Jules Verne
Die Drangsale eines Chinesen in China
Jules Verne

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel:

worin Kin-Fo und der Philosoph Wang deutlicher vor Augen gerückt werden.

Wenn Kin-Fo diese Henkersmahlzeit seinen Cantoner Freunden gegeben hatte, so kam dies daher, weil er in dieser Hauptstadt der Provinz Kuang-Ton einen Teil seiner Jugend verlebt hatte. Von den zahlreichen Kameraden, die einem reichen und noblen Jünglinge niemals fehlen dürften, waren die vier Tischgenossen im Blumenkahn die einzigen, über die er damals gebot. All die anderen hatten die Schicksale des Lebens verstreut, und es wäre vergebliche Mühe gewesen, wenn er sie hätte zusammentrommeln wollen.

Kin-Fo wohnte damals in Schang-hai, und war, um sich die Langeweile ein bißchen zu vertreiben, ein paar Tage nach Canton gefahren. Noch an demselben Abend aber gedachte er auf dem Dampfer, der die Hauptküstenplätze anläuft, ruhig wieder nach seinem Yamen zurückzukehren.

Wenn sich Wang in Kin-Fo's Begleitung befand, so hat das seinen Grund in dem Umstande, daß der Philosoph niemals von seinem Zögling wich, sondern denselben nach wie vor seiner Weisheit teilhaftig zu machen suchte. Im Grunde genommen, riß sich dieser aber nicht sonderlich darum. Der Lebensregeln und Weisheitssprüche gingen, ach wie viele! verloren; aber die »Maschine der Theorieen«, wie ihn jener Lebemann von Tim genannt hatte, wurde nicht müde, ihrer zum besten zu geben.

Kin-Fo war so recht der Typus jener Chinesen des Nordens, deren Rasse der Umwandlung zuneigt, die sich aber mit den Tataren niemals vermischt haben. In den Provinzen des Südens, wo sich die hohen und niedrigen Klassen enger mit der Mandschu-Rasse vermischt haben, hätte man keinen Menschen seinesgleichen getroffen. Kin-Fo hatte weder von väterlicher, noch von mütterlicher Seite, denn beide Familien hielten sich seit der Eroberungs-Aera streng für sich, einen Tropfen tatarisches Blut in seinen Adern. Er war groß, wohlgebaut, eher weiß, als gelb; seine Brauen standen in gerader Linie, seine Augen liefen wagerecht und erhoben sich kaum nach den Schläfen zu; er hatte eine große Nase, kein plattes Gesicht, und so hätte er sich neben den schönsten Erscheinungen der Völkerschaften des Abendlandes ruhig sehen lassen können.

Wenn Kin-Fo wirklich noch als Chinese angesehen wurde, so war dies bloß auf seinen sorgfältig rasierten Schädel zurückzuführen, auf seine von aller Behaarung freie Stirn, auf den dieselbe Eigenschaft aufweisenden Hals und auf seinen prachtvollen Zopf, der sich vom Hinterkopf aus wie eine Gagatschlange über seinen Rücken herab rollte. Sehr peinlich in seinem Aeußern, trug er einen eleganten Schnurrbart, der sich um seine Oberlippe in halber Bogenform zog, und eine »Fliege«, die, haarscharf in der Mitte unter dem Halbbogen, zusammen mit ihm das Bild des als »Orgelpause« bezeichneten Zeichens in der Notenschrift darstellte. Seine Nägel wiesen eine Länge von über einem Centimeter auf – ein Beweis dafür, daß er zu jener Kategorie reicher Leute zählte, die leben können, ohne zu arbeiten. Vielleicht trug auch die Ungezwungenheit seiner Haltung, ein gewisses »von oben herab« in seinem Benehmen zu jenem »comme il faut« bei, das sich in seiner ganzen Erscheinung zeigte.

Uebrigens war Kin-Fo in Peking geboren, ein Vorzug, auf den der Chinese außerordentlich stolz ist. Wer ihn fragte, dem konnte er selbstbewußt antworten: »ich bin von hoch oben her!«

In Peking hatte, zur Zeit von Kin-Fo's Geburt, sein Vater Tschung-He-u thatsächlich gewohnt und erst im sechsten Jahre seines Lebens war er mit dem Vater nach Schang-hai gezogen.

Dieser würdige Chinese entstammte einer sehr angesehenen Familie des Nordens und besaß, wie seine Landsleute im allgemeinen, ein hervorragendes Handelstalent. In den ersten Jahren seiner geschäftlichen Laufbahn war alles, was dieses reiche und dichtbevölkerte Land produzierte, Papiersorten aus Swa-tau, Seidenwaren aus Su-Tscheu, Kandiszucker von Formosa, Theesorten von Han-kau und Fu-tschau, Eisen von Ho-nan, rotes oder gelbes Kupfer aus der Provinz Yün-nan – kurz, alles mögliche, Handelsware und Export-Artikel für Tschung-He-u. Sein Haupt-Handelshaus, sein »Hong«, befand sich in Schang-hai, aber er hielt Kontore in Nan-king, Tien-tsin, Macao, Hong-kong. Eng vertraut mit europäischem Leben und Treiben, ließ er seine Waren auf englischen Dampfern verfrachten, und das elektrische Kabel unterrichtete ihn über den Marktpreis für Seide in Lyon und für Opium in Calcutta. Keiner jener Diener und Förderer des Fortschritts wie Dampf oder Elektrizität, fand in ihm einen Widersacher, wie es bei der Mehrzahl der Chinesen der Fall ist, zufolge des Einflusses der Mandarinen und der kaiserlichen Regierung, deren Ansehen und Vorrechte durch diesen Fortschritt sich allmählich verringern.

Kurz, Tschung-He-u manövrierte so geschickt, sowohl in seinem Handel mit dem Innern des Kaiserreichs, als auch in seinen überseeischen Abschlüssen mit den portugiesischen französischen, englischen oder amerikanischen Handelsfirmen von Schang-hai, Macao und Hong-kong, daß er zur Zeit, als Kin-Fo zur Welt kam, schon ein Vermögen von über 400 000 Dollars besaß.

Während der nun folgenden Jahre sollte sich dieser Sparpfennig, zufolge der Schöpfung eines neuen Exporthandels, den man den »Kulihandel der Neuen Welt« nennen könnte, mehr als verdoppeln.

Bekanntlich ist China in hohem Maße übervölkert; die Zahl seiner Einwohnerschaft steht ausser allem Verhältnis zur Ausdehnung seines mächtigen Landgebietes, das man verschiedentlich, aber poetisch, als »Himmlisches Reich«, als »Reich der Mitte«, als »Reich« oder »Land der Blumen« bezeichnet hat.

Man schätzt die Einwohnerzahl Chinas auf nicht weniger als 360 Millionen. Also fast ein Drittel der gesamten Bevölkerung der Erde! So wenig nun aber der arme Chinese auch ißt, so ißt er doch, und China, trotz seiner zahllosen Reisfelder, trotz seiner unermeßlichen Hirse- und Kornäcker, produziert nicht genug, um ihn zu ernähren. Daher ein Ueberschuß, der nur darauf wartet, um durch jene Breschen zu entweichen, die von englischen und französischen Kanonen in die Kalk- und Kulturmauern des Himmlischen Reiches geschossen worden sind.

Nach Nordamerika und hauptsächlich nach dem Staate Californien hat sich dieser Ueberschuß ergossen. Das geschah aber mit solcher Gewalt, daß der Kongreß Prohibitiv-Maßregeln gegen diese Invasion, die mit ziemlich starker Unhöflichkeit als »gelbe Pest« bezeichnet wurde, ergreifen mußte. Wie man nämlich wahrnahm, würde eine Einwanderung von 50 Millionen Chinesen nach den Vereinigten Staaten kaum eine merkliche Verringerung für China bedeutet haben; für die Vereinigten Staaten hätte es die Aufsaugung der angelsächsischen Rasse zu gunsten der mongolischen Rasse bedeutet!

Wie dem nun sei, der »Exodus« vollzog sich in einem gewaltigen Maßstabe. Diese Kuli, die von einer Hand voll Reis, von einer Tasse Thee und einer Pfeife Tabak lebten, die geschickt für jedes Gewerbe waren, gewannen am Salzsee, in Virginien, in Oregon und vor allem in Californien, wo sie den Tagelohn bedeutend herunterdrückten, rasch Oberwasser.

Gesellschaften bildeten sich demzufolge für den Transport dieser so wenig kostspieligen Auswanderer. Man zählte solcher Gesellschaften fünf, die in fünf Provinzen des Himmlischen Reiches für Anwerbung von Kulis arbeiteten, und eine sechste mit dem Sitz in San Francisco. Die ersteren verfrachteten die Handelsware, die letztere nahm sie in Empfang. Eine Sub-Agentur, die als »Ting-Tong« firmierte, verfrachtete sie wieder nach China zurück.

Diese letztere Manipulation erheischt eine Erklärung.

Die Chinesen sind wohl damit einverstanden, außer Landes zu gehen und Geld bei den »Melikanern« – wie sie die Bevölkerung der Vereinigten Staaten nennen – zu machen, aber unter der Bedingung nur, daß ihre Leichen wieder treu und ehrlich nach der Heimat geschafft werden, wo sie begraben sein wollen. Das bildet eine der Hauptbedingungen des Vertrages, eine Klausel, gegen die »nichts zu wollen« ist, die den Gesellschaften eine Verpflichtung dem Auswanderer gegenüber auferlegt, die unter allen Umständen erfüllt werden muß.

Dieser Sub-Agentur, »Ting-Tong«, sonst auch »Leichen-Agentur« genannt, fällt also auf Grund besonderer Fonds die Verpflichtung zu, die »Totenschiffe« auszurüsten, die mit voller Ladung von San Francisco nach Schang-hai, Hong-kong oder Tien-tsin zurückfahren. Ein neuer Handelszweig! Eine neue Einnahmequelle!

Der geschickte und unternehmende Tschung-He-u witterte das. Zur Zeit, als er starb, anno 1866, amtierte er als Direktor der Gesellschaft von Khuang-ton in der Provinz dieses Namens und als Subdirektor der Leichen-Verschiffungskasse in San-Francisco.

Am Tage vor seines Vaters Tode erbte Kin-Fo, der nun weder Vater noch Mutter mehr hatte, ein Vermögen in Höhe von vier Millionen Dollars, angelegt in Aktien der Californischen Centralbank, und er war klug genug, es zu erhalten.

Zur Zeit, als der junge, kaum 19 Jahre alte Erbe den Vater verlor, würde er allein dagestanden sein, wenn er nicht Wang, den unzertrennlichen Wang, gehabt hätte, der ihm Mentor sowohl als Freund war.

Wer war nun aber dieser Wang? Seit 17 Jahren lebte er nun schon im Yamen von Schang-hai. Er war des Vaters steter Begleiter gewesen, ehe er des Sohnes Begleiter wurde. Wo aber war Wang her? Mit welcher Vergangenheit hatte man bei ihm zu rechnen? Wieviel dunkle, mehr als dunkle Fragen, auf die allein Tschung-He-u und Kin-Fo Antwort zu geben vermocht hätten!

Und wenn sie es für angemessen gehalten hätten, solches zu thun – was nicht eben wahrscheinlich war – so hätte man das Folgende vernommen:

Es ist niemand unbekannt, daß China vorzugsweise das Reich ist, wo Aufstände viele Jahre hindurch dauern und Hunderttausende von Menschen in Bewegung setzen können. Im 17. Jahrhundert nun herrschte die berühmte Dynastie der Ming, chinesischer Herkunft, schon dreihundert Jahre über China, als anno 1644 das Haupt dieser Dynastie sich der die Hauptstadt bedrohenden Rebellen nicht zu erwehren wußte, und einen tatarischen König um Hilfe anging.

Der Tatarenkönig ließ sich nicht bitten, eilte herbei, verjagte die Rebellen, benützte die Sachlage aber, um den Herrscher zu stürzen, der ihn um Hilfe angegangen war, und rief seinen eigenen Sohn Chun-Tsche zum Herrscher aus.

Von dieser Epoche an trat die tatarische Hoheit an die Stelle der chinesischen Hoheit und der Thron wurde von der Mandschu-Dynastie bestiegen.

Allmählich vermischten sich die beiden Rassen, und zwar vornehmlich in den niederen Bevölkerungsschichten. Bei den reichen Familien des Nordens aber hielt sich die Scheidung zwischen Chinesen und Tataren schärfer und strenger. Der Typus ist heute noch zu unterscheiden, und ganz besonders im Innern der nördlichen Provinzen des Reiches. Dort zogen sich die »Unversöhnlichen« zusammen, die der gestürzten Dynastie die Treue bewahrten.

Kin-Fo's Vater gehörte zu diesen letzteren, und er machte auch nie ein Hehl aus den Ueberlieferungen seiner Familie, die von einem Patt mit den Tataren nichts hatte wissen wollen. Eine Revolution gegen die fremde Herrschaft, selbst im vierten Jahrhundert ihres Bestehens, würde ihn kaum unthätig gefunden haben. Daß sein Sohn Kin-Fo die politischen Ansichten des Vaters teilte, braucht wohl nicht hinzugesetzt zu werden.

Nun herrschte anno 1860 jener Kaiser S'Hien-Fong, der England und Frankreich den Krieg erklärte – am 25. Oktober des genannten Jahres fand derselbe durch den Frieden von Peking sein Ende –, aber schon vor dieser Zeit bedrohte ein furchtbarer Aufstand die herrschende Dynastie. Die Tschang-Mao oder Tai-ping, die »Rebellen mit langen Haaren« hatten sich 1853 Nan-kings und 1855 Schang-hais bemächtigt. Als S'Hien-Fong starb, war sein jugendlicher Sohn kaum imstande, sich der Tai-ping zu erwehren. Ohne den Vizekönig Li, ohne den Prinzen Kong und vor allem ohne den englischen Oberst Gordon würde er vielleicht nicht imstande gewesen sein, seinen Thron zu retten.

Die sogenannten Tai-ping sind geschworene Feinde der Tataren und besaßen für eine Verschwörerbande eine äußerst kräftige Organisation. Sie verfolgten auch den Zweck, die Dynastie der Tsing durch eine Dynastie der Wang zu verdrängen. Sie bildeten vier verschiedene Korps: Das erste führte ein schwarzes Banner, seine Aufgabe war Mord und Totschlag; das zweite ein rotes Banner mit der Aufgabe, zu sengen und zu brennen; das dritte Korps mit gelbem Banner sollte plündern und rauben, und dem vierten endlich, mit weißem Banner, fiel die Versorgung der anderen drei Korps mit Proviant zu.

Wichtige militärische Operationen fanden in der Provinz Kiang-Su statt. Su-Tscheu und Kia-hing, fünf Meilen von Schang-hai entfernt, fielen in die Gewalt der Empörer und wurden von den kaiserlichen Truppen erst nach Aufwendung großer Anstrengungen zurück erobert. Auch Schang-hai war äußerst stark bedroht und wurde sogar am 18. August 1860 angegriffen, gerade, als die Generale Grant und Montauban, die Oberbefehlshaber der englisch-französischen Armee, die Forts von Pei-Ho kanonierten.

Zu jener Zeit hatte Tschung-He-u, Kin-Fo's Vater, eine Wohnung in der Nähe von Schang-hai inne, unweit der prächtigen Brücke, die von chinesischen Ingenieuren über den Su-Tscheu-Strom geführt worden ist. Dem Taiping-Aufstande stand Tschung-He-u insofern nicht ohne Wohlwollen gegenüber, als er sich in der Hauptsache ja gegen die tatarische Dynastie richtete.

So standen die Dinge, als am Abend des 18. August, nach Vertreibung der Rebellen aus Schang-hai, die Thür von Tschung-He-u's Wohnung aufgerissen wurde, und ein Flüchtling, dem es gelungen war, seine Verfolger von der Spur abzubringen, sich Tschung-He-u zu Füßen warf.

Der unglückliche Mensch besaß keine Waffe mehr zur Verteidigung. Ueberlieferte ihn der Mann, den er um ein Asyl bat, der kaiserlichen Soldateska, so war es um ihn geschehen. Kin-Fo's Vater war nun aber nicht der Mann danach, zum Verräter an einem Tai-ping zu werden, der Zuflucht in seinem Hause gesucht hatte. Er schloß die Thür ab und sagte:

»Ich will nicht wissen, mag niemals hören, wer Du bist, was Du gethan hast, von wannen Du kommst! Du bist mein Gast und als solcher bist Du in Sicherheit bei mir!«

Der Flüchtling wollte sprechen, um seinem Wohlthäter zu danken – er fand kaum Kraft dazu.

»Dein Name?« fragte ihn Tschung-He-u.

»Wang.«

Wang war es wirklich, dem damals Tschung-He-u's Edelmut das Leben rettete, – eine That, die Tschung-He-u selbst das Leben gekostet haben würde, wenn der leiseste Argwohn aufgekommen wäre, daß er einem Rebellen Zuflucht gewährt hätte. Tschung-He-u gehörte aber zu jenen edlen Charakteren des Altertums, in deren Augen jeder Gast als geheiligt galt.

Einige Jahre nachher wurde der Aufstand der Rebellen gänzlich unterdrückt und anno 1864 nahm Kaiser Tai-ping in Nan-king, wo er belagert wurde, Gift, um nicht in die Hände der Mandschu-Truppen zu fallen.

Von diesem Tage an blieb Wang im Hause seines Wohlthäters. Niemals brauchte er Rede über seine Vergangenheit zu stehen. Niemand stellte hierüber Fragen an ihn. Wer weiß, ob nicht aus Furcht, daß man zu viel erfahren möchte! Die von den Rebellen begangenen Greuel waren, wie erzählt wurde, entsetzlicher Art. Unter welchem Banner hatte Wang gestanden? Unter dem gelben, roten, schwarzen oder weißen? Besser schon, man wußte überhaupt nichts und konnte die Illusion wahren, er habe nur unter dem weißen Banner gestanden, also nur in der Proviant-Kolonne gedient.

Wang war übrigens mit dem ihm zu teil gewordenen Geschick mehr als zufrieden und wurde nunmehr Bürger dieses gastlichen Hauses. Nach Tschung-He-u's Tode hielt Kin-Fo darauf, daß Wang ihm blieb, was er dem Vater gewesen war, denn auch er hatte sich an die Gesellschaft dieses liebenswürdigen Menschen so sehr gewöhnt, daß er sich nicht von ihm trennen mochte.

Wahrlich! wer hätte aber auch zu der Zeit, wo diese Geschichte einsetzt, in diesem Philosophen mit fünfundfünfzig Jahren, in diesem Sittenprediger mit der großen Brille, in diesem Hyper-Chinesen mit den schiefen Augen und dem herkömmlichen Schnurrbart einen ehemaligen Taiping, einen Räuber und Mordbrenner, vermutet? Sah er denn nicht in seinem langen Ueberkleid von wenig auffälliger Farbe mit dem zufolge eines beginnenden Fettansatzes bis zur Brust hinaufgerutschten Gürtel, in der nach kaiserlichem Erlaß gehaltenen Haar- und Kopftracht, also unter dem Pelzhut mit aufgekippten Krempen, der über einem Käppchen saß, unter dem Büschel von roten Fädchen hervordrangen – sah er in diesem Aufputze nicht ganz so aus wie ein biederer Professor der Philosophie, wie einer von jenen gelahrten Herren, die die 80 000 Charaktere der chinesischen Schrift an den Fingern ablesen? Wie ein Magister der höhern Grade? Wie ein Streber, der »seinen Doktor« summa cum laude »gemacht« und der nun den Fuß nach Peking durch das Große Thor setzen darf, das dem »Sohne des Himmels« vorbehalten ist!?

Mag sein, daß schließlich der Rebell seine Vergangenheit voll Graus und Schrecken vergaß, daß er durch den Umgang mit dem ehrlichen Tschung-He-u mildern Sinnes wurde und langsam auf die Bahn beschaulicher Philosophie hinüber gelenkt wurde. Und darum traf es sich denn auch, daß Kin-Fo und Wang, die niemals voneinander wichen, zusammen in Canton weilten – darum traf es sich ferner, daß sie beide nach jenem lukullischen Henkersmahle zusammen die Quais absuchten nach jenem Dampfer, der sie rasch wieder nach Schang-hai zurückführen sollte.

Kin-Fo ging schweigend, vielleicht sogar nicht ganz unbekümmert, einher. Wang, bald rechts, bald links blickend, Mond und Sternen vorphilosophierend, schritt lächelnd durch das »Thor der ewigen Reinheit«, das ihm nicht zu hoch für sein eigenes Streben bedünkte, schritt durch das »Thor der ewigen Freude«, dessen Flügel sich über seinem eignen Sein zu öffnen schienen, und sah endlich, wie die Türme der »Pagode der fünfhundert Gottheiten« sich im Schatten verloren.

Der Dampfer »Perma« lag zur Abfahrt bereit. Kin-Fo und Wang machten es sich in den beiden Kabinen behaglich, die sie für sich belegt hatten. Die rasche Strömung des Perlenflusses, der täglich mit dem Schlamm seiner steilen Ufer Leichname von Hingerichteten mit fortschwemmt, gab dem Schiff eine hohe Geschwindigkeit. Der Dampfer schoß wie ein Pfeil zwischen den Ruinen hin, die da und dort von den französischen Kanonen noch übrig gelassen worden, an der neunstöckigen Pagode von Haf-Way, an der Jardyne-Spitze bei Whampoa vorbei, wo die größten Schiffe vor Anker gehen, zwischen den Eilanden und Bambusdickichten beider Ufer entlang.

Die 150 Kilometer oder die 65 »Lis«, die Canton von der Mündung des Flusses trennen, wurden in derselben Nacht noch zurückgelegt.

Bei Sonnenaufgang passierte der »Perma« den »Tigersrachen«, sodann die beiden Barren des Aestuariums. Der Victoria-Pik der Insel Hong-kong mit seinen 1825 Fuß Höhe erschien auf kurze Zeit im Frühnebel, und nach der glücklichsten aller Ueberfahrten, kaum beeinträchtigt durch die gelblich getönten Gewässer des Blauen Flusses, landeten Kin-Fo und der Philosoph in Schang-hai, am Gestade der Provinz Kiang-Nan.



 << zurück weiter >>