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14. Kapitel. Aufregende Tage.

Auch die grimmigste Kälte, auch die stärkste Epidemie hat schließlich mal ausgetobt. Das Thermometer stieg! Man sah wieder normal aussehende, langsam gehende Menschen in den Straßen, anstatt vermummter Schnelläufer. Man hörte wieder das Klappern der Schlittschuhe. Man konnte bei herrlichstem Sonnenschein das Jugendskiwettspringen an der neuen Sprungschanze veranstalten. Und man war ungemein enttäuscht, daß man dabei nicht den Ersten Preis erhielt, sondern daß einem der silberne Pokal von einem Mädel weggeschnappt wurde. Dieser »man« war Herbert Winter, und die glückliche Siegerin hieß Helga Martin. Gerade eine der Martinsgänse – es war empörend!

Auch in der Natur gab es Wettkämpfe. Sturm und Sonne rückten gegeneinander ins Feld. Und auch hier blieb das weibliche Element Siegerin. Die Sonne behauptete sich – es wurde Frühling.

Starker Eisgang setzte auf der Saale ein, Überschwemmungen im Gefolge. Wieder wandte man sich an die Hilfe der Jugend. Studenten und Gymnasiasten traten als technische Nothilfe an, halfen Dämme bauen, Ufer befestigen und die gefährdeten Häuser räumen. Die Mädel hatten dagegen die Aufgabe, die Obdachlosen in Heimen und Familien unterzubringen und für das Notwendigste Sorge zu tragen.

Suse, noch etwas blaß von der überstandenen Grippe, wollte nichts davon hören, sich zu schonen. Sie war eine der eifrigsten am Werk der Nächstenliebe. Sie überwand ihre Schüchternheit und Zurückhaltung und ging in Gemeinschaft mit Inge und Helga in die Häuser mit einer Sammelliste für die armen Geschädigten. Nicht nur Geld wurde gebraucht, auch entbehrlicher Hausrat und alle Arten von Kleidungsstücken wurden mit Dank entgegengenommen. Tür und Herzen öffneten sich den liebreizenden Professorentöchtern, die so warm für die Not anderer eintraten. Unter den obdachlos Gewordenen befand sich auch Frau Schiller mit ihrer Tochter Tinchen und dem kleinen, fünfjährigen Otto. Die Heime waren alle überfüllt. Man wußte nicht mehr, wohin mit allen. Kurz entschlossen nahm Suse die arme Witwe mit ihren Kindern mit zu sich hinauf ins Sternenhaus. Das Fremdenzimmer stand leer. Und Frau Schiller kam ja stets zur großen Wäsche zu ihnen.

Nun, der Wahrheit die Ehre: allzu begeistert schien Frau Professor Winter im ersten Augenblick nicht von der unvorhergesehenen Einquartierung. Sie waren alle noch von der Grippe etwas angegriffen, besonders die Großmama. Sie brauchten Ruhe. Und nun brachte Suse mit einem Male eine ganze Familie ins Haus geschleppt. Wenigstens fragen hätte sie doch können.

»Dazu war keine Zeit, Mutti. Wo sollten Schillers denn inzwischen hin?« verteidigte sich die junge Menschenfreundin. »Und Inge und Helga haben auch zwei überschwemmte Kinder mit nach Haus genommen.« Die Großmama trat, trotzdem mit den Gästen Unruhe ins Haus gezogen, für ihren Liebling ein. »Unser Suschen hat ihrem warmen, mitleidigen Herzen nach das Richtige getan.«

Frau Professor Winter dachte selbst zu human, um nicht nach dem ersten Schreck werktätig für die Obdachlosen zu sorgen. Auch ihr Mann erklärte sich nachträglich mit dem Logierbesuch einverstanden, nur brachte er sein gehütetes Fernrohr vor etwaigen neugierigen Kinderhänden in Sicherheit. Herbert allerdings war entrüstet, daß gerade Tinchen bei ihnen Aufnahme gefunden hatte.

»Schließt bloß alles zu«, sagte er. »Wenn sie Tennisbälle maust, nimmt sie auch anderes.«

»Pfui, Herbert, wie kannst du das arme Tinchen nur so verdächtigen«, nahm sich Suse entrüstet ihres Schützlings an. »Tinchen gibt sich solche Mühe, bei uns manierlich zu sein.«

»Na, Bubi kann sie auch nicht ausstehen. Er blafft sie an, wo er sie trifft. Der Köter hat eine gute Witterung. Paß auf, an deinem Tinchen erleben wir noch was«, prophezeite der Bruder.

Mausen tat Tinchen nicht mehr, nur naschen; dies allerdings besorgte sie gründlich. Nichts war sicher vor ihr. Die Marmeladendose, das Glas Honig, die Zuckerschale, ja selbst die Butter zeigte Spuren von Tinchens schwärzlichen Fingern. Emma war unglücklich. Denn Tinchen unternahm, trotzdem man die Vorratskammer unter Verschluß hielt, durch das Fenster beinahe täglich kleine Beutezüge. Professors bekamen in ihrer sauberen Häuslichkeit einen Widerwillen vor dem Essen. Das war Tinchens Verdienst. Da war der kleine Otto doch entschieden harmloser. Der hatte es nur auf die Tiere des Sternenhauses, nicht auf die Menschen abgesehen. Er trank der Piccola die Milch aus dem Schüsselchen und wagte sich auch an Bubis Futternapf heran. Aber Bubi behauptete sein Recht. Ottchen entwich schreiend und klagte, Bubi habe ihn gebissen. Selbst das Schnitzchen Apfel, das Suse ihrem Mätzchen täglich zwischen die Gitterstäbe des Bauers schob, machte Ottchen dem Vögelchen streitig.

»Die Kinder sind ausgehungert nach dem schlimmen Winter. Sie werden ja bei uns bald satt werden, dann geben sich diese schlechten Eigenschaften, Fränzchen«, begütigte die Großmama, wenn ihr die Schwiegertochter ihr Leid klagte. Aber Tinchen und Ottchen wurden nicht satt, so hoch man ihnen auch ihren Teller auffüllte.

Eines Tages geschah ein Wunder: Tinchen ließ ihr Essen stehen. Sie klagte über heftige Leibschmerzen und erbrach sich.

»Kein Wunder, daß sie sich verfressen hat, wenn sie überall herumnascht«, meinte Herbert mit Gemütsruhe zu der Schwester, die das arme Tinchen bedauerte.

Frau Professor Winter war weniger ruhig als ihr Sohn, ja sogar als Tinchens Mutter. Letztere meinte achselzuckend: »Ach was, Unkraut vergeht nicht. So 'n bißchen Bauchweh, das is bald wieder gut.«

Es wurde aber nicht bald wieder gut, sondern es wurde immer schlimmer. Ein starker Brechdurchfall setzte ein.

»Ich möchte doch den Arzt kommen lassen«, meinte Frau Professor besorgt zu ihrem Manne. »Das Kind ist ja ganz elend und krümmt sich vor Schmerzen. Es wird doch nicht etwa die Ruhr sein?«

»Warum nicht gar! Du siehst immer gleich Gespenster, Fränzchen.« Der Professor eilte davon in die Hauptstation für Erdbebenforschung. Der Seismograph, der empfindliche Apparat, der die leisesten Schwankungen bei Erdbeben anzeigt und verzeichnet, hatte Fernbeben aus der Mittelmeergegend gemeldet. Sekundenlange Erdstöße gab der Seismograph an, einige vierzig waren bereits gezählt. Der Professor kam nicht zum Abendbrot heim. Er blieb die ganze Nacht im Institut zur Beobachtung. Die Aufregung dort war groß. Auch Paul Liedtke, der dem Professor Winter öfters im Institut assistierte, hatte sich eingefunden und hielt in höchster Spannung die ganze Nacht über dort aus. In der Gegend von Korinth mußten sich, den Schwankungen der magnetischen Nadel zufolge, schwere Erdbeben abspielen.

Im Sternenhaus war die Aufregung nicht geringer. Der Arzt, den Frau Professor für Tinchen hatte kommen lassen, stand vor einem Rätsel. Er konnte es Frau Professor Winter nicht verschweigen, daß die Sache einen ernsten Eindruck machte. Für Typhus sei das Fieber nicht hoch genug. Aber die Heftigkeit der Erkrankung wäre verdächtig. Man müsse Untersuchungen im bakteriologischen Institut machen lassen und die Krankheit als ruhr- oder choleraverdächtig dem Kreisarzt melden.

»Um Gottes willen – wie ist das denn möglich, Herr Doktor? Sind derartige Krankheitsfälle hier in Jena vorgekommen?« Frau Professor Winter befand sich in begreiflicher Aufregung. »Wir müssen das Kind so schnell wie möglich in ein Krankenhaus überführen, in eine Beobachtungsstation. Es kann uns ja alle hier anstecken.«

»Wenn die bakteriologische Untersuchung tatsächlich Cholera ergibt, so muß Ihre ganze Familie, alle Hausbewohner in eine Isolierstation zur Beobachtung. Hoffen wir, daß es sich nicht als so schlimm erweist.« Der Arzt gab seine Anordnungen und ging.

Da hatten sie sich ja was Nettes mit ihrer Einquartierung eingebrockt. Und gerade heute war ihr Mann nicht daheim. Den Kindern sagte die Mutter nichts von dem Verdacht des Arztes. Sie quartierte sie im Parterregeschoß ein und verbot ihnen das Betreten des oberen Stockwerkes, da man noch nicht wisse, was es sei. Voller Argwohn beobachtete sie ihre Zwillinge beim Abendessen. Hatten sie auch noch keine Bazillen in sich? Aber die speisten mit dem größten Appetit.

Am Abend beim Schlafengehen suchte die Großmama vergeblich eine Schachtel mit Laxinkonfekt, die auf ihrem Nachttisch zu stehen pflegte, und die noch ganz voll gewesen sein sollte. Die Schachtel war nicht zu finden. Emma behauptete, sie noch gestern beim Aufräumen des Schlafzimmers gesehen zu haben. Man suchte und suchte. Die rotbedruckte Blechschachtel mit der Aufschrift »Laxinkonfekt« fand sich nicht.

»Am Ende hat Tinchen sie wieder gemaust«, meinte Herbert mit der Findigkeit eines Polizeihundes.

»Tinchen?« riefen sie alle wie aus einem Munde.

Tinchen – ja, das war ein Gedanke. Sollte daher etwa ihre Ruhr oder gar die Cholera kommen? Frau Professor eilte in das obere Stockwerk. Sie vergaß alle Vorsicht.

Tinchen lag im Bett, blaß, elend und jämmerlich. »Nun, Tinchen, wie geht es dir?« begann Frau Professor Winter.

»Schlecht, eklig schlecht. Ach, liebe Frau Professern, muß ich sterben? Ujeh – ujeh! Mutter sagt, von ihrer Kusine die Stiefschwester wäre daran gestorben – ujeh!« Aufgeregt brach das Kind in Tränen aus.

»Aber Frau Schiller, wie konnten Sie Tinchen nur so etwas erzählen«, wandte sich Frau Professor kopfschüttelnd an die unverständige Mutter. »Du wirst sicher bald wieder gesund werden, Kind. Nur ist es dazu nötig, daß man weiß, woher deine Krankheit kommt. Sag mal, Tinchen, hast du vielleicht eine kleine Blechschachtel mit Laxinkonfekt gesehen? Sie stand auf dem Nachttisch der Großmama.«

»Nä«, sagte die kleine Kranke und rollte sich gegen die Wand.

»Überlege noch einmal ganz genau, Tinchen. Vielleicht hast du von dem Laxinkonfekt gegessen. Du kannst es mir ruhig sagen. Im Gegenteil, es wäre mir eine Beruhigung, wenn deine Krankheit dadurch verursacht wäre«, drang Frau Professor in das Kind.

Aber Tinchen blieb dabei: »Nä, ich habe ihr überhaupt nich gesähn.«

Schwindelte Tinchen oder sprach sie die Wahrheit? Es war nicht aus ihr klug zu werden. Jedenfalls desinfizierte sich Frau Professor mit aller Vorsicht, bevor sie wieder zu ihrer Familie zurückging.

»Natürlich schwindelt die Kröte, sie maust und lügt!« sagte Herbert aufgebracht, als er von Tinchens Aussage hörte.

»Herbert, man soll keinen beschuldigen, wenn man keine Beweise hat«, besänftigte Suse ihren Zwilling. »Denk mal, was du dir für Vorwürfe machen würdest, wenn Tinchen sterben muß.« Der weichherzigen Suse traten die Tränen in die Augen. Sie beweinte Tinchen schon im voraus.

»Unkraut vergeht nicht, hat ihre Mutter selbst gesagt«, brummte Herbert.

Der Abend war recht ungemütlich in dem sonst so gemütlichen Sternenhaus. Der Vater fehlte, das Laxinkonfekt fehlte, und Tinchen verbrachte den größten Teil der Nacht nicht im Bett, sondern an einem andern Ort. Sterbensübel war ihr.

Am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe kam Paul ins Sternenhaus. Herr Professor hätte ihn geschickt, um mitzuteilen, er fahre um zwölf Uhr nach Griechenland. Die Hauptstation für Erdbebenforschung hätte ihn in das vulkanische Gebiet nach Korinth zu wissenschaftlichen Forschungszwecken entsandt. Frau Professor möchte ihm alles für eine schnelle Reise in einem Handkoffer zusammenpacken.

Frau Professor Winter war im allgemeinen eine ruhige Frau. Aber diese Nachricht, daß ihr Mann sich in das Gebiet des Erdbebens begeben wollte, erschreckte sie heftig. Noch dazu nach den Aufregungen, die man gerade mit Tinchen hatte. War denn kein anderer da, nach Griechenland zu fahren?

Paul beruhigte die erregte Frau, so gut er es vermochte. Der Herr Professor fahre ja vorläufig nur nach Athen, um dann mit dem Direktor des dortigen seismographischen Institutes die Erdbebenzone zu bereisen. Bis er hinkäme, hätte es sicher keine Gefahr mehr. Paul blickte übernächtigt drein. Er mußte mit den Zwillingen, die sich zur Schule rüsteten, frühstücken.

Herbert war ganz aus dem Häuschen über die plötzliche Reise des Vaters. Für sein Leben gern wäre er mitgefahren.

»Wir haben mal in Neapel ein Erdbeben durchgemacht. Weißt du noch, Suse? Knorke war's!«

Suse sah blaß aus. Wie die Mutter bangte auch sie um den Vater, der sich in das gefährliche Land begeben wollte.

»Furchtbar war das Erdbeben in Neapel. Damals hast du es gar nicht knorke gefunden, Herbert.«

»Du brauchst dich nicht zu sorgen, Suschen«, beruhigte Paul das junge Mädchen. »Dein Vater wird sich nicht in Gefahr begeben. Er denkt doch an seine Familie.«

»Vater hat mal gesagt, wenn die Erde irgendwo vulkanisch ist, kann es überall zum Ausbruch kommen. Man ist nirgends davor sicher.« Herbert konnte die Ereignisse nicht aufregend genug haben. »Mutti, können wir heute nicht die Schule schwänzen, wenn der Vater fort fährt? Wir müssen doch noch Abschied von ihm nehmen. Wer weiß, ob wir ihn überhaupt wiedersehen.« Herbert brachte nun erst den Frieden.

Suse brach denn auch pflichtschuldigst in Tränen aus.

»Heulsuse! Vorläufig lebt Vater doch noch!«

»Macht mal beide, daß ihr in die Schule kommt, Kinder. Ich werde den Vater von euch grüßen.« Die Mutter brauchte Ruhe, um alles Notwendige zu erledigen.

Da ging das Telephon.

Dr. Rotter, der Hausarzt, meldete sich. Das bakteriologische Untersuchungsamt könne noch nichts Positives feststellen. Aber der Kreisarzt, dem er Meldung von dem Fall habe machen müssen, hätte angeordnet, daß die Kranke sowohl wie sämtliche Hausbewohner in eine Isolierbaracke zur Beobachtung zu überführen seien. Um zehn Uhr käme der Krankenwagen für den Transport.

»Hurra!« schrie Herbert. »Nun brauchen wir doch nicht in die Schule!«

»Hurra!« rief auch sein Echo Suse. »Nun kann Vater wenigstens nicht reisen. Nun muß er mit zur Beobachtung in die Baracke.«

Frau Professor Winter war zwischen Baum und Borke. Die Übersiedelung der ganzen Familie in die Isolierbaracke beunruhigte sie natürlich nicht wenig. So mußte doch immer noch ein Verdacht für Ruhr oder Cholera bestehen, wenn man auch die Hausbewohner als gefährliche Bazillenverbreiter in einer Beobachtungsabteilung des Krankenhauses unterbrachte, wo sie nicht mit andern zusammenkamen. Aber andererseits fiel ihr ein Stein vom Herzen. Ihr Mann konnte nicht reisen. Er mußte mit zur Beobachtung. Dann schon lieber mit ihm zusammen in einer Einzelbaracke, als ihn in der Ferne den Gefahren eines Erdbebens ausgesetzt zu wissen. Sie riß den Telephonhörer empor, um ihrem Mann sofort das Notwendige mitzuteilen.

Professor Winter war wie vom Donner gerührt. »Ist ja ausgeschlossen; wie sollte das Kind zu solch einer bösartigen Krankheit kommen? Forscht lieber nach, was sie gegessen hat. Ich muß auf alle Fälle fahren.« Er hatte bereits wieder angehängt.

Nun hieß es alle Hände rühren. Die Großmama war schon durch die Enkel von der Übersiedelung in eine Beobachtungsstation und von der plötzlichen Reise ihres Sohnes nach Athen in Kenntnis gesetzt worden. Die alte Dame blieb merkwürdig ruhig dabei. »Wir müssen es abwarten, Fränzchen, alle Aufregung nützt nichts. Was man nicht ändern kann, muß man gelassen hinnehmen«, sagte sie mit der Abgeklärtheit des Alters.

»Und Paul, Mutter – wenn meinem Mann nun etwas dort in Griechenland zustößt?« seufzte die Schwiegertochter besorgt.

»Unser Paul steht hier wie dort in Gottes Hand«, war die schlichte Antwort.

Die Ruhe der alten Frau gab auch Frau Professor Winter ihr sonstiges Gleichgewicht zurück. Sie dachte wieder an das Notwendige. Zuerst den Koffer für ihren Mann herrichten, dann für jeden von ihnen das Nötigste zusammengepackt.

Herbert war schon eifrig am Werk. Er gedachte nicht mehr des Verbotes, das obere Stockwert nicht zu betreten. Eifrig ordnete er seine zoologische Sammlung. »Bubi und Piccola sind bereits reisefertig, Mutti. Die sind sicher auch Bazillenträger. Ob Suses Mätzchen und meine Salamander und die Kaulquabben auch mit zur Beobachtung übersiedeln müssen?« Er betrachtete die Angelegenheit als eine vergnügliche Familienlandpartie.

»Junge, für unwichtige Fragen habe ich jetzt wirklich keine Zeit.« Die Mutter eilte weiter, Frau Schiller und vor allem Tinchen, die schuldige Veranlassung zu all der Aufregung, von der Übersiedelung in Kenntnis zu setzen.

Frau Schiller nahm die Nachricht jammernd auf: »Ich hab's ja gleich gesagt, die Tine muß dran glauben. Sehen Sie doch bloß, wie elend das Wurm geworden ist. Wenn sie erst ins Krankenhaus muß, dann kommt sie auch nicht läbendig wieder 'raus. Ach Jemersch, is das schrecklich, nu hatt' ich sie schon bald groß!« Frau Schiller brach in Tränen aus.

Und im Bett fiel Tinchen, die in der Tat recht elend aussah, jämmerlich ein: »Ujeh – ujeh – nu muß ich sterben.«

Als Ottchen die Mutter und Schwester weinen sah, stimmte er natürlich in das Konzert mit lautem Geschrei ein. Es war ohrenzerreißend.

»Beruhigen Sie sich doch, Frau Schiller. Tinchen, Ottchen, hört bloß mit dem Geheule auf. Halten Sie sich bereit, in einer halben Stunde kommt der Wagen.«

»Ujeh – ujeh – jetzt kommt schon der Leichenwagen«, schluchzte die kleine Kranke in ihr Kissen. Frau Professor flüchtete zur Tür.

Da fiel ihr Blick auf Ottchen. Er spielte mit einer kleinen Blechschachtel, die einen roten Deckel hatte.

Jäh hemmte Frau Professor Winter den Schritt. Sie riß dem verdutzten Kinde die Schachtel aus der Hand. »Laxinkonfekt, bestes Abführmittel« stand darauf zu lesen. Die Schachtel war leer.

»Das ist ja die Schachtel, die wir gestern gesucht haben, Frau Schiller. Wie kommt der Junge dazu?« forschte Frau Winter erregt.

»Nu, er hat sie gefunden, er tut ja bloß ein bißchen damit spielen, der Otto. Die Schachtel war ja leer«, entschuldigte die Mutter den Kleinen.

»Tinchen, du hast das Konfekt aus der Schachtel gegessen. Ich weiß es genau. Die Schachtel war voll. Sage jetzt die Wahrheit!« verlangte Frau Professor Winter.

»Nu jä – so 'ne kleine Schachtel mit Bonbons, das is doch nicht so gefährlich, wenn ich die nu schon gegessen hab««, räumte Tinchen ein. Wozu sollte sie jetzt noch weiter schwindeln, wenn sie ja doch sterben mußte.

»Dann ist ja alles gut!« rief Frau Professor erleichtert. Und plötzlich brach sie in lautes Lachen aus. Das war also die »Cholera« von Tinchen – kein Wunder, wenn sie eine ganze Schachtel von dem Abführmittel genascht hatte. Und deshalb sollten sie alle in eine Beobachtungsbaracke.

Wieder wurde das Telephon in Bewegung gesetzt. Diesmal galt es dem Hausarzt, um ihm die notwendige Aufklärung zu geben. Der lachte ebenfalls herzlich über Tinchens Cholera und versprach, Krankenwagen und Isolierbaracke wieder rückgängig zu machen.

Der einzige Unglückliche war Herbert. Er hatte sich schon auf die Übersiedelung in die Beobachtungsstation gefreut. Nur die Schule hatte er glücklich geschwänzt und konnte dem Vater wenigstens noch das Geleit zum Bahnhof geben.

Der Professor beruhigte seine Frau, daß seine wissenschaftlichen Forschungen in Griechenland ganz und gar nicht gefährlich seien. Dann fuhr er davon.

Am nächsten Tage war Tinchen wieder gesund, wenn auch noch recht matt und elend. Die naschte sobald nicht mehr. Noch in derselben Woche konnte Frau Schiller mit ihren Kindern in das Häuschen an der Saale heimkehren.

Aus Griechenland aber kamen Schreckensnachrichten: Halb Korinth war zerstört. Die Häuser lagen in Trümmern, zahlreiche Tote und Verwundete hatte das Erdbeben zum Opfer gefordert. Auch im Sternenhaus bebte man um den Vater.

Als Suses Rosen zu blühen begannen, kehrte Professor Winter erst von seiner wissenschaftlichen Expedition heim.


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