Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

6. Kapitel. Der Vogeldieb.

Tagelang war Herbert durch das Spottlachen der Backfische und durch seine zerrissene Hose, die bei der Mutter durchaus kein Lachen auslöste, von »seinem Vogel« geheilt. Aber nach einiger Zeit hatte er das kleine Mißgeschick vergessen. Es ließ ihm keine Ruhe. Er mußte doch sehen, ob die jungen Finken schon aus dem Ei gekrochen waren. Diesmal wurde aber Bubi zu Hause gelassen. Dafür nahm er eine kleine Schachtel mit, die er mit Blättern auslegte, und in die er Luftlöcher bohrte.

»Willst du Maikäfer suchen?« erkundigte sich sein Zwilling neugierig.

»Ja«, brummte er, denn er schwindelte nicht gern.

»Dazu bist du doch schon viel zu groß – ein Untersekundaner, zu dem ›Sie‹ gesagt wird!« zog sie ihn auf.

»Geht dich nichts an.« Er wandte der Schwester den Rücken, ohne sie zum Mitkommen aufzufordern. Aber das war Suse jetzt schon von ihrem Zwilling gewöhnt. Sie waren nicht mehr so unzertrennlich wie in der Kinderzeit.

Nach einiger Mühe war die Buche mit dem eingeritzten H glücklich gefunden. Herbert legte sich wieder unter einen Nebenbaum auf die Lauer und behielt den Wipfel im Auge. Er wußte ja jetzt, wo sich das Nest befand. Er sollte nicht allzulange warten.

In dem maigrünen Buchenwipfel flog es wie in einem Wirtshaus ein und aus. Da – das war der Fink. Mit hellem Gezwitscher schwang er sich in die Lüfte. Ein Echo antwortete, und gleich darauf folgte ihm ein zweiter Fink. Sicher das Weibchen. Wenn sie das Nest verließ, mußten ihre Eier bereits ausgebrütet sein, und die Alten schafften jetzt Nahrung herbei für die junge Brut, überlegte Herbert. Die Gelegenheit war günstig. Es dämmerte bereits.

Ein sichernder Blick in die Runde; denn wenn der Förster ihn erwischte, ging es ihm an den Kragen. Und da schwang sich der lockere Vogel auch schon wieder in die grünen Buchenzweige hinauf. Diesmal hatte Herbert wohlweislich seine ledernen Sporthosen zu der Hochtour angezogen. Wieder scheuchte er die kleinen gefiederten Sänger, die da oben aus voller Kehle ihr Lied schmetterten, aus ihrer Ruhe auf. Behutsam näherte er sich dem Finkennest.

Fünf junge Finklein, winzig klein, scharten sich darin zusammen. Sie sperrten die Schnäbel auf und ließen ein zartes »Piep« hören. Rasch, ehe die Alten zurückkamen – jetzt oder nie!

Ein Griff – da hatte der Schlingel zwei der zuckenden, flaumig weichen Dinger in der Hand. Er barg sie in der dazu mitgebrachten Schachtel und begab sich eiligst auf den Rückzug.

Aber kaum hatte er wieder festen Boden unter sich, da erklang ein jämmerliches Piepsen über ihm. Die Vogelmutter war zurückgekehrt und vermißte zwei ihrer Kleinen.

»Sie hat ja noch drei«, beruhigte Herbert sein Gewissen, das sich bei den schmerzlichen Lauten zu regen begann. Er nahm das Pappgefängnis mit den ängstlich piependen Jungen unter den Arm und machte sich davon, so rasch er nur konnte.

Aber schneller noch, als er laufen konnte, durchschnitt es die Lüfte. Die Finkenmutter verfolgte den Räuber ihrer Kinder mit jammervollem Gepiepse. Bis ins Sternenhaus gab sie ihm das Geleit, ob er sich nicht doch erweichen ließ, ihr die geraubten Kleinen zurückzugeben. Was wußte solche Vogelmutter von den unbarmherzigen Wünschen eines halbwüchsigen Jungen!

Herbert schmiedete großartige Pläne. Eine ganze Vogelhecke wollte er sich in seinem Zimmer anlegen. Die jungen Finklein sollten den Grund dazu legen. Dann konnte er ornithologische Studien machen.

Einen kleinen Holzkäfig, in dem Suses Mätzchen seine Reise aus Berlin nach Jena gemacht, hatte Herbert schon vorher in der Bodenkammer aufgestöbert. Zwei Tuschnäpfchen stellte er mit frischem Wasser hinein. Oh, sie sollten sich schon wohl bei ihm fühlen, die Finkenzwillinge. Er hatte ja Tiere so gern.

Aber als er jetzt die Schachtel öffnete, schienen sich die beiden Gefangenen durchaus nicht darin zu behagen. Die kleinen Dingerchen, die noch kaum Federn hatten, piepten so schwach und elend, daß es einen Stein erbarmen konnte.

Herbert streichelte sie, um sie zu beruhigen, trug sie im Zimmer umher und schaukelte sie, wie eine Kinderfrau weinende Babys beschwichtigt. Aber das Weinen der Vogelkinder wollte nicht aufhören.

Plötzlich hielten sie die Schnäbel. Vom Balkon her war ein beruhigendes Piepsen erklungen – die Kleinen hatten die mütterliche Stimme erkannt. Draußen auf den Blumenkästen zwischen Winden und Kresse saß die Vogelmutter und äugte hinein, ob ihren Jungen auch kein Leids geschah.

»Suse – Suse – komm schnell mal her«, rief Herbert zum Nebenzimmer hinein. »Ich mache hier famose zoologische Studien.«

»Nee«, rief Suse, die gerade einen kleinen Kaktus umpflanzte, »für deine Viecher habe ich nichts übrig.«

»Aber das hier ist wirklich knorke, Suse – ich habe zwei kleine Finken – Zwillinge – dort sitzt die Frau Mama.« Der Junge wies der eintretenden Suse lachend die unausgesetzt zum Fenster hineinpiepende Frau Fink.

Einen Blick warf Suse auf die jungen Finklein im engen Holzverlies, dann hatte sie die Geschichte durchschaut.

»Pfui!« rief sie empört. »Pfui, Herbert, das ist eine Gemeinheit! Du hast die kleinen Vögel der armen Vogelmutter fortgenommen. Gleich trägst du sie wieder zum Nest zurück, aus dem du sie gestohlen hast.« Herbert sah ganz betroffen auf seine Zwillingsschwester, die so energisch ihm etwas befahl, wo er doch zwei Stunden älter war als sie. Na, Suse konnte ja lange reden. Er dachte gar nicht daran. Dazu hatte er sich doch wirklich nicht die Mühe gemacht.

»Ich kann das traurige Piepsen der armen Mutter gar nicht mit anhören.« Suse hielt sich beide Ohren zu. »Herbert, lieber Herbert, gib ihr doch ihre Jungen zurück.« Sie versuchte es jetzt mit Bitten. »Höre nur, wie sie klagt und wie vorwurfsvoll sie dich ansieht.«

»Quatsch mit brauner Butter – sie sieht mich überhaupt nicht an. Sie schielt bloß nach ihren Jungen. Du hast wieder mal sentimentale Anwandlungen, Suse. Wenn meine beiden Buchfinken erst richtig schlagen werden, wirst du dich schon darüber freuen.«

»Ich sage es den Eltern, dann mußt du die Vögel in Freiheit setzen«, drohte die Schwester.

»Tu, was du nicht lassen kannst. Aber du wirst heute wenig Glück damit haben. Vater und Mutter sind bereits ins Konzert gegangen«, lachte sie der Junge aus.

Richtig daran hatte Suse nicht gedacht. Sollte sie sich an die Großmama wenden? Herbert hing sehr an der alten Dame und würde sie sicher nicht betrüben wollen. Aber die Großmama war in letzter Zeit gar nicht recht frisch. Der Arzt hatte ihr große Ruhe vorgeschrieben. Nein, die kleine Omama sollte sich nicht auch noch aufregen.

Als die Zwillinge zu Bette gingen, schliefen auch die beiden kleinen Gefangenen schon. Aber die Finkenmutter schlief nicht. Bis auf die Fensterbrüstung kam sie geflattert und piepste kläglich in die Maiennacht.

Herbert, der sonst bei offenem Fenster zu schlafen pflegte, schlug das Fenster zu. Ekelhaft, das Gepiepse, wer sollte denn dabei einschlafen? Er stopfte sich die Deckbettzipfel in die Ohren. Aber trotzdem fand er keinen Schlummer. Trotz alledem verfolgten ihn die jammervollen Töne vor seinem Fenster. Und als er endlich vor Müdigkeit doch eingeschlafen war, schreckte er plötzlich wieder empor. Der Förster hatte ihn gepackt, gerade als er vom Baume stieg. Er sperrte ihn ins Gefängnis, und draußen am vergitterten Fenster stand seine Mutter und jammerte – ach nein, es war ja die Finkenmutter, die noch immer keine Ruhe gab. Er hatte ja bloß geträumt.

Ob sie sich wirklich ebenso um ihre Kinder grämte wie eine Menschenmutter? Sicherlich, sonst saß sie doch nicht hier die ganze Nacht an seinem Fenster und klagte. Herberts Gewissen erwachte. »Na, einem von den Kleinen werde ich morgen früh die Freiheit schenken, einen werde ich ihr zurückgeben. Aber den andern behalte ich«, überlegte er, und dann schlief er endlich fest ein.

Auch im Nebenzimmer fand jemand keine Ruhe. Jedes »Piep« der jammernden Finkenmutter schnitt Suse ins Herz. Es widerstrebte ihr, ihren Zwilling bei den Eltern zu verklatschen. Sollte sie sich an Paul wenden? Der hatte ein gutes Herz und Einfluß auf Herbert. Aber inzwischen konnte die arme Finkenmutter vor Jammer sterben. Nein, sie mußte selbständig handeln. Suses Entschluß war gefaßt.

Gegen Morgen, als die erste Frühdämmerung durchs Fenster schaute, erhob sich das Mädchen leise. Unhörbar schlich es in das nebenangelegene Zimmer des Bruders. Der schlief jetzt tief und fest.

Behutsam ergriff Suse das Bauer mit den jungen Finken. Wenn sie bloß nicht aufflatterten, die kleinen Dinger. Dann ließ sie bestimmt das Bauer fallen. Glücklich erreichte sie den Balkon.

Aber aus den Windenranken flatterte es ängstlich auf beim Nahen eines Menschenkindes. Beinahe hätte Suse vor Schreck doch noch die jungen Finken fallen lassen. Die Vogelmutter umkreiste aufgeregt das Mädchen. Was für Absichten hatte es mit ihren Kleinen?

Suse stellte das Bauer in das grüne Gerank hinein und öffnete das Türchen. Erwartungsvoll beobachtete sie die Vogelmutter. Die zog immer engere Kreise um das Gefängnis ihrer Kinder. Jetzt hatte sie das offene Türchen entdeckt. Behutsam streckte sie den Kopf hinein und weckte ihre Kleinen mit mütterlichem »Piep«. Dann streichelte sie die beiden liebevoll mit dem Schnabel, und nun flog sie mit hellem Jubellaut auf. Aber alsbald kehrte sie wieder und brachte ihnen ein Insekt zum Morgenfrühstück mit. Wieder erklang ihr »Piep«, freudig und dankbar erschien es Suse.

Warum flogen denn die Kleinen nicht mit der Mutter davon? Himmel, sie konnten wohl noch gar nicht fliegen! Sie waren ja noch so winzig klein, noch gar nicht flügge. Was nun? Da war guter Rat teuer.

Ach, wenn Herbert das Glück der Finkenmutter sehen würde, er müßte davon gerührt werden wie sie selbst. Er konnte nicht so hartherzig sein und – – – Suses Blick streifte die Balkontür, die zu Herberts Zimmer führte. Da preßte sich ein verschlafenes Jungengesicht gegen die Scheibe. Herbert war aufgewacht. Er hatte den Vorgang beobachtet.

»Herbert, lieber Herbert, sieh doch nur, wie rührend sich die Finkenmutter mit ihren Kleinen freut. Sei mir bloß nicht böse, aber ich konnte den Jammer der armen Mutter nicht länger ertragen. Komm, wir ziehen uns an und tragen die Jungen zu ihrem Nest zurück.« Suses braune Augen baten mit ihrem Mund um die Wette.

»Ich hätte sie sowieso zurückgebracht, wer soll denn bei diesem ekelhaften Piepsen schlafen«, brummte Herbert. Er mochte es nicht zugestehen, daß sein Herz ebenfalls von dem Mutterglück des Finkenweibchens gerührt wurde. Daß er ursprünglich eins der Jungen zurückbehalten wollte, hatte er vergessen.

Die Zwillinge zogen sich an, gelangten mit ihrem Vogelpärchen durch die Veranda ins Freie und wanderten der aufgehenden Sonne entgegen. Wieder erklang angstvolles Piepen über ihnen in der Lust. Die Finkenmutter traute dem Frieden noch nicht.

Aber als sie dann in den Saaleanlagen die Buche mit dem eingeschnittenen H erreicht hatten, das Bauer öffneten und die Finkenjungen ins weiche Moos legten, da war die Vogelmutter sogleich zur Stelle. Sie schnäbelte ihre Kleinen und versuchte eins mit dem Schnabel zu fassen, um mit ihm ins Nest zurückzufliegen. Vergebliche Mühe. Das Junge war trotz seiner Winzigkeit zu schwer. Es half nichts, Herbert mußte sich dazu bequemen, zum drittenmal die Klettertour zum Buchenwipfel zu unternehmen. Bald lagen die geraubten, jungen Vögelchen wieder wohlbehalten im elterlichen Nest.

Professors Zwillinge aber machten sich mit frohen Augen auf den Heimweg. Hinter ihnen erklang jubelnder Finkenschlag.


 << zurück weiter >>