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11. Kapitel. Elefantenjagd.

Rote und grüne Anschlagzettel klebten allenthalben an den Mauern und öffentlichen Gebäuden Jenas. Die Schuljugend stand in lebhafter Aufregung davor und studierte die Ankündigungen. Der Zirkus Colleoni kam nach Jena und kündigte seine Vorstellungen an. Feuerfresser, Trapezkünstler, Seiltänzer, Kunstreiterinnen, Boxer, dressierte Pudel und Elefanten verkündeten die Zettel. Herrlich! Da gab es etwas für die schaulustigen Buben und Mädel zu sehen. Bei Professor Martin erschien nach der Literaturstunde eine Klassenabordnung von drei Untersekundanerinnen – Suse Winter natürlich dabei – und bat, daß er die Abgabe des häuslichen Aufsatzes um acht Tage verschieben möge, damit man die Zirkusfreuden recht auskosten könnte. Professor Martin hatte Verständnis für die Wünsche der Jugend und bewilligte lächelnd den Aufschub. Hurra!

»Mich interessieren eigentlich nur die Boxer, allenfalls noch die dressierten Elefanten«, meinte Herbert mittags bei Tische.

»Aber der Pudel, Herbert, der Pudel, der genau ausrechnen kann, wie alt man ist«, rief Suse, »das ist doch fabelhaft.« Mathematik war Suses schwache Seite, daher imponierten ihr die angekündigten Rechenkünste des Pudels besonders. »Omama, du mußt mit in den Zirkus gehen, dann wollen wir mal sehen, ob der Pudel bis dreiundsiebzig rechnen kann, ob er herausbekommt, wie alt du bist«, schlug Suse vor.

»Ja, dann werde ich freilich mit hinmüssen«, lachte die Omama.

»Und Emma muß auch mit, die hat noch nie Clowns gesehen, die sind zum Totlachen mit ihrem spitzen Hütchen und den drolligen Späßen.« Suse war ganz aufgeregt.

»Heute nachmittag kommen sie mit dem Vieruhrzug am Saalebahnhof an. Wir sind natürlich an der Bahn, Krause und ich, um beim Ausladen zuzugucken. Kommst du mit, Suse? Oder hast du dich mit deinen Martinsgänsen verabredet?«

»Helga und Inge sind auch am Bahnhof, überhaupt unsere ganze Klasse wird wohl da sein«, erzählte Suse. »Geht ihr auch hin?« wandte sie sich an die Eltern.

»Freilich, ich lasse meinen Vortrag im Planetarium um vier Uhr ausfallen, um die Zirkuskünstler feierlich von der Bahn einzuholen«, lachte der Professor das Töchterchen aus.

»Die Boxer und Seiltänzer sind bestimmt interessanter als der langweilige Sirius, den du da zeigst, Vater«, behauptete Herbert.

Der Vater lachte. Er hatte sich schon damit abgefunden, daß sein Sohn nun mal für den Gang der Gestirne, die er selbst nächtelang beobachtete, kein besonderes Interesse aufbrachte.

»Und du, Mutti?« erkundigte sich Suse. »Du gehst doch nicht ins Planetarium, du kannst doch mitkommen.« Suse war, so groß sie auch schon war, noch immer ein Mutterkind. Am gemütlichsten war es ihr, wenn Mutti dabei war.

»Ich habe mich mit Frau Professor Martin und mehreren andern Kollegenfrauen heute nachmittag auf dem Fuchsturm zum Kaffeetrinken verabredet«, erwiderte die Mutter. »Ich wollte euch im Gegenteil auffordern, ob ihr Lust habt, mitzukommen. Es ist heute ein herrlicher Sommertag.«

»Nee«, machte Herbert und schüttelte sich, »da sind mir zuviel Weiber.«

»Aber Herbert, was ist das für eine ungehörige Bezeichnung für die Damen«, rügte der Vater.

»Ja, die Flegeljahre«, nickte Suse mit drollig sorgenvoller Miene, »wie lange sollen die noch dauern?« So pflegte die Mutter oft zu seufzen. »Wenn es nicht zu spät wird, Mutti, können wir ja noch nach dem Fuchsturm nachkommen, Inge, Helga und ich«, beeilte sie sich hinzuzufügen. Wenn Suse sich auch manchmal etwas rangenhaft zeigte, sie bemühte sich immer, es gleich wieder gutzumachen.

»Schön, Kind, bis sechs Uhr sind wir dort«, stimmte die Mutter zu.

»Und ich bleibe im Garten bei unsern lieben Rosen. Mich kann an diesem heißen Tage weder der Kaffee auf dem Fuchsturm noch die Seiltänzer und ihre Elefanten locken«, schloß die Großmama die Unterhaltung.

Auf dem Saalebahnhof hatte sich eine schaulustige Menge eingefunden. Schulbuben und Mädel, Studenten und Bürgerfamilien, die ihren Nachmittagsspaziergang zum Bahnhof verlegt hatten. Denn ein Zirkus kam nicht alle Tage nach Jena, noch dazu mit Elefanten.

Die Untersekunda des Mädchengymnasiums war fast vollzählig. Auch die Gymnasiasten des Carola Alexandrinum reckten in Scharen die Hälse, als der Zug einfuhr. Bubi, der sich ebenfalls zum Empfang mit eingefunden hatte, blaffte ihm einen fröhlichen Willkommensgruß entgegen.

Zuerst gab es nichts Besonderes zu sehen. Reisende von alltäglichem Aussehen entstiegen den Abteilen. Suse, die geglaubt hatte, daß die Zirkuskünstler in ihren Theaterkostümen eintreffen würden, war enttäuscht. Die sahen ja aus wie alle andern gewöhnlichen Menschen. Die Damen trugen einfache Kostüme oder Reisemäntel – und das wollten Zirkusprinzessinnen sein! Nicht mal die Clowns waren herauszuerkennen. Soviel die Mädel auch mutmaßten, die dem Zuge entsteigenden Herren sahen alle ernst und würdig aus. Suse konnte sich keinen von ihnen im spitzen Hütchen als Spaßmacher vorstellen.

»Du, Inge, ich glaube, das sind gar nicht die Zirkusleute. Die Herren sehen aus wie Universitätsprofessoren«, wandte sich Suse an die Freundinnen.

»Quatsch – natürlich sind sie's. Die tragen doch ihr Schild nicht an der Nase«, mischte sich der unweit stehende Herbert hinein. »Der da, der Dicke mit der Glatze, der so doll schwitzt, das ist sicher der Direktor, Herr Colleoni. Er dirigiert die andern alle. Du, Krause, ob das die Boxer sind? Die scheinen Muskeln zu haben.« Sachkundig musterte Herbert die Ankommenden.

»Sag' mal, Herbert, wo ist denn der Pudel, der so gut rechnen kann?« fragte Suse aufgeregt, den Kopf nach allen Seiten drehend. Herbert wußte ja immer alles besser. Folglich mußte er auch das wissen.

»Na, dort – du Nashorn! Hast du denn keine Augen im Kopf? Die schwarze Hundetöle, die hinter dem Dicken immer herläuft.«

»Der – das ist ja ein ganz gewöhnlicher Pudel, und der soll so gut rechnen können?« Mißtrauisch betrachtete ihn Suse. Auch Bubi folgte dem fremden Köter mit mißtrauischen Blicken. Plötzlich schoß er von der Seite seines jungen Herrn davon, um dem fremden Ankömmling sein höfliches Schwanzwedeln zu entbieten. Denn Bubi wußte, was sich gehörte.

»Vielleicht lernt er von dem Pudel rechnen«, beruhigte Suse ihren Zwilling, der Bubi durch befehlende Pfiffe zurückzurufen versuchte.

»Dir täte es nötiger!« Gemein von Herbert, sie so vor den Schulkameradinnen bloßzustellen.

Aber es blieb keine Zeit, sich darüber zu grämen. Ein Ruck ging durch die Schaulustigen – »die Elefanten – jetzt werden die Elefanten ausgeladen.«

Herbert und Krause waren bereits an dem letzten Waggon, der die grauen Dickhäuter barg. Auch die Mädel drängten hinterdrein. Suse kam gerade zurecht, um zu sehen, daß der kastenartige Waggon geöffnet und eine schräge Brücke niedergelassen wurde. Ein langer, grauer Rüssel bohrte sich als erstes in die heiße Sommerluft; dicke, graue Säulenbeine stampften dröhnend über die Brücke; und da stand das gewaltige Ungetüm wie ein Geschöpf aus Urzeiten auf dem Bahnsteig der alten Universitätsstadt. Das war Murphi, der angekündigte Elefant. Zwei kaum kleinere Ungetüme folgten ihm, Ali und Toni, seine Kinder, wie die grünen und roten Anschlagzettel besagten.

»Sicher Zwillinge wie wir«, flüsterte Suse den Martinschen Schwestern zu. »Man kann sie kaum voneinander unterscheiden.«

Jubelndes »Hurra!« empfing die grauen Riesen, die jetzt, von ihren Wärtern an Stricken geführt, durch die Zuschauerreihe trabten. Bunte Studenten- und Gymnasiastenmützen wurden übermütig in der Luft als Willkommensgruß ihnen entgegengeschwenkt.

»Hoch Murphi, hoch Ali und Toni!« schrie die Jugend.

Vergeblich versuchten die Wärter mit ihren Tieren der lärmenden Menge zu entgehen, denn die Elefanten wurden unruhig. Die Jugend ließ sich nicht verscheuchen. Sie gab den Dickhäutern das Ehrengeleit durch die Stadt. Der Zirkus war jenseits derselben draußen auf den Wiesen errichtet. Bubi, der mit dem schwarzen Zirkuspudel bereits Freundschaft geschlossen hatte, umkreiste die Riesentiere mit feindseligem Gebell. Er hatte in seinem zehnjährigen Leben noch niemals solche gewaltigen Viecher zu sehen bekommen, die den Schwanz vorn am Kopf hatten, anstatt hinten wie jeder normale Vierfüßler. Diese Tatsache, denn vom Rüssel hatte Bubi noch nie etwas gehört, regte ihn sehr auf.

»Von den Biestern soll das Elfenbein kommen; das glaub' ich nich«, sagte eine bekannte Stimme neben Suse. »Die Beine sehen nich nach Elfenbeine aus.« Es war Tinchen Schiller, die nirgends fehlen durfte, wo irgend etwas los war. Sie versuchte wieder mit Suse, die sie wegen des gemausten Tennisballs nicht mehr ansah, gut Freund zu werden.

»Aber Menschenskind, von den Elefantenbeinen kommt doch nicht das Elfenbein, sondern von den langen Stoßzähnen, siehst du, die dem Elefanten aus dem Maule heraushängen«, belehrte sie denn auch Suse eifrig. Himmel, war Tinchen Schiller dämlich. Und da hatte sie mal gedacht, sie sei eine Enkelin von dem Dichter Schiller.

Murphi und seine beiden grauen Kinder, die bisher wohlerzogen neben ihren Wärtern einhergestampft waren, wurden plötzlich rebellisch. Ob das laute Rufen und Johlen der sie geleitenden Jenaer Jugend die Dickhäuter aus ihrer Dickfelligkeit aufstachelte, ob das feindliche Gebell des sie umkreisenden Bubis schuld war oder der Klaps, den Herbert, dreist wie immer, Ali im Vorbeikommen freundschaftlich versetzte, wußte keiner zu sagen. Denn in einer Sekunde war es geschehen – ganz plötzlich – die Elefanten hatten sich von ihren Wärtern losgerissen – sie setzten sich in Trab und versuchten, auf eigene Faust Jena kennenzulernen.

»Die Elefanten sind wild geworden – barmherziger Himmel, sie werden uns niederstampfen« – lautes Schreien, Kreischen, Weinen und Rufen. Voller Entsetzen stob die Menge nach allen Seiten auseinander. Schreiende Kinder wurden von der Hand der Mutter gerissen, in wilder Flucht überrannte einer den andern. Und dazwischen der dicke Herr Direktor, Schweißtropfen auf seiner Glatze, rufend und gestikulierend: »Haltet sie – haltet sie!« Indessen stampften die grauen Ungeheuer geradeswegs dem Marktplatz zu, auf dem unter blühenden Linden singende Studenten beim Dämmerschoppen saßen. Mit ihren langen Rüsseln stießen die Tiere Gläser, Flaschen, Tische und Stühle um und jagten den harmlos Zechenden keinen geringen Schreck ein. Um den Bismarckbrunnen ging die wilde Jagd, der sich die aus ihrer Ruhe aufgescheuchten Musensöhne anschlossen. Die Wärter, sämtliche Zirkuskünstler und Kunstreiterinnen, biedere Bürgersleute, Studenten und Schuljugend, alles beteiligte sich am Wiedereinfangen der Elefanten. Zu Tausenden wuchs die Menge an.

»Herbert – Herbert – – –!« Suses angstvolle Stimme bemühte sich vergebens, den tollkühnen Bruder von der Verfolgung der Elefanten zurückzuhalten. Ihr Stimmchen ging unter in dem allgemeinen Geschrei. Die Untersekunda des Carola Alexandrinum war vorweg bei dem aufregenden Abenteuer, allen voran Herbert. Umsonst versuchten die Wärter, den Elefanten den Weg abzuschneiden. Die grauen Kolosse stampften nieder, was sich ihnen in den Weg warf. Hier klirrte ein Schaufenster, durch das Murphi den Rüssel gesteckt hatte. So schnell wie möglich ließen die geängstigten Ladenbesitzer die Rolljalousien vor ihren Geschäften herunter. Indessen trabte Toni voller Selbstbewußtsein, als wäre er der Herr Bürgermeister in höchsteigener Person, in das altersgraue Rathaus, irrte dort durch die Gänge, gewann wieder das Freie und rettete sich vor seinen johlenden Verfolgern aufs neue in ein Haus in der Rathausgasse. Es war kein geringeres als das, in dem Wilhelm von Humboldt, der große Naturforscher, einst gewohnt hatte. Dort gelang es zwei Wärtern, Toni einzufangen, während sein Vater Murphi und sein Bruder Ali weiter durch Jena jagten, Angst und Schrecken um sich verbreitend.

In die Alma mater, die Universität, durch deren Pforten einst Schiller als Universitätsprofessor geschritten, steckte Murphi jetzt seine Nase oder vielmehr seinen Rüssel. Aber die Luft der Gelehrsamkeit, die dort wehte, schien ihm nicht zu behagen. Aus den Hörsälen, wo das laute Hallo der Kolleg hörenden Studentenschaft ihn schnell wieder kehrt machen ließ, zurück in den Hof und durch die Bogengänge des Universitätshofes immer im Kreise herum. Professoren und Studenten nahmen an der aufregenden Jagd des grauen Eindringlings teil. Schließlich gelang es auch Murphi, den Vater, festzunehmen.

Wo aber war Ali geblieben?

Der war der unternehmungslustigste von den dreien. In ein Warenhaus war er eingedrungen, hatte den Besitzer und die kreischenden Verkäuferinnen in die Flucht gejagt, hatte dann in der Stoffabteilung mit seinem Rüssel sämtliche Woll- und Seidenstoffe durchwühlt, im Parfümerielager alle Flaschen und Seifen zu Boden befördert und in der Lebensmittelabteilung Graupen, Erbsen, Reis, Kaffee und Zucker zu einem Ragout durcheinandergemischt. Dann hatte er sich an Schokolade und Äpfeln gelabt und wünschte jetzt wieder, nachdem er in dem Warenhaus das Unterste zu oberst gekehrt hatte, den Ausgang zu gewinnen, um Jena weiter zu besichtigen.

Ja, Kuchen! Er hatte nicht mit der Schlauheit seiner Verfolger gerechnet. Die hatten schleunigst das schwere eiserne Gittertor vor dem Ausgang geschlossen – Ali war gefangen. Vor dem Eisengitter johlte die Menge. Die Schuljugend jubelte: »Ali ist gefangen – Ali kann nicht raus.«

Herbert, fürwitzig wie immer, versuchte den durch die Gitterstäbe seinen Rüssel schiebenden Elefanten noch obendrein mit einem Blätterzweig zu kitzeln und zu reizen. Bubi bellte triumphierend – das Ungetüm, das mit dem Schwanz am Kopf wedelte, war gefangen.

Einen Augenblick stand der graue Koloß, als sei er aus Stein gehauen. Dann plötzlich ein unvermuteter Stoß – gellende Schreie – Ali hatte das schwere, eiserne Gittertor durchbrochen, er jagte die entsetzt auseinanderstiebenden Menschen, anstatt daß sie ihn jagten. Herbert war noch rechtzeitig zur Seite gesprungen, Bubi aber bekam einen Stoß von dem »Schwanz« des ausbrechenden Elefanten, daß ihm das Blaffen verging. Suse, die sich mit Inge im Hintergrunde gehalten hatte, wußte gar nicht, was geschehen. Sie hörte nur plötzlich gellende Angstrufe, sah die Menge zurückrasen, und da kam das graue Ungetüm auch schon auf sie zugestampft. Ganz erstarrt war Suse vor Entsetzen – kein Glied vermochte sie zu bewegen. Da fühlte sie sich zur Seite gerissen, ein Arm fing sie auf – die Sinne schwanden ihr vor Schreck.

Als sie aus kurzer Ohnmacht erwachte, lag sie auf einem harten Kanapee in einem kleinen Zimmer. Über sie beugte sich Inge, die ihr die Stirn mit Wasser netzte, während jemand in einer blauen Arbeiterbluse mit besorgtem Gesicht ihren Puls zählte. Es war Paul, ihr Freund Paul Liedtke. Und dazwischen hörte Suse wie aus der Ferne eine Kinderstimme: »Sie stirbt – das Mädel aus dem Sternenhaus stirbt – ujeh – ujeh – und sie war immer so gut zu mir.«

Erst allmählich unterschied Suse dies alles: Tinchen Schiller, die sie bereits als tot beweinte, Inge, die ihr liebevoll das Haar streichelte und Paul, der beruhigende Worte zu ihr sprach.

»Suschen, mach doch die Augen wieder auf, der Elefant ist ja fort, er kann dir nichts mehr tun.«

Aber statt die Augen zu öffnen, schloß Suse die Braunaugen wieder geängstigt, als fürchte sie, daß der Elefant jeden Augenblick in das Zimmer treten könne.

»Paul hat dir das Leben gerettet, Suse, er hat dich mit eigener Lebensgefahr vor den Füßen des Elefanten fortgerissen«, erzählte Inge.

»Ach, mach doch nicht soviel Wesens davon, Inge«, wehrte Paul bescheiden ab. »Ich kam gerade von der Arbeit, da sah ich, wie der Elefant auf dich los wollte, Suse. Und da es nahe bei meiner Wohnung war, schafften wir dich hier herauf.«

Suse sah sich in dem kleinen Raume um. Richtig, sie war ja in Pauls kleiner, ärmlicher Stube, die sie ihm bei seinem Einzug mit Blumen geschmückt hatte. Herbert hatte dabei geholfen. »Herbert – wo ist Herbert?« Angstvoll fuhr Suse aus dem wohligen Hindämmern wieder empor.

»Mit Helga sicherlich noch immer auf der Elefantenjagd. Die geben doch nicht eher Ruhe, als bis der Elefant eingefangen ist. Was aus uns indessen geworden ist, kümmert sie nicht.« Inge lachte zu ihren Worten. Trotzdem klang ein Körnchen Ernst mit.

Ja, Herbert, ihr Zwilling, kümmerte sich mal wieder nicht um sie, aber Paul – Paul hatte sie gerettet. Sie reichte dem Jungen die Hand. »Ich danke dir vielmals, Paul.«

Der wurde ganz verlegen. »Aber Suse, das war doch ganz selbstverständlich, das hätte doch jeder an meiner Stelle getan.« Mit seiner schwieligen Rechten faßte Paul behutsam die schmale Mädchenhand.

Suse hatte ein paar Schluck Wasser getrunken und fühlte sich nun wieder ganz frisch. Sie konnte vom Sofa aufstehen und freute sich, wie schön die Blumen, die sie Paul aus dem Garten geschenkt hatte, an seinen Fenstern gediehen. Inge bewunderte die vielen Bücher, die Paul auf dem Tisch aufgestapelt hatte. Sie blätterte darin. »Das ist mir zu schwer, dazu bin ich zu dumm«, meinte sie schließlich. Es waren meist Physik- und elektrotechnische Bücher.

Tinchen Schiller wich nicht von Suses Seite. Sie war glücklich, daß Suse wieder lebendig geworden war. »Tuste jetzt wieder mit mir räden?« erkundigte sie sich. Da nickte Suse. Sie konnte Tinchen nicht länger böse sein.

»Ich bringe euch nach Hause«, sagte Paul, als die Mädel Miene machten, zu gehen. »Sonst läßt sich Suse am Ende doch noch von dem Elefantenrüssel aufspießen«, setzte er scherzend hinzu.

»Ob der Elefant jetzt eingefangen ist?« meinte Inge zweifelnd. Ein Gedanke durchfuhr Suse. »Er wird doch nicht – er wird doch nicht ins Sternenhaus gelaufen sein – unsere Omama ist allein zu Hause.« Sie sah die kleine, schwächliche Großmama und das gewaltige Riesentier ganz deutlich vor sich.

»Ach Unsinn, Suschen, das Tier ist längst wieder in festem Gewahrsam«, beruhigte sie Paul.

Nein, dem Sternenhaus hatte Ali nicht seinen Besuch abgestattet. Dennoch hatte der Elefant sein Interesse für die Sternkunde bewiesen. Zuerst war er durch den Spitzbogen des alten Johannistores hindurch den Fürstengraben entlang gestampft. Dann hatte er im Botanischen Garten eine Anzahl kostbarer Pflanzen zertrampelt, hatte die Optikerschule und die Carl-Zeiß-Werke glücklicherweise nicht mit seinem Besuche beehrt, sondern war daran vorbei in den Prinzessinnengarten getrabt. Das Planetarium, der runde Kuppelbau, lockte Alis Neugier.

Professor Winter zeigte seiner Hörerschaft gerade, wie nahe der Sirius im Frühling der Erde sei, daß er mit bloßem Auge sichtbar wäre, als die andächtige Stille durch lauten Tumult unterbrochen wurde. Ein Elefant war durch die Dunkelheit, die nur durch die an die Himmelskuppel mittels eines Projektionsapparates geworfenen Sternbilder erhellt wurde, hineingestampft, geradeswegs auf den großen Zeißapparat los. Professor Winter hörte Kreischen und Schreien: »Ein Elefant – ein Elefant ist hier!« Er glaubte erst, einer der Zuhörer hätte Wahnvorstellungen bekommen, da aber sah er bei dem Glanz des Sirius ein graues Ungetüm sich auf den kostbaren Projektionsapparat zu wälzen – »Licht!« rief er seinem Assistenten zu, »Licht einschalten!« Tageshell flammte plötzlich das Licht auf. Ali blieb geblendet einen Meter vor dem gewaltigen Zeißapparat stehen. Er war so verdutzt von dem jähen Übergang von Finsternis zu strahlender Helle, daß er nicht an weitere Flucht dachte. Die nachfolgenden Wärter konnten ihn mit Leichtigkeit festnehmen und unschädlich machen.

Ali, der sternkundige, der das Planetarium besucht hatte, erfreute sich während seines Aufenthaltes im Zirkus großer Beliebtheit und Volkstümlichkeit unter der Jenaer Bevölkerung. Die Schuljugend hatte stets die Taschen voll Zucker und Näschereien für Ali. Herbert teilte sein Interesse getreulich zwischen ihm und den Boxern. Suse war aber nicht dazu zu bewegen, den Zirkus zu besuchen. Nicht einmal der Pudel, der so glänzend rechnen konnte, vermochte sie umzustimmen. Sie hatte seit der Elefantenjagd unüberwindliche Abneigung und Furcht vor den grauen Ungetümen.


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