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18. Kapitel. Freie Bahn dem Tüchtigen.

Zwei Jahre waren seitdem verflossen. Sie hatten Sommer und Winter, Regen und Sonnenschein, Gutes und Böses gebracht im Wechselstrom der Tage. Manches hatte sich inzwischen verändert in Jena und im Sternenhaus.

Die alte Universitätsstadt hatte sich gedehnt. Neue Landhäuser waren entstanden, freundliche Arbeitersiedelungen mit Gärtchen. Die ehrwürdigen, winkligen Gäßchen, durch die Schiller und Goethe gewandert, nahmen sich eigentümlich aus neben einem großen, modernen Warenhaus, das jetzt die Altstadt beherrschte. Unter den Studenten war wie stets ein Kommen und Gehen; alte Studentensemester machten ihr Examen und zogen davon, neugebackene Musensöhne traten in ihre Lücken.

Herberts Sehnsucht hatte sich erfüllt. Er saß als Student mit Zerevis und Couleurband, Studentenlieder singend, vor seinem Schoppen an den Tischen des lindenbestandenen Marktplatzes, wohin er schon seit der Tertia voller Neid geschielt hatte.

Professors Zwillinge hatten ihr Abiturientenexamen bestanden. Herbert war sogar auf Grund seiner guten schriftlichen Arbeiten von der mündlichen Prüfung befreit worden. Suse war recht und schlecht mit durchgerutscht – sie war nun mal kein Examensmensch. Nächtelang vorher hatte sie vor Aufregung und Examensangst nicht geschlafen, tagelang nicht recht gegessen. Wie sollte sie da frisch und klar die gestellten Aufgaben lösen. Wenn Professor Martin nicht geltend gemacht hätte, daß sie die ganze Schulzeit über eine so pflichttreue Schülerin gewesen wäre, hätten die Examinatoren sie sicher nicht durchgelassen, denn sie gab ganz konfuse Antworten vor Angst. Ihre Freundin Inge war wie Herbert ebenfalls vom Mündlichen dispensiert worden, da sie das Schriftliche mit Eins bestanden hatte. Helga jedoch wäre auch beinahe durchgerasselt. Selbst vor der Reifeprüfung war ihr der Sport wichtiger als die Bücher. Aber sie hatte den Mund auf dem rechten Fleck und blieb so leicht keine Antwort schuldig, wenn sie auch manchmal nicht so ganz stimmte.

Dem Himmel sei's getrommelt und gepfiffen – sie waren alle durch. Das blieb doch schließlich die Hauptsache. Herbert wollte das erste Semester den Sommer über noch in Jena studieren und zum Winter dann nach Berlin gehen. Dort hatte es ihm vor zwei Jahren der Zoo und das Aquarium angetan. Suse hatte ihren Zwilling bestürmt, doch an der Erfurter Universität Kolleg zu hören, da sie selbst schon in vierzehn Tagen nach Erfurt übersiedeln wollte, um dort in der weltberühmten Gärtnerei beim »Blumen-Schmidt« als Lehrling einzutreten. Aber Herbert fand, es wäre Suse mal ganz gut, auf eigenen Füßen stehen zu lernen, um Selbstvertrauen und Selbständigkeit zu erlangen. Die Eltern mußten ihm recht geben, wenn es ihnen auch schwer wurde, die schüchterne Tochter in der fremden Stadt ohne ihren Zwilling zu wissen.

Leer würde es bald im Sternenhaus werden – sehr leer. Denn auch die Großmama, die trotz aller bescheidenen Anspruchslosigkeit den Mittelpunkt des Hauses gebildet hatte, war im Herbst dahingegangen. Still und schmerzlos war sie hinübergeschlummert, die kleine Omama. Ihr Tod riß eine große Lücke in den Familienkreis. Jedem fehlte sie mit ihrem liebevollen Verständnis, ihrem zufriedenen Lächeln. Die Gütige, die stets die kleinen Schmerzen der Enkelkinder gelindert, trug durch ihren Heimgang den ersten großen Schmerz in das Leben der jetzt achtzehnjährigen Zwillinge.

Still und tief betrauerte Suse ihre kleine Omama. Die Augen wurden ihr jeden Mittag feucht, wenn sie, von der Schule heimkehrend, vergeblich den Blick auf das Parterrefenster richtete. Kein Silberscheitel wurde dort mehr sichtbar, kein liebevoller Blick sandte ihr von dort einen freudigen Gruß entgegen. Es blieb Suse nur noch die wehmütige Pflicht, die Ruhestatt ihrer kleinen Omama mit Blumen zu schmücken. Die schönsten Marschall-Niel-Rosen, welche die Entschlafene einst so geliebt hatte, pflanzte die junge Enkelin auf den stillen Hügel.

Auch Herberts laute Jungenart hatte durch den Tod der Großmutter einen Dämpfer erhalten. Er hatte sie lieb gehabt, die alte Dame, trotzdem er eigentlich derartige Empfindungen als unmännlich betrachtete. Rücksichtsvoll war er mit der kleinen Omama gewesen, ihr Wort hatte stets einen guten Einfluß auf den großen Jungen ausgeübt. Und nun war sie nicht mehr da – ausgelöscht. Der Tod, der unfaßbare, trat Herbert zum erstenmal entgegen und legte sich bedrückend auf seinen frischen Jungenmut.

Tränen trocknen, Jugendfrohsinn bricht wieder hervor wie Frühlingsknospen an Baum und Busch. Heute dachte keiner an Vergehen – hoffnungsgrün lag das Leben vor Professors Zwillingen.

Im Heinzelmännchennest feierte man Abschiedsfest. In wenigen Tagen wollte ein Teil der Wandervögel davonfliegen nach Nord und Süd. Die Jungen und Mädel, die gemeinsame Schulinteressen, Wander- und Sportveranstaltungen jahrelang miteinander verbunden hatten, würde das Leben bald ganz verschiedene Wege führen. Würden sie wieder zueinander zurückfinden? Paul Liedtke, der älteste von ihnen, war es, der solche ernsten Gedanken inmitten der Ausgelassenheit des übermütigen Kreises hegte.

»Jedes Jahr treffen wir uns zu Ostern wieder in unserm Nest«, verkündete Helga Martin da in Pauls Sinnen hinein. »Jeder hat die Verpflichtung, sich pünktlich einzustellen. Entschuldigungen gibt es nicht. Und wenn ich als Tennismeisterin in Amerika sein sollte, am Ostersonntag stelle ich mich in unserm ›Heinzelmännchen‹ ein.«

»Über den Ozean willst du schwimmen, Helga?« erkundigte sich Herbert interessiert. Längst hatte er es vergessen, daß er mal den großen Bann über Helga ausgesprochen. Heute verehrte er das schöne, blonde Mädchen mit feuriger Jünglingsbegeisterung.

»Nicht sofort – aber später sicher mal. Zum internationalen Tennisturnier in Nizza habe ich mich bereits gemeldet. Und wenn ich dort erst die deutsche Meisterschaft über eine Amerikanerin errungen habe, fordern sie mich bestimmt auf, zu einem Revanchespiel nach Amerika herüber zu kommen.« Helga warf den Blondkopf siegesgewiß zurück. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, daß sie die Meisterschaft erringen würde.

»Beneidenswert«, sagte Suse leise zu Paul, »dieses Selbstvertrauen von Helga und dieses Überzeugtsein von eigenem Können. Ich gehe bloß bis nach Erfurt, und trotzdem es nur eine ganz kurze Reise bis dorthin ist, erscheint es mir so weit zu sein wie Amerika.«

»Mir auch!« entfuhr es Paul. »Aber du wirst uns ja in den Ferien sicherlich bald wieder in Jena besuchen«, setzte er tröstend hinzu.

»Ferien – die gibt es jetzt nicht mehr für mich, Paul. Als Gärtnerlehrling habe ich eigentlich nur auf acht Tage Urlaub im Jahr Anspruch. Vielleicht bekommen die Elevinnen, so heißen die Gartenbauschülerinnen dort, etwas längeren Urlaub. Aber sicher erst zu Weihnachten, wenn keine Außenarbeit mehr ist.«

»Nun, so besuche ich dich, Suschen«, versprach Paul Liedtke.

»Ja, Paul, wirst du das tun?« Freudig leuchtete es in Suses braunen Augen auf. »Aber du hast ja kein Geld dazu«, setzte sie gleich wieder entmutigt hinzu.

»Dazu muß Geld da sein; ich lebe doch jetzt ganz auskömmlich. Und wenn ich erst meine Doktorarbeit über das Fernsehen fertig habe – paß mal auf, Suse, dann geht es vorwärts.« Auch aus Pauls Worten sprach Selbstvertrauen zu eigener Kraft bei aller Bescheidenheit.

»Fabelhaft, daß du schon deinen Doktor bauen willst«, mischte sich Herbert in das Gespräch der Zwillingsschwester. »Dann kannst du ja mit einundzwanzig Jahren fertig sein, Paul.«

»Professor Abbe war auch nicht älter, als er seinen Doktor machte«, meinte Paul, als sei das etwas ganz Selbstverständliches, daß er seinem Vorbild nachstrebte. »Ich arbeite übrigens jetzt wieder in den Zeiß-Werken, allerdings nur als Volontär. Dort steht mir das Material für meine praktischen Versuche zur Verfügung.«

»Den Bildfunk willst du weiter ausbauen, Paul?« erkundigte sich Suse angelegentlich.

»Ja und nein. Der Bildfunk ist natürlich noch sehr zu vervollkommnen. Aber ich möchte das Fernsehen auch beim Telephon in Anwendung bringen. Das ist eine Aufgabe, die mich reizt. Vorläufig sind die Apparate noch viel zu teuer. Man muß sie derart verbilligen, daß an jedem Fernhörer auch gleich ein Fernseher angeschlossen ist.«

»Dann würde ich lieber von Hause fortgehen, wenn ich meine Lieben öfters mal telephonisch sehen könnte«, meinte Suse nachdenklich.

»Die Suse ist und bleibt doch ein Mutterkindchen«, lachte Helga die Freundin aus. »Wirst du's denn überhaupt in Erfurt ohne deinen Zwilling aushalten?«

»Wenn Suse Sehnsucht hat, komme ich schnell herübergeflogen.« Herbert tat, als ob es für ihn keine andere Verbindung mehr als durch die Luft gäbe. »Es ist ganz gut, daß sich Zwillingspaare mal trennen. Schließlich ist doch jeder ein Einzelwesen.«

»Wir Zwillinge trennen uns ebenfalls zum ersten Male. Helga wird sich ja auch in Berlin ausbilden«, sagte Inge, den Kaffee einschenkend, mit heimlichem Bedauern.

»Wirklich, Helga, du kommst nach Berlin? Famos! Willst du dort als Fecht- oder Tennismeisterin antreten?« fragte Herbert erfreut.

»In keiner dieser Eigenschaften. Nur als bescheidene Studentin an der Deutschen Hochschule für Leibesübungen. Vater steht noch auf dem altmodischen Standpunkt, daß Tennis und Fechten kein Beruf, sondern nur ein Vergnügen sei. Er wünscht, daß ich, da ich zu allem andern keine Neigung habe, wenigstens mein Examen als Sportlehrerin mache, um eine solide bürgerliche Existenz zu haben, wie er sich ausdrückt.« Die unverbesserliche Helga ahmte übermütig die Sprechweise des Vaters nach.

»Vater hat recht, Helga. Wenn du nicht dein Leben in festen Gleisen beginnst, ein bestimmtes Ziel vor dir, wirst du niemals etwas erreichen«, mischte sich ihre Zwillingsschwester hinein.

»Über das Ziel gehen eben die Meinungen auseinander. Mein Ideal ist es, Tennismeisterin zu werden, das ist mehr wert, als wenn ich als unbekannte Sportlehrerin irgendwo Kinder dressiere. Dein Ziel, Inge, dir als Studienrat eine sogenannte bürgerliche Existenz zu schaffen, hat wenig Verlockendes für mich«, machte die Schwester naserümpfend.

»Kinder, kabbelt euch nicht – jeder von euch hat, seiner Wesensart entsprechend, recht. Helga strebt nach Weltruhm, Inge nach wissenschaftlichem Erfolg«, vermittelte Suse begütigend.

»Na, und du wirst im nächsten Semester in Berlin Viehmuse, Herbert?« wandte sich Helga jetzt neckend an den jungen Studenten.

Das verächtliche Wort »Viehmuse« kränkte Herbert mit Recht. »Ich werde mich neben meinen zoologischen Studien mit Ausbau des Berliner Zoos und des Aquariums beschäftigen«, erklärte er großartig.

Allgemeines Gelächter erhob sich im »Heinzelmännchen«. Es war bekannt, daß Herbert den Mund oft zu voll nahm.

»Berlin wartet sicher nur auf dich, Herbert. Welche Verbesserungen wirst du denn dem Direktor dort vorschlagen?« zog ihn sein Intimus, stud. jur. Krause, auf.

»Verschiedenes, was ich im Aquarium zu Neapel, dem größten der Welt, als vorteilhafter erkannt habe.« Herbert ließ sich nicht verblüffen.

»Aber, Junge, da warst du doch erst zehn Jahre alt«, lachte ihn Suse aus.

»Der eine lernt's früh, der andere nie«, gab Herbert achselzuckend zurück.

Dann aber hatte man Besseres zu tun, als sich herumzubeißen wie junge Köter. Nachdem man in Kaffee und Kuchen eine gute Klinge geschlagen hatte, zogen frohe Volks- und Wanderlieder durch das Jugendheim. Noch einmal vereinten sich all die jungen Stimmen im selbsterbauten »Heinzelmännchen«, noch einmal verbanden Reigen, Spiele und Tanz die lustige Schar, bevor sie den Flug frohgemut hinaus ins Leben nahm. –

So schwer hatte sich Suse den Abschied vom Sternenhaus doch nicht vorgestellt. Zum letzten Male hielt sie Umschau in ihrem Stübchen, nahm Abschied von Mätzchen, das Paul bekommen sollte, von den Goldfischen und ihren Kakteen. Zärtlich kraute sie das weiße Fell Piccolas, die sie mit der stumpfen Gleichgültigkeit des Alters davonziehen ließ. Wer weiß, ob es ein Wiedersehen mit ihr gab! Dann griff Suse kurz entschlossen nach ihrer Myrte, die eine stattliche Krone im Laufe der Jahre aufgesetzt hatte. Die ließ sie nicht hier. Keiner würde sie so pflegen, wie sie es tat.

Nun noch Abschied genommen von ihrem lieben Garten. Mit jeder Pflanze war sie dort verwachsen. Im ersten Frühlingsgrün grüßte Baum und Strauch, so hoffnungsfreudig – Suse wischte mit plötzlicher Energie die Tränen aus den Augen. Herbert hatte recht, sie tat ja gerade, als ob es zur Hinrichtung ginge und nicht zur Ausführung ihres Lieblingswunsches, Gärtnerin zu werden.

Und dann lehnte sie am Fenster des Zuges nach Erfurt. Draußen auf dem Bahnsteig standen die Eltern, stand ihr Zwilling. Da versuchte Paul ihr und sich selbst durch mühselige Scherzworte den Abschied zu erleichtern; da miefte Bubi so betrübt, als ob er den Gefühlen der jungen Reisenden Ausdruck geben müsse.

Die Zugpfeife schrillte, Suse sah vor aufsteigenden Tränen nur noch die Umrisse ihrer Lieben.

»Kopf hoch, Mensch, Erfurt ist knorke«, munterte Herbert seinen Zwilling auf.

»Ich komme mal Sonntags hinüber!« Dieses Versprechen Pauls war das letzte, was Suse noch in dem Fauchen und Schnaufen des anfahrenden Zuges vernahm. Es gab ihr das Geleit in das Rattern der Räder hinein, war ihr eine tröstliche Verheißung für das neue, fremde Leben.

Herbert behielt wieder mal recht. Bald ging aus Suses Briefen hervor, daß sie sich in der Professorenfamilie, bei der die Eltern sie in Erfurt in Pension gegeben hatten, recht wohl fühlte. Daß ihre Tätigkeit, so anstrengend sie auch war, ihr Freude und Befriedigung gab, und daß man ihr überall wohlwollend entgegenkam.

Wie sollte das auch anders sein, dachte Paul, der sich am Sonntag stets im Sternenhaus Bericht über die ferne Freundin erstatten ließ, solch einem lieben Mädel muß doch jeder gut sein. Er entbehrte Suse fast noch mehr als ihr Zwilling. Ihre warmherzige Anteilnahme an allem, was ihn anging, fehlte ihm arg. Briefe wechselten sie nur selten. Jeder von ihnen hatte seine regelmäßige Tätigkeit von morgens bis abends und erfüllte dieselbe mit gewissenhafter Pflichttreue.

Der Obergärtner in Erfurt, dem die Elevinnen unterstellt waren, hatte es bald heraus, daß Suse Winter vom Gartenbau mehr verstand als sonst ein Gärtnerlehrling. Vom Unkrautausjäten und Umgraben des Erdreiches rückte sie bald zu einer höheren Stufe herauf. Sie durfte säen und pflanzen, die Treibhauspflänzchen betreuen, ja, die übrigen Elevinnen wurden sogar ihrer Aufsicht unterstellt. Das hätte leicht ein schiefes Verhältnis zu den Kameradinnen geben können, aber Suses bescheidenes, keineswegs überhebliches Wesen ließ sie niemals die Vorgesetzte herausbeißen. Wohin sie kam, öffneten sich ihr die Herzen. Wie eine Pflanze schlug auch sie Wurzel in dem neuen Heimatsboden und gedieh bei der Wärme freundlichen Entgegenkommens. Für Gemüsebau und Obstzucht interessierte sie sich besonders, denn sie gedachte später mal in Jena, das ganz besonders günstiges Klima hatte, in dem sonnigen Sternenhausgarten Edelobstplantagen in größerem Maßstabe für den Versand anzulegen und sich auf diese Weise selbst ihren Unterhalt zu gewinnen. So lernte Suse auf eigenen Füßen stehen, eigene Meinung und eigene Verantwortung zu haben, die sie sonst gern ihrem Zwilling überlassen hatte. Ihr zu weicher Charakter erstarkte da draußen im windbewegten Leben.

Professors Zwillinge, die sich in den letzten Schuljahren nach verschiedenen Richtungen hin entwickelt und sich dadurch innerlich voneinander entfernt hatten, fanden jetzt, wo sie räumlich getrennt waren, wieder die Brücke zueinander. Herbert hätte nie gedacht, daß die sanfte Schwester ihm so fehlen würde, daß sie immer noch wie in der Kinderzeit ein Teil seines Ichs war. Er, der sonst lieber boxte als Briefe schrieb, gab trotz Mutters regelmäßiger Berichte der Schwester immer noch Privatmitteilung über alle Vorkommnisse in Jena und speziell im Heinzelmännchenkreis. Für Familienbriefe war Herbert nicht, aber in diesen Berichten ließ er seinem losen Mund freien Lauf. Suse fand Herberts Schreiben überaus belustigend, aber sie mußte sich doch zugestehen, daß in Pauls seltenen Briefen viel Wertvolleres stand. Der schrieb nicht wie Herbert einen ganzen Bogen über ein Fechtturnier mit Helga, und durch welchen gemeinen Zufall allein er von einem Mädel besiegt worden war, von Ruderregatten und durchkneipten Nächten bei Mondenschein auf dem Fuchsturm. Nein, Paul wußte in seinen Zeilen stets etwas Wesentliches zu berichten. Sei es aus dem Sternenhause, von irgendeinem neuen Erfolg des Vaters oder von seiner eigenen Arbeit, die ihn nicht immer befriedigte, wo es manche Klippe, manche Enttäuschung gab. Dann war es wieder an Suse, den Entmutigten aufzurichten. Das Vertrauen, das sie in ihn setzte, gab auch Paul in solchen Tagen des Verzagens an dem Gelingen der Aufgabe, die er sich gestellt hatte, Zuversicht und Selbstvertrauen zurück.

Die Sommerblüten auf den Erfurter Blumenfeldern machten den bunten Herbstastern Platz, die in farbenfreudigen Prachtexemplaren dort die Mühe der Gärtnerin dankten. Das Spalierobst reifte, Riesenpfirsiche, goldene Edelbirnen und duftende Apfelsorten. Voller Eifer lernte Suse das Obst fachgemäß abnehmen, sortieren, lagern und versenden. Hochbetrieb war es in den Gärtnereien. Suse fand nicht einmal Zeit, während der Arbeitsstunden zum Bahnhof zu kommen, wo ihr Zwilling mit seinem Bubi nach Berlin vorüberdampfte, dem zweiten Semester entgegen. Über alle persönlichen Wünsche ging die Pflicht. Professors Zwillinge hatten sich im Laufe des Sommers öfters gesehen; aus dem Sternenhaus waren die Eltern sowohl wie Herbert an manchem Sonntag nach Erfurt hinübergefahren, um sich persönlich nach Suse umzusehen. Auch Paul hatte sein Versprechen eingelöst und sich Herbert angeschlossen. Allerdings nur zweimal, denn Zeit und Geld mangelte. Aber diese beiden Sonntage hoben sich strahlend heraus aus der Kette der übrigen.

Als der Weihnachtsbaum brannte, kehrte das Töchterlein zum erstenmal wieder heim ins Sternenhaus. Denn auch der Sonntagsdienst mußte während des Sommers in den Erfurter Gärtnereien versehen werden, und die gewissenhafte Suse fürchtete immer, etwas zu versäumen, wenn sie nach Jena fuhr. Nun war sie wieder daheim im lieben Sternenhaus und doch ein wenig fremd, eine andere geworden. Aber nur im ersten Augenblick. Da erschien ihr das Haus so groß und geräumig, ihr Stübchen verödet; Herbert war noch in Berlin, Mätzchen bei Paul, die Goldfische waren eingegangen, ohne die liebevolle Hand ihrer Pflegerin. Die Kakteen hatte die Mutter im Wintergarten, zu dem die Veranda inzwischen erhoben war, untergebracht. Piccola lag unten in der Küche am warmen Herd und hatte mehr Interesse für die ihr Milch reichende Auguste, die zu Oktober neu zugezogen war, als für ihre einstige Herrin. Auch die Eltern kamen Suse im ersten Moment verändert vor. Hatte der Vater schon immer so viele Furchen in der Stirn gehabt? Und durch Muttis volles Braunhaar zogen sich ja schon Silberfäden – – –.

Auch die Tochter erschien den Eltern anders; größer und schöner war sie durch die ständige Arbeit im Freien geworden, wie eine junge Rose so taufrisch. Aber merkwürdig, als der Vater ihr zärtlich über das Haar gestrichen und Mutti sie liebevoll in die Arme genommen: »Mein Mädichen, habe ich dich endlich wieder!« da versank mit dem Kosenamen der Kleinkinderzeit alles Fremde. Da war sie wieder als Kind daheim im Sternenhaus.

Ein schneidiger Student, lärmend und geräuschvoll, hielt Herbert mit Bubi, der sich wie toll vor Wiedersehensfreude gebärdete, einige Tage später seinen Einzug.

»Donnerwetter, Suse, du bist ja verteufelt hübsch geworden«, sagte er anerkennend, der Schwester den Arm fast aus dem Gelenk schüttelnd. Er selbst war ein fixer Kerl, der nicht genug vom Berliner Leben erzählen konnte. Der Vater, dem er über seine Studien berichtete, und daß er bei dem Direktor des Zoos ein- und ausging, meinte später zur Mutter: »Keine Sorge, Fränzchen, daß der Junge in Berlin verbummelt. Der geht seinen Weg.«

Neben Herberts geräuschvoller Lebhaftigkeit wirkte der stets ruhige Paul heute doppelt still. Der hatte viel zu viel zu sehen, um sprechen zu können. Es kam ihm gar nicht zum Bewußtsein, daß er unausgesetzt Suse anstarrte; wie ein holdes Wunder erschien es ihm, daß sie wieder da war.

Als die Weihnachtslichter herabgebrannt waren, Paul sich verabschiedet hatte und die Eltern zur Ruhe gegangen, saßen Professors Zwillinge noch auf dem kleinen Rosenknospensofa in Suses Zimmer im Gespräch beisammen. Lange waren sie sich innerlich nicht so nahe gewesen, wie heute nach monatiger Trennung.

Auch Paul fand auf gemeinsamen Spaziergängen allmählich die Sprache wieder und berichtete von dem günstigen Verlauf seiner Doktorarbeit. Zu Ostern gedachte er, sich zur Prüfung zu melden.

Alle waren sie zum Weihnachtsfest wieder heimgeflogen, die Wandervögel aus dem Heinzelmännchennest. Nur Helga befand sich in Holland, um dort als Fechtmeisterin den deutschen Rekord aufzustellen. Inge, die glücklich war, Suse wieder in Jena zu haben, erzählte, daß die Schwester wenig Zeit für ihre Studien fände vor Sportkämpfen, zu denen man sie einlud. Verschiedene Meisterschaften hatte sie bereits errungen. Herbert konnte das bestätigen. Helga befand sich mehr außerhalb Berlins als dort; sie sahen sich nur selten. Zu seinem Erstaunen aber bemerkte Herbert jetzt, wo Helga nicht da war, daß Inge, die der Zwillingsschwester äußerlich sehr ähnlich sah, entschieden viel netter und klüger war als Helga, die für nichts anderes Sinn hatte als für ihren Sport.

Bei Suses Schützlingen, die sie zu Weihnachten stets zu beschenken pflegte, waren inzwischen auch Veränderungen eingetreten. Die alte Frau Kahlert hatte der Sohn zu sich nach Rudolstadt genommen. Tinchen Schiller war bereits eingesegnet und in den Zeiß-Werken tätig. Sie tat jetzt ihre Pflicht, wo sie durch die Arbeit Geld verdiente.

Als das neue Jahr ins Land zog, zogen auch die Wandervögel wieder davon. Die Jugendfreunde trennten sich aufs neue. Ein jeder ging wieder zu seinem Pflichtenkreis zurück.

Paul lebte noch wochenlang in der Erinnerung. Es waren Festtage für ihn gewesen, im wahren Sinne des Wortes. In seine physikalischen Versuche und wissenschaftlichen Forschungen hinein spukte manch liebes Mal ein goldbrauner Mädchenkopf. »Freie Bahn dem Tüchtigen« – dieses Wort des Professors Winter beim Eintritt des armen Waisenknaben in ein neues Leben hatte sich Paul als Geleitwort gewählt. Es gab ihm frische Kraft, wenn er erlahmen wollte, wenn ihm etwas unüberwindbar schwierig erschien. Auch jetzt rief sich Paul öfters dieses Wort des Ansporns ins Gedächtnis, aber er dachte merkwürdigerweise dabei nicht an ein berufliches Ziel. Das Ziel, das er sich gesetzt, das allerdings noch in kaum erreichbarer Ferne lockte, hatte nichts mit Bildfunk und Fernsehen zu tun. Trotzdem sah Paul es oft mit geschlossenen Augen über die Thüringer Waldberge hinweg im vieltürmigen, alten Erfurt.

So vergingen die Tage, reihten sich zu Monaten, wurden zu Jahren. – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Zehnmal hatte die Zeitenuhr zum Jahresschlag ausgeholt, zehn Jahre waren vergangen seit jenem Abschiedsfeste der Jenaer Wandervögel in ihrem Heinzelmännchennest. Da fanden sie sich wieder zusammen. Zum ersten Male, trotz bester Vornahme, waren sie alle wieder vollzählig.

Ein wenig verändert hatten sie sich wohl seit jenem Frühlingstage, wo sie, selbst lenzfreudig, hinausgezogen waren. Hatte das Leben erfüllt, was ein jeder von ihm erhoffte?

Professors Zwillinge hatte das Schicksal äußerlich getrennt. Aber es hatte alle beide auf den richtigen Platz gestellt, den sie voll ausfüllten zum Wohle ihrer Mitmenschen und sich selbst zur Befriedigung.

Mit der einen Hand nahm es, mit der andern gab es, das Leben. Es hatte jedem der Zwillinge den Kameraden und treuen Weggenossen an die Seite gegeben, der ihn bei dem andern ersetzen sollte. Fünf Jahre war es her, seit Suse sich die selbstgezogenen Myrtenblüten in das Braunhaar gewunden hatte. Seit fünf Jahren war sie die Frau ihres Jugendfreundes, des jungen Professors Paul Liedtke.

»Freie Bahn dem Tüchtigen.« Paul hatte dies Wort wahr gemacht. Aus eigener Kraft hatte er erreicht, was er erstrebt. Er war jetzt Leiter der wissenschaftlichen Abteilung der Optischen Werke von Zeiß und Professor für Physik an der Universität Jena. Mit seinem Schwiegervater gemeinsam hatte er die Sternwarte und das Institut für Erdbebenforschung unter sich. Ein reiches Wirkungsfeld war dem armen Jungen geworden, reiches Glück im eigenen Heim entschädigte ihn für seine freudlose Kindheit. Das obere Stockwerk des Sternenhauses war zu einer abgeschlossenen Wohnung ausgebaut worden. Hier waltete die junge Frau Suse als umsichtige Hausfrau, als liebevolle Gattin und Mutter. Freilich, Klein-Renatchen steckte meistens unten bei der Omama. Wie Suses Lieblingsplatz einst vor Jahren bei ihrer »kleinen Omama« gewesen war, so war dasselbe jetzt bei ihrem Töchterchen der Fall. Welke Blätter fielen ab, neue Triebe setzten an, und der Baum erstarkte im Laufe der Zeit. Es war auch ganz gut, daß Renatchen der Mutter nicht immer am Rock hing, denn diese hatte auch außerhalb des Hauses noch ihr Arbeitsfeld. Große Obstplantagen, Erdbeer- und Spargelfelder zogen sich die Berghänge rings um das Sternenhaus hinauf; Land hatte dazugekauft werden müssen, der Garten hatte nicht ausgereicht. Ein Professor, der seine Wissenschaft über alles stellt, lebt nicht im Überfluß. Frau Suses weit über Jena hinaus bekanntgewordene Obstzucht sorgte dafür, daß Paul nicht um das tägliche Brot für Frau und Kind ringen mußte, sondern seinen wissenschaftlichen Forschungen als Selbstzweck, nicht zum Verdienst nachgehen konnte.

Und wie war es ihrem Zwilling ergangen? Hatte auch er erfüllt, was er mit großen Worten so oft versichert hatte? Professor war Herbert vorläufig noch nicht geworden. Er hatte es bisher nur bis zum Doktor und zum Ersten Assistenten am Berliner Aquarium gebracht. Aber er hatte eine Zukunft vor sich. Der Zoo sollte aus dem Berliner Westen nach Spandau verlegt, und die Tiere dort nicht in Käfigen, sondern möglichst ihren Lebensgewohnheiten entsprechend gehalten werden. Dazu half Herbert die Pläne mit ausarbeiten. Dort war ihm später eine leitende Stelle gewiß. Das Leben hatte ihn ruhiger und bescheidener gemacht, oder war daran etwa seine junge Frau schuld, die er vor zwei Jahren heimgeführt? Fräulein Studienrat Dr. Inge Martin war jahrelang in Berlin an einem Gymnasium tätig gewesen, bis sie dem Freunde als Gattin folgte. Helga aber, ihr Zwilling, irrte noch immer draußen in der Welt umher, bald in Europa, bald in Amerika, wohin der Ehrgeiz sie rief. Viele Preise hatte sie davongetragen, Tennisweltmeisterin war sie geworden, aber das Glück eines eigenen Heimes entbehrte sie. Dazu hatte Helga gar keine Zeit.

In dem Heinzelmännchennest klangen die Gläser und die Stimmen der Jugendgefährten zusammen wie einst. Menschen, die das Leben gereift, reichten sich dort die Hände zu erneuter Kameradschaft.

Ihr, die ihr euch euer Jugendheim selber gebaut habt, einer mit dem andern, stark durch die Gemeinschaft, ihr habt euch auch euer Leben richtig gezimmert. Einer mit dem andern, jeder nur ein Teil des Ganzen, so seid ihr feste Stützen des deutschen Staatsbaus geworden. Glückauf – Professors Zwillinge!


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