Jules Verne
Die Drangsale eines Chinesen in China
Jules Verne

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Einundzwanzigstes Kapitel:

worin Craig-Fry den Mond mit allerhöchster Befriedigung aufgehen sehen.

»Und nun zum Tai-ping!« Das waren die ersten Worte, die Kin-Fo am Morgen des 30. Juni, nach einer von den Helden dieser wunderlichen Abenteuer sattsam verdienten Nachtruhe, ausrief.

Endlich weilten sie auf der Bühne von Lao-Schens Schandthaten. Der Kampf sollte nun sein Endspiel finden! Ob Kin-Fo als Sieger daraus hervorgehen würde? Gewiß! ohne Zweifel, wenn es ihm gelang, dem Tai-ping zuvorzukommen, denn er war ja doch willens, jeden Preis für den Brief zu bezahlen, den Lao-Schen fordern würde. Nein hingegen, und zwar ebenso ohne Zweifel, wenn er sich zuvorkommen ließe, wenn ihn ein Dolchstoß mitten in die Brust träfe, bevor er mit dem wilden Vollstrecker Wangs die Verhandlung begonnen hätte.

»Zum Tai-ping!« hatten Fry-Craig geantwortet, nachdem sie einander mit Blicken befragt hatten.

Aber sie sahen nichts, sie argwöhnten nichts, sie hatten nicht einmal Ursache zur Verwunderung, als ihnen eine verdächtige Person sich als Führer in dem Augenblick anbot, als sie den Fuß aus der Herberge setzten. Es war ein Mann von etwa 30 Jahren, der übrigens ziemlich anständig aussah. Immerhin stieg einiger Verdacht in ihnen auf und sie nahmen deshalb den Mann ins Verhör.

»Warum bieten Sie sich als Führer an, und wohin beabsichtigen Sie uns zu führen?«

Nichts natürlicher übrigens, als diese Doppelfrage, aber nichts natürlicher auch als die Antwort, die darauf gegeben wurde.

»Ich meine,« sagte der Führer, »daß Sie die Absicht haben, sich die Große Mauer anzusehen, wie es bei allen Reisenden der Fall ist, die nach Fu-Ning kommen. Ich kenne die Gegend und biete mich Ihnen als Führer an!«

»Lieber Freund,« sagte Kin-Fo, sich einmischend, »bevor wir uns entschließen, möchten wir wissen, ob es in der Provinz auch sicher ist!«

»Goldsicher,« gab der Führer zur Antwort.

»Wird nicht hier herum viel von einem gewissen Lao-Schen gesprochen?« fragte Kin-Fo.

»Sie meinen den Tai-ping – he?« – »Jawohl!«

»Na!« sagte der Führer, »freilich! aber innerhalb der Großen Mauer ist von dem nichts zu fürchten! auf kaiserliches Landgebiet getraut sich der nicht! Drüben in den mongolischen Provinzen haust der mit seiner Bande.«

»Ist sein gegenwärtiger Standort bekannt?« fragte Kin-Fo.

»Zuletzt hat man ihn in der Gegend von Tsching-Tang-Ro gesehen, wenige Lis nur von der Großen Mauer.«

»Wie weit ist es von Fu-Ning bis Tsching-Tang-Ro?« – »Etwa 50 Lis.«

»Nun, so nehme ich Eure Dienste an.« – »Um Sie nach der Großen Mauer zu führen?« – »Um mich bis in Lao-Schens Lager zu führen!«

Der Führer konnte eine Bewegung des Staunens nicht unterdrücken.

»Ihr werdet gut bezahlt!« setzte Kin-Fo hinzu.

Der Führer schüttelte den Kopf wie jemand, der sich nicht darum reißt, den Fuß über die Reichsgrenze zu setzen. Dann sagte er: »Bis zur großen Mauer, ja! Drüber hinaus, nein! Denn das heißt sein Leben riskieren!«

»Sagen Sie, was Sie Ihr Leben schätzen! Ich werde es zahlen.« – »Na, meinethalben,« sagte der Führer.

Dann drehte sich Kin-Fo zu den beiden Gesellschafts-Agenten um und sagte: »Es steht Ihnen frei, meine Herren, von meiner weiteren Begleitung abzustehen.«

»Wo Sie hingehen . . .« hub Craig an.

». . . Dorthin gehen wir auch!« sagte Fry.

Noch immer war ja der Klient der »Centennar«-Gesellschaft für sie 200 000 Dollars wert!

Die Vorbereitungen für die Reise waren schnell getroffen. Sun wurde gar nicht erst gefragt, ob es ihm passe, mitzureisen oder nicht. Er wurde eben mitgenommen.

Fünf Kamele wurden mit dem zugehörigen Saumzeug gekauft und mit dem notwendigen Vorrat an Proviant und Waffen beladen. Dann brach man unter der Führung des gedungenen Dieners auf.

Gegen Mitternacht etwa machte der Führer Halt und zeigte auf eine lange, schwarze Linie, die sich auf dem um ein weniges helleren Hintergrunde des Himmels abhob. Hinter dieser Linie traten in silbernen Linien einige schon von den ersten Mondstrahlen erhellte Bergspitzen zum Vorschein, die vom Horizont noch verdeckt wurden.

»Die Große Mauer!« sagte der Führer.

»Können wir sie noch heut Abend passieren?« fragte Kin-Fo.

»Ja, wenn Sie es unbedingt wollen!« versetzte der Führer.

»Ja, ich will's!«

Die Kamele hielten.

»Ich will den Passierschein besorgen,« sagte nun der Führer. »Erwarten Sie mich hier!«

Der Führer ging. In diesem Augenblick traten Craig und Fry an Kin-Fo heran.

»Mein Herr?« sagte Craig. – »Mein Herr?« sagte Fry. Und beide setzten hinzu: »Sind Sie zufrieden gewesen mit den achtwöchentlichen Diensten, zu denen William J. Bidulph uns bei Ihnen verpflichtet hat?«

»Sehr zufrieden!«

»Würde der Herr so gütig sein, uns hierüber auf diesem Stückchen Papier ein kurzes Attest auszustellen mit dem Vermerk, daß über unsere gute und loyale Dienstleistung nur Löbliches zu sagen ist?«

»Auf dem Papier da?« antwortete nicht wenig erstaunt Kin-Fo beim Anblick eines aus einem Notizbuch gerissenen Blättchens, das ihm Craig reichte.

»Dieses Attest,« bemerkte Craig, »wird uns von seiten unseres Direktors vielleicht ein Lob eintragen!«

»Und jedenfalls auch eine angemessene Gratifikation,« ergänzte Fry.

»Bitte, Herr! mein Rücken kann Ihnen ja als Pult dienen,« sagte Craig, indem er einen krummen Buckel machte.

»Hier, bitte die nötige Tinte, damit uns der Herr diesen schriftlichen Beweis von Huld und Wohlwollen ausstellen könne!« ergänzte Fry.

Kin-Fo schrieb und unterzeichnete mit lächelnder Miene.

»Aber nun,« fragte er – »wozu denn, bitte, diese ganze Zeremonie hier an diesem Ort und zu solcher Zeit?«

»An diesem Orte,« erwiderte Fry, »weil es in unserer Absicht liegt, Sie nicht weiter als bis hierher zu begleiten.«

»Und zu solcher Stunde,« setzte Craig hinzu, »weil es binnen wenigen Minuten um Mitternacht sein wird!«

»Und was hat diese Stunde auf sich?«

»Mein Herr,« nahm Craig wieder das Wort, »das Interesse unserer Versicherungsgesellschaft an Ihrer Person . . .«

». . . erlischt,« ergänzte Fry, »in wenigen Augenblicken!«

»Und Sie können sich nun totschlagen lassen . . .« – Craig!

». . . oder selbst ums Leben bringen« – Fry!

». . . nach Herzenslust!« – Craig!

Kin-Fo betrachtete die beiden Agenten, die im liebenswürdigsten Tone der Welt mit ihm sprachen – betrachtete sie, ohne zu begreifen. In diesem Augenblicke trat der Mond am Horizont herauf und traf sie mit seinen ersten Strahlen.

»Der Mond!« rief Fry.

»Heut ist der 30. Juni!« rief Craig.

»Um Mitternacht geht er auf!« – »Und Ihre Police ist nicht erneuert worden!« – »Sie sind also nicht mehr bei der »Centennar« versichert!« – »Guten Abend, Herr Kin-Fo!« sagte Craig. – »Herr Kin-Fo, guten Abend!«

Und im Nu hatten die beiden Agenten ihre Kamele gewandt und waren verschwunden, während ihr Klient dastand, wie der – Ochse vorm Berge.

Aber kaum war der Tritt der Kamele, die diese beiden vielleicht ein wenig zu praktischen Amerikaner von dannen führte, verhallt, als sich eine von dem Führer angeführte Truppe auf Kin-Fo warf, der vergeblich zu entfliehen suchte. Einen Augenblick später wurden Herr und Diener in das Verließ einer der Bastionen der Großen Mauer geworfen, dessen Thür sorgfältig hinter ihnen abgeschlossen wurde . . .



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