aus Schang-hai bekannt geben könne.

»Also ist er nicht wieder zum Vorschein gekommen,« meinte Kin-Fo.

»Demnach hat er also die ihn betreffende Anzeige nicht gelesen,« meinte Craig.

»Demnach muß er sich also noch an die Bedingungen des Abkommens halten,« meinte Fry ergänzend.

»Aber wo kann er stecken?« rief Kin-Fo.

»Herr Kin-Fo,« sprachen da Fry-Craig, »meinen Sie, während der letzten Tage des Abkommens stärker bedroht zu sein?«

»Ganz ohne Zweifel,« antwortete Kin-Fo. »Wenn Wang von den Veränderungen, die in meiner Lage vorgegangen sind, nichts weiß – was mir sehr wahrscheinlich zu sein dünkt – so wird er sich der Notwendigkeit, sein Versprechen zu halten, nicht entziehen können. Demgemäß werde ich in einem Tage, in zwei, in drei Tagen stärker bedroht sein als heute und in sechs Tagen noch stärker!«

»Aber wenn die Frist herum ist?«

»Werde ich nichts mehr zu fürchten haben.«

»Wohlan, Herr Kin-Fo«, versetzten Craig-Fry, »es giebt nur drei Mittel für Sie, sich vor jeglicher Gefahr während dieser sechs Tage zu sichern.«

»Das erste Mittel?« fragte Kin-Fo.

»In das Gast- und Logierhaus zurückzukehren, wo wir abgestiegen sind,« sagte Craig, »sich dort in Ihr Zimmer einzusperren und zu warten, bis die Frist abgelaufen ist.«

»Und das zweite Mittel?«

»Sich als Missethäter festnehmen zu lassen,« versetzte Fry, »um im Gefängnis von Tong-tsche-u in sichern Gewahrsam zu gelangen.«

»Und das dritte Mittel?«

»Sich als tot melden zu lassen,« antworteten Fry-Craig, »und erst dann wieder aufzuerstehen, wenn Sie in den Besitz Ihrer vollen Sicherheit zurückgelangt sind.«

»Sie kennen Wang nicht!« rief da Kin-Fo. »Wang fände schon Mittel und Wege, in mein Gasthaus zu dringen, in mein Gefängnis zu dringen, in mein Grab zu dringen! Wenn er mich bis heute noch nicht mit seinem Dolch getroffen hat, so hat er es eben noch nicht gewollt, so ist es ihm eben vorteilhafter erschienen, mir das Vergnügen oder die Unruhe des Hangens und Bangens zu bereiten! Wer weiß, welchen Grund er gehabt haben kann! Jedenfalls ziehe ich vor, in Freiheit zu warten.«

»Also warten wir! Indessen . . .« hub Craig an.

». . . scheint mir,« ergänzte Fry.

»Meine Herren,« antwortete Kin-Fo in trocknem Tone, »ich werde thun und lassen, was mir genehm ist. Was kann denn schließlich, wenn ich am 25. dieses Monats mit Tod abgehe, Ihrer Gesellschaft abgehen?«

»Zweimalhunderttausend Dollars!« antworteten Fry-Craig, »200 000 Dollars, die an Ihre Versicherungserben bezahlt werden müssen!«

»Und mich kostet's mein ganzes Vermögen, das Leben ungerechnet! Also bin ich doch bei dem Geschäft weit stärker interessiert, als Sie!«

»Sehr richtig!« – Craig.

»Sehr wahr!« – Fry.

»Ueberwachen Sie mich also nach wie vor ganz wie es Ihnen für recht und passend erscheint – ich werde aber mein Thun und Lassen einrichten ganz wie es mir beliebt!«

Darauf ließ sich absolut nichts sagen.

Craig-Fry mußten sich also darauf beschränken, ihren Klienten in engere Bewachung zu nehmen und die Vorsichtsmaßregeln zu verdoppeln. Aber der Ernst der Situation spitzte sich, wie sie sich nicht verhehlten, mit jedem Tage schärfer zu.

Tong-tsche-u ist eine der ältesten Städte des Himmlischen Reiches. Auf einem kanalisierten Arme des Pei-ho und am Scheitelpunkt eines andern Kanals, der die Stadt mit Peking verbindet, gelegen, bildet sie den Mittelpunkt eines großen Handelsverkehrs. Ihre Vororte wimmeln förmlich von einer außerordentlich regen und emsigen Bevölkerung.

Kin-Fo sowohl als seine beiden Akoluthen wurden von diesem großartigen Leben immer lebhafter berührt, je näher sie dem Quai kamen, wo die Handelsschiffe und Handelsdschunken in überreicher Menge vor Anker lagen.

Im großen Ganzen waren Craig und Fry nach reiflicher Abwägung alles Für und Wider zu der Meinung gelangt, sich mitten in einer großen Menge am sichersten zu fühlen. Der Anschein sollte doch dafür sprechen, daß der Tod ihres Klienten durch einen Selbstmord erfolgt sei. Der Brief, der bei ihm gefunden werden würde, sollte in dieser Hinsicht so gut wie keinen Zweifel bestehen lassen. Demzufolge hatte Wang Interesse daran, ihn nur unter gewissen Umständen tödlich zu treffen, die sich inmitten der stark frequentierten Straßen oder auf dem öffentlichen Platz einer Stadt nicht boten. Gleicherweise hatten Kin-Fo's Leibwächter, so lange sie an solchen Bedingungen festhielten, einen jähen Ueberfall direkter Natur nicht zu befürchten. Womit sie sich einzig und allein zu befassen hatten, war die Aufgabe, in Erfahrung zu bringen, ob der Tai-ping nicht etwa überschlau und mit Aufgebot einer in solchem Falle allerdings erstaunlichen Geschicklichkeit seit ihrem Aufbruch von Schang-hai ihren Spuren gefolgt sei. In Verfolg dieser Aufgabe sahen sie sich sozusagen die Augen aus, um das Gesicht eines jeden Menschen, der an ihnen vorbeikam, bis in die kleinsten Züge zu studieren.

Plötzlich schlug ein Name an ihre Ohren, der im höchsten Maße dazu angethan war, ihre Aufmerksamkeit zu fesseln. »Kin-Fo! Kin-Fo!« riefen ein paar kleine Chinesen, die mitten unter dem Volk umhersprangen und wie toll in die Hände klatschten.

War denn Kin-Fo erkannt worden? Und bewirkte sein Name die gewohnte Wirkung? Der Held blieb wider Willen stehen. Craig-Fry hielten sich in Bereitschaft, ihn im Falle der Not mit ihren Leibern zu decken.

Aber Kin-Fo persönlich war es nicht, dem diese Rufe galten. Von seiner Anwesenheit schien niemand eine Ahnung zu haben. Er rührte sich deshalb nicht vom Platze, sondern blieb neugierig stehen, um zu erfahren, aus welchem Anlaß sein Name gerufen worden sei. Um einen fahrenden Sänger, der bei diesem Straßenpublikum in großer Gunst zu stehen schien, hatten sich Männer, Weiber, Kinder geschart. Alles schrie und klatschte in die Hände – Beifallsovationen, immer eine stärker als die andere, im voraus!

Als sich der Sänger vor einem hinreichenden Auditorium sah, nahm er aus seinem Gewande einen Stoß bunter Bilderdrucke und rief mit weithinschallender Stimme: Die fünf Nachtwachen des Mannes, der hundert Jahre alt werden will!! Also das berühmte Rührstück war es, das im Himmlischen Reiche die Runde machte!

Craig-Fry wollten ihren Klienten hinwegziehen; aber diesmal versteifte sich Kin-Fo darauf, zu bleiben. Hier kannte ihn ja niemand! Das Rührstück, das von seinem Leben und seinen Thaten handelte, hatte er noch nie gehört, noch nie gesehen. Es kennen zu lernen machte ihm Spaß.

Der fahrende Sänger begann also:

»In der ersten Wache: Der Mond scheint auf das spitze Dach des Hauses in Schang-hai. Kin-Fo ist jung. Er zählt zwanzig Jahre. Er gleicht der Weide, deren junge Triebe ihr grünes Züngelchen zeigen!«

»In der zweiten Wache: Der Mond scheint auf die östliche Seite des reichen Yamens. Kin-Fo ist vierzig Jahre alt. Seine zehntausend Geschäfte glücken ihm nach Wunsch. Die Nachbarn singen sein Lob!«

Der fahrende Sänger wechselte den Ausdruck seines Gesichts und schien bei jeder Strophe älter zu werden. Man überschüttete ihn mit Beifallsbezeigungen. Er fuhr fort:

»In der dritten Wache: Der Mond scheint über dem Weltraum. Kin-Fo ist sechzig Jahre alt. Nach den grünen Blättern des Sommers kommen die gelben Chrysanthemen der herbstlichen Zeit!«

»In der vierten Wache: Der Mond ist im Westen untergegangen. Kin-Fo ist achtzig Jahre alt! Sein Leib ist zusammengeschrumpft wie eine Krabbe in siedend-heißem Wasser! Er sinkt! er sinkt mit dem Gestirn der Nacht!«

»In der fünften Wache: Die Hähne begrüßen die aufsteigende Morgenröte. Kin-Fo ist hundert Jahre alt! Er stirbt. Sein höchster Wunsch ist erfüllt. Aber der böse Fürst Yen weigert sich, ihm Aufnahme zu gewähren. Fürst Yen mag von so alten Leuten nichts wissen, die ihm seinen Hofstaat verunzieren würden! Der alte Kin-Fo irrt, ohne je ruhen zu können, treibt sich in Ewigkeit herum!«

Das Volk klatschte wie rasend dem Sänger Beifall, und der Sänger verkaufte von seinem Rührstücke hundertweis das Stück für 3 Sapeken.

Und warum sollte Kin-Fo sich nicht eins kaufen? Er nahm einiges Kleingeld aus der Tasche und reckte den Arm mit der vollen Hand über die ersten Reihen der Volksmenge hinüber. Plötzlich aber – ging ihm die Hand auf – unwillkürlich – und das Kleingeld entfiel ihr und kollerte auf den Boden . . .

Ihm gegenüber stand jemand – ein Mensch – ein Mann! Dessen Blicke sich mit den seinigen kreuzten!

»Ha!« rief Kin-Fo, ausser stande, diesen Ruf zurückzuhalten, der zugleich ein Ruf der Frage war und der Verwunderung.

Fry-Craig hatten ihn umstellt . . . sie glaubten, ihr Schützling sei erkannt, sei bedroht, sei getroffen, sei vielleicht – tot!

»Wang!« schrie Kin-Fo.

»Wang!« wiederholten Craig-Fry.

Wang war's! Wang, wie er leibte und lebte! Er hatte eben seinen ehemaligen Zögling bemerkt – aber statt sich auf ihn zu stürzen, stieß er die letzten Reihen der Menschenschar mit gewaltigem Ruck beiseite und floh statt dessen – floh mit aller Geschwindigkeit seiner beiden Beine, die von ganz erklecklicher Länge waren!

Kin-Fo besann sich nicht lange. Er wollte von seiner unerträglichen Lage befreit sein, wollte dieser folternden Unsicherheit ledig sein und setzte hinter Wang her. Schulter an Schulter mit Fry-Craig, die ihm weder vorausgelangen, noch hinter ihm zurückbleiben mochten. Auch sie hatten den Philosophen erkannt, der so lange nicht zu finden gewesen, und sie hatten aus dem Erstaunen, das der so unverhofft Gefundene an den Tag gelegt hatte, im Nu erkannt, daß er nicht darauf gefaßt gewesen war, Kin-Fo's ansichtig zu werden, wie anderseits Kin-Fo nicht darauf gerechnet hatte, ihn hier zu treffen!

Nun aber – warum floh Wang? Das war ein Umstand, für den sich so gut wie keine Erklärung finden ließ – aber er floh, und zwar mit solchen Riesensätzen, als wenn die ganze Polizei des Himmlischen Reiches ihm auf den Fersen gewesen wäre. Eine Hetze war's wie toll – eine Hetze ohne Sinn und Verstand!

»Ich bin nicht ruiniert, Wang! Wang, Wang! ich – bin – nicht ru–i–niert!!« schrie hinter ihm Kin-Fo her.

»Reich! reich!« schrieen in einem fort Fry-Craig.

Aber Wang lief schon viel zu weit entfernt, um diese Worte hören zu können, die ihn doch sicher zum Stehen gebracht hätten. Er rannte über den Quai weg, am Kanal entlang und erreichte die westliche Vorstadt.

Die drei Hetzhunde flogen sozusagen hinter ihm her, aber sie gewannen keinen Schimmer von Terrain. Im Gegenteil! Der Flüchtling drohte ihnen immer weiter vorauszukommen.

Ein halbes Dutzend Chinesen hatten sich zu Kin-Fo gesellt, zwei bis drei Paar Tipaos gar nicht gerechnet, die den Kerl, der so munter Fersengeld gab, natürlich für einen Missethäter hielten.

Wunderliches Schauspiel! Diese keuchende, schreiende, heulende Schar, die sich lawinenhaft mehrte! Denn zahllos fast waren die Menschen, die sich der Hetze aus freien Stücken anschlossen! In der Umgebung des fahrenden Sängers hatte man ganz deutlich gehört, wie Kin-Fo den Namen Wang gerufen hatte. Glücklicherweise hatte der Philosoph nicht mit dem Namen seines Zöglings geantwortet, denn sonst hätte sich ja die gesamte Stadt hinter einem so berühmten Manne her gestürzt! Aber der Name Wang, so plötzlich in die Menge hinein geschleudert, war schon genug! er that das seinige! that das seinige reichlich! Wang! Wang – ja! das war ja die rätselhafte Persönlichkeit, auf deren Entdeckung eine so riesenhohe Belohnung ausgesetzt war! das wußte ja doch jedes Kind! und wenn Kin-Fo um seine achtmalhunderttausend Dollars Vermögen rannte, Craig-Fry um die zweimalhunderttausend Dollars Versicherungspolice rannten, so rannten die andern um die zweitausend Dollars Prämie, die auf Wangs Kopf gesetzt waren! und daß das eine sowohl wie das andere von diesen Geldern der Mühe lohnte, die Beine ein bißchen in Bewegung zu setzen, wird man wohl gelten lassen!

»Wang! Wang! ich bin ja reicher als je!« rief noch immer Kin-Fo und so laut, als es ihm die Geschwindigkeit seines Dauerlaufs irgend gestattete.

»Nicht rui–niert! Nicht rui–niert!« riefen in einem fort Fry-Craig.

»Haltet den – Dieb! Haltet den – Dieb!« brüllte die Verfolgerschar in Masse, die noch immer lawinenhaft anschwoll.

Wang hörte nichts! Die Ellbogen vor die Brust gestemmt, mochte er sich weder durch Atemverbrauch mit Antworten lähmen, noch für das Vergnügen, den Kopf zu drehen, das geringste von seiner Geschwindigkeit einbüßen.

Die Vorstadt lag hinter ihm. Er stürzte sich auf die gepflasterte Chaussee, die längs des Kanals hinläuft. Auf dieser um diese Zeit so gut wie leeren Straße hatte er freie Bahn. Die Geschwindigkeit seiner Flucht steigerte sich noch, natürlicherweise aber auch die Anstrengungen seiner Verfolger.

Beinahe zwanzig Minuten dauerte diese wahnsinnige Hetze schon. Wie sie verlaufen würde, ließ sich absolut nicht ahnen oder voraussehen. Indessen gewann es den Anschein, als ob der Flüchtling ein wenig zu erlahmen anfinge. Die Entfernung, die er bis zu diesem Moment zwischen seinen Verfolgern und sich gehalten hatte, verriet eine Abnahme. Wang schien dieser Thatsache auch selbst inne zu werden, denn er machte jetzt eine Schwenkung und verschwand hinter dem grünen Hag einer kleinen Pagode auf der rechten Chausseeseite.

»Zehntausend Taëls zahle ich dem, der ihn aufhält!«

»Zehntausend Taëls!« wiederholten Craig-Fry.

»Y-a! y-a! y-a!« brüllten und heulten die Vordersten der Schar.

Alle miteinander schwenkten seitlich ab, hinter dem Philosophen her, und rannten um die Pagodenmauer herum.

Wang war wieder sichtbar geworden. Er lief auf einem schmalen Seitenpfade entlang, an einem Bewässerungskanale hin, und machte, um die Verfolger auf eine andere Fährte zu locken, eine neue Schwenkung, die ihn wieder auf die gepflasterte Straße zurückbrachte.

Dort aber wurde ganz deutlich sichtbar, daß ihm die Kräfte ausgingen, denn er drehte sich wiederholt um. Bei Kin-Fo, Craig und Fry war von Ermattung noch nichts zu spüren; sie liefen, rannten, flogen – und keiner von all denen, die wie die Teufel um ihre Taëls rannten, konnte ihnen auch nur um einige Schritte vorauskommen.

Die Entwickelung neigte sich also ihrem Ende zu . . . Das Ganze war nur noch eine Frage der Zeit, und zwar einer verhältnismäßig kurzen, sehr kurzen Zeit –, die nur nach Minuten zählen konnte!

Alle, Wang, Kin-Fo und seine beiden Begleiter, waren jetzt an die Stelle gelangt, wo die große Chaussee über den Fluß mittels der berühmten Palikao-Brücke führt.

Achtzehn Jahre früher, am 21. September 1860, hätten sie auf diesem Punkte der Provinz Pe-tschi-li keine so freie Bahn gefunden! Damals war die große Straße von Flüchtlingen anderer Art dicht angefüllt. Die Armee des Generals San-ko-li-tzin, eines Oheims des Kaisers, war auf ihrer Flucht vor den französischen Bataillonen auf dieser Brücke zum Stehen gekommen, die bekanntlich ein Kunstwerk ersten Ranges ist, und deren weißes Marmorgeländer von einer zweifachen Reihe riesengroßer Löwen eingefaßt wird. Dort wurden diese mandschurischen Tataren, die in ihrem Fatalismus so unvergleichlich tapfer sind, von den Kugeln der europäischen Geschütze niedergemäht. Die Brücke, die noch an ihren teilweis zertrümmerten Figuren die Spuren jener Schlacht aufwies, war im gegenwärtigen Augenblicke aber leer und frei.

Wang, dem die Kräfte mehr und mehr ausgingen, rannte quer über die Chaussee. Kin-Fo mit den anderen raffte alle Kräfte zu einer letzten Anstrengung zusammen und kam näher und näher an ihn heran. Bald trennten sie bloß noch zwanzig, bald bloß noch fünfzehn, bald sogar bloß noch zehn Schritte voneinander.

Wang durch Worte zum Stehen zu bringen, wäre unnötiges Beginnen gewesen, denn entweder konnte er sie nicht hören, oder er wollte sie nicht hören. Man mußte ihn einholen, mußte ihn packen, mußte ihn nötigenfalls binden . . . Die notwendigen Erklärungen würden ja schon nachher folgen . . . Wang begriff, daß man darauf ausging, seiner habhaft zu werden, und wie zufolge eines bodenlosen Starrsinns, für den man keine Erklärung fand, schien er vor einer Begegnung mit seinem alten Schüler Auge in Auge Furcht zu haben, die so weit ging, daß er sein Leben aufs Spiel setzte, um ihr zu entgehen . . . Mit einem Satze nämlich schwang er sich auf das Geländer der Brücke hinauf und stürzte sich hinunter in den Pei-Ho.

Kin-Fo war einen Moment stehen geblieben und hatte geschrieen: »Wang! Wang! Wang!« Dann war auch er mit einem Satze oben auf dem Geländer und mit dem Rufe: »Ich fass' ihn lebendig!« stürzte er sich ihm hinterher in den Fluß.

»Craig?« sagte Fry.

»Fry?« sagte Craig.

»200 000 Dollars im Wasser drin!«

Und beide waren mit einem Satze oben auf dem Geländer und mit einem Sprunge unten in den Fluten des Pei-Ho, dem kostspieligen Klienten der »Centennar-Gesellschaft« hinterher und im Notfall zur Hilfe! . . . Von der freiwilligen Gefolgschaft stürzten sich einige hinter ihnen her . . . Die Sache sah fast so aus, als ob eine Clown-Kompagnie das Kunststück der »Traube« am Schwebetrapez machte!

Aber so viel Eifer auch aufgeboten wurde, so sollte er sich doch als nutzlos erweisen. Kin-Fo, Fry-Craig und all die anderen, die auf die Prämie ganz besonders erpicht und mit in den Pei-ho gesprungen waren, konnten die Fluten desselben noch so eifrig und noch so lange aufsuchen, von Wang ließ sich keine Spur mehr finden. Von der Strömung hinweggerissen, war der unglückliche Philosoph zweifelsohne untergegangen und ertrunken . . .

Ob Wang sich durch den Sturz in die Fluten nur der Verfolgung hatte entziehen wollen, oder ob er sich aus irgend einem anderen Grunde vorgenommen hatte, seinem Leben ein Ziel zu setzen, wer hätte es sagen können?

Nach Verlauf von zwei Stunden befanden sich Kin-Fo, Craig und Fry, enttäuscht, aber wieder trocken am Leibe, und gestärkt durch Speise und Trank, mit Musje Sun, den sie aus einem Schlafe, schwer wie Blei, mit Mühe und Not geweckt hatten, und der, wie der Leser glauben darf, das Blaue vom Himmel herunter fluchte, wieder auf der Karrenfuhre nach Peking.



 << zurück weiter >>