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12. Kapitel. Vom Arbeiterlehrling zum Studenten.

In den Zeiß-Werken pfiff es Mittag. Wie mit einem Schlage ruhte die Arbeit. In den Waschräumen drängten sich die Arbeiter. Aus den Toren der gewaltigen Fabrikgebäude fluteten Männer, Frauen und junge Burschen in blauer Arbeitsbluse. Wie in einem Ameisenhaufen wimmelte es plötzlich in den von hohen Glas- und Betonwänden begrenzten Straßen des Werkes.

»Es ist halb zwölf – die Zeißianer machen Mittag«, pflegt man in Jena zu sagen. Der Bürger stellt seine Uhr danach, die Hausfrau setzt die Kartoffeln an das Feuer. Das Zeiß-Werk ist der Uhrpendel der Stadt.

Eine Schar jugendlicher Arbeiter, junge Burschen zwischen fünfzehn und achtzehn Jahren, drängte und stieß sich lachend aus dem Portal. Sie holten sich ihre Fahrräder aus der Abgabe. »Den Liedtke hat der Werkmeister zurückbehalten« – »au weih, da setzt's was« – »schadet ihm gar nichts, solch kalter Wasserstrahl, sonst weiß der doch nicht, ob er auf dem Mars lebt oder auf der Erde« – »der Liedtke ist immer nett und gefällig« – »jawohl, er ist ein guter Kamerad« – »nee, ich kann nu mal solchen Bücherwurm nicht leiden« – »der dünkt sich doch zehnmal mehr, als wir sind« – »ist ja Unsinn, Liedtke ist immer bescheiden« – – – so gingen die Ansichten der Arbeiterlehrlinge hin und her.

Einer von ihnen, Karl Neumann, ein hübscher, frischer Junge, ließ sich auf einer Bank in den Anlagen vor dem Fabrikgebäude nieder. »Ich warte hier auf Liedtke, muß mal hören, was der Alte von ihm wollte.«

»Neugieriges Karnickel!« Damit machten sich die andern davon.

In langen Reihen zog es an dem wartenden jungen Burschen vorüber: Da kamen die Arbeiter und Werkmeister, die Feinmechaniker, die Optiker, Maschinenbauer und Maschinenschlosser. Die Dreher, die Former, die Metallgießer, die Tischler, Zimmerleute und Klempner. Jetzt kamen schon die Elektromonteure und Beamten, die stets die letzten waren. Und immer noch ließ Paul Liedtke auf sich warten. Ob er in der Tat etwas versehen hatte? Er war doch als zuverlässiger Lehrling bekannt.

Endlich tauchte Pauls schmale, hochaufgeschossene Gestalt hinter einigen zu Tisch gehenden Diplom-Ingenieuren auf.

Karl lief auf ihn zu. Pauls blasses Gesicht, das immer Stubenfarbe zeigte, war gerötet. Er sah erregt aus. Sicher war es ihm an den Kragen gegangen.

»Na, was haste ausgefressen?« empfing Karl den Kameraden.

Paul fuhr aus seinen Gedanken empor.

»Nett von dir, daß du auf mich gewartet hast, Neumann.«

»Na ja, ich wollte doch wissen, weshalb dich der Alte gerüffelt hat.«

»Gerüffelt? Ach so!« Paul lachte.

»Scheinst dir ja nicht allzuviel daraus zu machen«, meinte Karl. »Haste was verpatzt?«

»I wo! Es handelt sich doch um etwas ganz anderes.«

»Na, um was denn? Mensch, du bist doch heute ein zweibeiniges Rätsel!« Karl platzte vor Neugier.

»Der Werkmeister hat mir gesagt – – –«, Paul machte eine Pause.

»Na, was denn, Menschenskind?« drängte Karl.

»Er wäre recht zufrieden mit mir und deshalb hätte er beantragt, mich jetzt schon zum Optikergehilfen zu machen.« Trotz aller Bescheidenheit klang doch freudige Genugtuung aus Pauls Worten.

»Was?« Karl sperrte Mund und Augen auf. »Du schon Gehilfe? Nach noch nicht drei Jahren Lehrzeit? Mensch, hast du aber Schwein.«

»Ja, der Werkmeister meinte, ich beherrsche die Lehrlingsarbeiten. Als Gehilfe könnte er mich besser gebrauchen.«

»Gratuliere, Liedtke. Mensch, wird das einen Klamauk geben. Hinze wird ja fluchen. Fast vier Jahre ist er jetzt im Werk. Er war der nächste dazu. Und all die andern, die auch schon über drei Jahre Lehrling sind. Aber ich gönn' dir's, Liedtke. Weil du dich immer als anständiger Kerl gezeigt hast. Wenn dich die andern man bloß nicht verkloppen.«

»Warum sollten die mich verhauen? Ich habe ihnen doch nichts getan«, verwunderte sich Paul.

»Nee! Aber sie werden grün und gelb vor Neid sein. An dem Alten können sie's nicht auslassen. Folglich werden sie dir eins auswischen. Leiden können sie dich sowieso nicht recht.«

»Warum können sie mich denn nicht leiden?« fragte Paul bestürzt. »Ich bin doch immer nett zu ihnen gewesen.« Die große Freude, die ihn eben noch durchpulst hatte, war getrübt.

»Weil du anders bist als sie. Weil dir das Raufen keine Freude macht, sondern das Bücherlesen. Bücherwürmer können sie nun mal nicht ausstehen.«

»Ja, aber Professor Abbe, der Begründer der Zeiß-Werke, hat doch auch von morgens bis abends studieren müssen, um so Großes zu erreichen. Wäre der nicht solch ein Bücherwurm gewesen, hätten wir doch alle nicht unser Brot in den Optischen Werkstätten.«

»Ja, wenn du dich mit dem vergleichst«, lachte Karl ihn aus. Sie waren unter diesen Gesprächen an dem roten Verwaltungsgebäude des Werkes vorbei auf dem Carl-Zeiß-Platz gelandet. Karl führte sein Rad. Paul blickte zu dem Rundtempel hinüber, der die Klingersche Bildsäule Professor Abbes, des wissenschaftlichen Begründers der Optischen Werkstätten, in sich barg.

Nein, vergleichen tat er sich nicht mit dem großen Manne – um's Himmels willen, wie konnte Karl ihn nur für so anmaßend halten. Aber als Vorbild hatte er ihn sich genommen, den berühmten Physiker, der gleich ihm, als Sohn eines Arbeiters, aus der Armut heraus zu Höherem gestrebt hatte.

»Mahlzeit, Liedtke, ich muß nach Hause, die Suppe wird kalt und dann schimpft die Mutter.« Karl schwang sich auf sein Rad und fuhr davon in Richtung der im Ziegenhainer Tal gelegenen Heimstätten, in denen vorwiegend Zeiß-Angestellte wohnten.

Paul seufzte unbewußt. Auf ihn wartete daheim weder eine Mutter noch eine warme Suppe. Die sechzig Pfennige, die den jugendlichen Arbeitern zur besseren Ernährung als Zuschuß vom Zeiß-Werk gewährt wurden, verbrauchte er nur zum kleinsten Teil für das Essen. Er begnügte sich mittags mit Brot und Milch, die in den Werkstätten ausgeschenkt wurde. Abends hob ihm seine gutmütige Wirtin für geringes Entgelt vom Mittag meistens einen Teller Suppe oder Gemüse auf. Und Sonntags hatte er ja im Sternenhaus immer das gute Essen. Freilich, Herr und Frau Professor Winter würden darüber ungehalten sein, wenn sie gewußt hätten, daß er sich das Essengeld für Bücher absparte. Sie machten ihm alle Sonntage Vorwürfe wegen seines blassen Aussehens. Frau Professor Winter hatte davon gesprochen, daß er täglich zu Tisch ins Sternenhaus kommen sollte. Aber das ging ja gar nicht. Denn die Tischzeit bei Professors lag später. Der Professor kam erst gegen zwei Uhr von der Universität oder aus den wissenschaftlichen Instituten heim, ebenso die Kinder aus dem Gymnasium. Dann war Pauls Tischzeit längst vorüber. Und es war auch gut so. Nicht nur, daß Professors schon übergenug für ihn taten, der Sonntag im Sternenhaus sollte auch ein Festtag bleiben, der sich leuchtend abhob von dem Alltag, ein Ziel, auf das man sich die ganze Woche freuen konnte.

Was würden sie im Sternenhaus nur zu seiner Beförderung sagen? Sobald hatten sie dieselbe sicher nicht erwartet, wenn auch der Professor große Hoffnungen auf ihn setzte. Wie würde sich Suse mit ihm freuen! In Gedanken an Suses haselnußbraune Augen, in denen es so mitfühlend aufleuchten konnte, kam Paul wieder der freudige Stolz über den Schritt vorwärts, den er auf seiner Lebensbahn getan hatte. Mochten sie ihm die Beförderung ruhig neiden, die Kameraden, mochten sie ihn seinetwegen auch verkloppen, er würde unbeirrt seinen Weg weiter gehen.

Einen Blick warf Paul noch hinüber zu den Zeiß-Werken, die ihm zum Boden geworden waren, in dem er Wurzel geschlagen, aus dem er Säfte und Kraft zum Weiterstreben, zum Sichentfalten, zog. Eine steinerne Stadt, eine Stadt der Arbeit, in der man mechanisch seine Pflicht tat wie die großen Maschinen. Und von den hohen, gewaltigen Fabrikgebäuden mit ihren vielen hunderten hohen Glasfenstern und den rauchenden Schloten ging sein Blick weiter über das kleine, einstöckige Haus am Carl-Zeiß-Platz, in dem Professor Abbe in seiner Anspruchslosigkeit bis zuletzt gewohnt hatte; weiter zu seinem letzten Werk, dem großen sozialen Werk, das der Volksbildung geweiht war. Da drüben stand es, das Volkshaus. Hohe Pappeln hielten vor dem schönen Renaissancebau Wache. Dort war Pauls eigentliche Heimat geworden. Hier in diesen mit Behagen ausgestatteten Räumen, die jedem, der da kam, aufgetan waren, die einem jeden Bildungsmöglichkeiten erschlossen, da verbrachte Paul jede freie Minute, die ihm seine technische Arbeit ließ.

Am Schalter der Jugendbücherei drängten sich Schulkinder, Buben und Mädel, den Ranzen auf dem Rücken. Sie bestürmten die Bibliothekarin.

»Ein schönes Buch – ein recht schönes Buch von Erfindungen – ach bitte, mir eins von Indianern – mir bitte ein recht lustiges Buch mit lauter dummen Streichen« – die Mädchenstimme kannte Paul. Richtig, das war ja Tinchen Schiller. Paul nickte ihr zu. War es nicht in der Tat ein Volksbildungshaus geworden, wenn die Jugend hier ihren Geist bereicherte? Wenn ein Mädel wie Tinchen, das in der Schule schlecht lernte und für Bücher im Grunde nicht viel übrig hatte, sich hier Lektüre lieh?

Unten im Zeitungssaal war es trotz der Mittagszeit gut besucht. In bequemen Armstühlen, in Lederpolstern ruhten Männer jeder Altersstufe, der verschiedenartigsten Berufe, da saß der Student neben dem Professor, der Arbeiter neben dem Kaufmann oder dem Beamten. Wer von seiner Tischzeit noch ein Viertelstündchen erübrigen konnte, ging in den Lesesaal des Volkshauses. Dort hing die Wände entlang die gesamte Presse, Zeitungen aller deutschen Städte, aller politischen Richtungen. Ein jeder fand dort das, was er suchte. Paul grüßte einige ihm bekannte Zeiß-Arbeiter, die wie er ihre Mittagspause hier verbrachten. Dann schritt er die Treppe hinauf ins obere Stockwerk. In dem hellen, weiten Zeitschriftensaal nahm Paul Platz. Hier gab es Zeitschriften für jeden Beruf, vom gewöhnlichsten Handwerk bis zur gelehrtesten Wissenschaft. Paul studierte eine neue physikalische Zeitschrift, interessierte sich lebhaft für den Bildfunk, mit dem man verschiedene neue Versuche gemacht hatte, und ging dann weiter in die große Bibliothek. Hier traf man meist Studenten, die zum Examen arbeiteten, Professoren, die wissenschaftliche Werke studierten.

Paul stapelte mehrere Folianten vor sich auf und vertiefte sich in seine Arbeit. Er wollte sich im März zum Fachabiturium melden. Als Hauptfächer hatte er Physik und Mathematik erwählt. Er saß und las, zeichnete und rechnete. So vertieft war er in sein Studium, daß er gar nicht merkte, daß sich eine Hand ihm auf die Schulter legte. Erst als eine Stimme hinter ihm sagte: »Ei, Paul, soll das Mittagsruhe sein?« fuhr er aus seiner Arbeit empor. Hinter ihm stand Professor Winter. Paul erhob sich freudig und begrüßte seinen väterlichen Freund.

»Na, mein Junge, nennst du das Mittagbrot essen?« fragte der Professor, mit dem Finger drohend.

»Ich habe Brot und Milch schon verzehrt. Meine Wirtin verwahrt mir zum Abend was Warmes«, sagte Paul der Wahrheit gemäß.

»Das reicht nicht aus für einen jungen Menschen im Wachstum. Du mußt unbedingt mittags eine warme Mahlzeit nehmen, Paul. Willst doch kein Krösus werden, Junge. Die Essenszulage von sechzig Pfennigen, die du im Werk bekommst, muß auch dafür verausgabt werden.«

»Ich brauch' sie notwendiger, Herr Professor«, meinte Paul zögernd.

»Wofür denn? Für Wäsche und sonstige Kleidungsstücke?«

»Nein, für Bücher.«

»Sind dir die hier noch nicht genug, Junge?« Der Professor machte eine Handbewegung zu den in hohen Regalen in Reih und Glied stehenden Rekruten der Wissenschaft.

»Wenn ich hier ein Buch eingesehen habe, möchte ich es oft besitzen, um dann abends zu Hause darauf weiterbauen zu können«, erklärte Paul bescheiden. »Und dann ist hier im Volkshaus das Schäffermuseum, in dem man die physikalischen Versuche, die man aus den Büchern kennen lernt, gleich praktisch erproben kann.«

Professor Winter dachte: Geradezu imponierend, wie dieser Junge seinen Weg zielbewußt verfolgt und weiterstrebt! Nur muß der Körper mit dem Geist Schritt halten. Er musterte den schmächtigen, blassen Burschen. Dann äußerte er: »Jedes Zuviel ist von Übel, Paul. Auch des Guten kann man zuviel tun. Du brauchst neben deiner Arbeit in der Fabrik Körperübungen in freier Lust und kräftige Ernährung. Der Feierabend mag dann den Büchern gehören. Bist du dem Fußballklub und dem Turnklub des Zeißschen Jugendvereins beigetreten?«

»Nein, Herr Professor. Ich hatte noch keine Zeit dazu gefunden. Und dann – die andern sind viel gewandter und sporttüchtiger als ich. Sie lachen mich aus, wenn ich mich ungeschickt anstelle.«

»Macht nichts«, entschied der Professor. »Meine Kinder müssen auch Sport treiben. Nur in einem gesunden Körper kann ein gesunder Geist wohnen. Auch zum Sport muß man ertüchtigen. Du wirst viel bessere Arbeit leisten, wenn du deine Körperkräfte übst, als wenn du ständig bei den Büchern hockst.«

»Der Werkmeister ist recht zufrieden mit mir, Herr Professor. Er hat meine Lehrzeit abgekürzt und mich heute zum Optikergehilfen gemacht.« Bescheidener Stolz sprach aus Pauls Worten.

»Der Tausend – meinen Glückwunsch, Herr Optikergehilfe. Das nenne ich ja rasche Beförderung«, rief der Professor erfreut. »Was sagen denn deine Kameraden dazu?«

Paul zögerte mit der Antwort. »Sie werden wohl neidisch sein. Neumann meint sogar, sie werden mich verkloppen.«

»Kloppe wieder! Das ist eine gute Muskelübung. Kannst bei Herbert Unterricht im Boxen nehmen. Also Sonntag werden wir den Optikergehilfen bei einer Pfirsichbowle von Suses selbstgezogenen Früchten gebührend feiern. Inzwischen versprich mir, daß du dir mittags ein warmes Essen geben läßt. So, Hand darauf! Und diese schöne Edelbirne laß dir schmecken. Suse hat sie mir in die Tasche praktiziert.« Damit ging der Professor zu den astronomischen Büchern hinüber. Für Paul aber war es nun höchste Zeit, ins Werk zurückzukommen. Es fehlten nur noch fünf Minuten bis zu Beginn der Nachmittagsarbeit. Suses Birne aber mußte er noch vorher verzehren. Oh, wie sie ihn erquickte!

Karl Neumann hatte richtig prophezeit. Keiner von all den Arbeiterlehrlingen gönnte Paul Liedtke seine schnelle Beförderung. Alle waren sie empört darüber, daß dieser Bücherheld sie im Werk ausstach. Jeder einzelne glaubte sich tüchtiger als Paul und fand sich benachteiligt. Eine Mauer von Neid, Mißgunst und Gehässigkeit türmte sich plötzlich zwischen Paul und seinen Kameraden auf. Stets waren sie verbündet gegen ihn, zeigten ihm bei jeder Gelegenheit ihre Abneigung. Selbst die, welche früher seine Partei ergriffen hatten, gingen zur Gegenpartei über. Nicht einmal Karl Neumann, der gutmütig war und Paul gern hatte, vermochte zu vermitteln.

Paul hatte das Leben schon manches Bittere zu kosten gegeben. Auch im Berliner Waisenhaus war der schmächtige, bescheidene kleine Kerl der Prügelknabe der großen Schlingel gewesen. Aber er hatte sich durch seine gleichmäßige Freundlichkeit und Gefälligkeit schließlich die Zuneigung der andern Waisenkinder erworben. Hier war das anders. Freundlichkeit nützte hier nichts. Die hielt man für Kriecherei. Es blieb nichts weiter übrig, als sich nicht um die Bosheiten der neidischen Arbeiterlehrlinge zu kümmern. Oder wenigstens so zu tun. Denn verwunden taten diese Sticheleien, die Nichtachtung und die Possen, die sie ihm auf Schritt und Tritt spielten. Bald war ein wichtiges Handwerkszeug Pauls, für das er stehen mußte, verlegt und fand sich erst nach langem Suchen wieder. Und er verlor dann die kostbare Zeit für seine nach Stückzahl bezahlte Akkordarbeit. Sollte er es seinem Meister melden? Er fürchtete mit Recht, daß sie es dann nur um so schlimmer treiben würden. Noch eins beschwerte Paul. Er hatte Professor Winter versprochen, dem Sportklub des Zeißschen Jugendvereins beizutreten. Es gehörten junge Menschen aus allen Abteilungen und allen Betrieben dazu, viele Hunderte. Aber Hinze, Pauls Hauptfeind und Anstifter zu all den Possen, die man ihm spielte, war der Führer der Optikerlehrlingsgruppe. Bei ihm mußte man sich melden. Sollte er es wagen?

Er sprach mit Karl Neumann, der ihm doch früher wohlgesinnt gewesen war, darüber. Der zuckte die Achsel. »Wirst nicht viel Freude dabei haben, Liedtke. Wenn sie dich hier in der Werkstatt schon auf Schritt und Tritt ärgern, dann werden sie es beim Sport, wo sie ganz unter sich sind, erst recht tun. Wenn ich dir raten kann, bleibste davon.« Es war ein ehrlicher Rat, denn Paul tat Karl Neumann im Grunde seines Herzens leid. Aber er hatte nicht die Kraft, gegen die andern allein Front zu machen.

Bei Paul bewirkte Karls Rat gerade das Gegenteil. Schwierigkeiten reizten ihn. Er wollte sie überwinden. Waren es nun schwierige mathematische Berechnungen oder galt es, sich unter den andern zu behaupten.

Mit kurzem Entschluß, ehe es ihm wieder leid werden konnte, trat er in einer Arbeitspause auf seinen Feind zu.

»Du, Hinze, ich möchte mich zum Fußball-, Turn- und Jugendwanderklub anmelden.«

»Du?« Hinze schlug ein höhnisches Lachen auf. »Solche Kerle wie du können wir brauchen. Wenn wir bloß pusten, liegste schon auf der Nase. Nee, für Bücherwürmer ist der Sportklub nicht.«

Das war eine deutliche Abweisung. Paul schoß das Blut ins Gesicht. »Der Sportklub ist für körperliche Übungen aller jugendlichen Arbeiter eingerichtet, nicht nur für die starken und kräftigen. Wenn du mich nicht einschreiben willst, muß ich mich an den Abteilungsvertreter wenden.« Paul bemühte sich, Ruhe und Festigkeit in seine Stimme zu legen.

»Warum nicht gleich an den Arbeitsausschuß oder gar an die Siebener-Kommission?« höhnte der andere. Er ballte die Faust und hielt sie Paul unter die Augen. »Unterstehe dich, hier zu klatschen, dann kannste deine Knochen im Schnupptuch nach Hause tragen.«

Paul zuckte nicht mit der Wimper. »Ich will nur mein Recht, das jeder hier hat. Hier ist einer so wie der andere.«

»So – na, dann darf sich der eine auch nicht lieb Kind machen beim Alten und bei Beförderung vorgezogen werden«, empörte sich Hinze.

»Dafür kann ich nichts. Das geht ganz gerecht zu nach dem, was man leistet«, erwiderte Paul ruhig.

»Hahaha – ich verstehe immer: ganz gerecht. Na, dann zeige mal, was du im Sportklub leisten kannst. Schön, ich schreibe dich ein. Aber beklage dich nachher nicht, wenn du braun und blau kariert bist.« Damit wandte ihm Hinze den Rücken.

So ruhig, wie Paul sich äußerlich zeigte, war er innerlich ganz und gar nicht. In der Tiefe seines Herzens fürchtete er sich sogar vor dem Sportverein und vor Hinzes Rache. Aber das half nichts. Was sein muß, das muß sein!

Statt des Goetheschen Buches »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, das ihm Frau Professor Winter zu lesen empfohlen hatte, mußte Paul sich ein Turnertrikot, wie es die andern jugendlichen Arbeiter des Sportklubs trugen, anschaffen. Und am nächsten Sonnabend um drei Uhr – das Zeiß-Werk schloß am Samstag bereits mittags um zwölf – fand sich Paul auf dem großen Sportplatz in der Oberaue ein, wo die Fußballmannschaften schon versammelt waren. Ein wenig beklommen war ihm zumute, als er sich unter seine Abteilungskameraden mischte. Lauter kräftige, sonnengebräunte Jünglingsgestalten, die den schmächtigen, unterernährten Paul spöttisch abweisend musterten. Als Schulbub hatte Paul sich nur selten an den Fußballkämpfen der Jugend beteiligen können. Zu früh war der Ernst des Lebens an ihn herangetreten. Schon als Kind galt es jede freie Minute nützen, der Mutter im Hause zur Hand zu sein, ein paar Pfennige zu verdienen, sei es mit Zeitungen- oder Semmelnaustragen. Von den glücklichen Jahren in der Waldschule abgesehen, hatte Paul niemals recht Jugendfrohsinn und Spiel kennengelernt.

Und nun stand er hier wie der Ochs vorm Berge, hörte Fachausdrücke wie: Torwächter oder Stürmer sein und hatte kaum eine Ahnung von den Spielregeln. Hätte er sich nur von Herbert oder von Helga Martin vorher das Spiel klarmachen lassen. An den Sonntagen gab es immer so viel anderes zu besprechen. Mit dem Professor Fachliches oder irgendeine astronomische Beobachtung durch das Fernrohr. Die Damen besprachen meist gute Lektüre mit ihm. Herbert wünschte sein Interesse für seine zoologischen Sammlungen. Und Suse – ja, Suse war eigentlich für alles, was Paul persönlich anging, da. Bei der konnte er sein Herz ausschütten. Bis fünf Uhr dauerte das Fußballspiel. Dann mußte Paul zum Tennisplatz, wo Winters und Martins ihn erwarteten. Wenn er auch noch immer kein besonderer Tennisspieler war, Suse würde sicherlich enttäuscht sein, wenn er nicht käme. Nein, das Tennisspiel war ihm wichtiger als der ganze Fußballkampf.

Unter diesen Gedanken kam Paul den Anordnungen, die Karl Neumann ihm zukommen ließ, etwas geistesabwesend nach.

»Mensch, wenn du schläfrig bist, leg dich aufs Ohr. Hier muß man die Augen offen halten und jede Chance wahrnehmen. Ich habe nicht Lust, deinetwegen zu verlieren«, rief Karl voller Spieleifer.

Der große Ball wurde von den Stürmern hin und her geschleudert. Stürmer und Läufer jagten vorwärts, rückwärts hinterdrein – ganz sinnlos erschien es Paul. Er konnte noch kein System in dem Spiel erkennen. Er richtete sich nach dem andern Verteidiger seiner Partei. Wie ein Herdentier lief er mit.

Hinze spielte auf der Gegenpartei. Er war immer an der Spitze der Stürmer. Inzwischen wurde es Paul klar, daß es der Gegenpartei darauf ankam, den Torwächter Karl Neumann von seinem Platz fortzudrängen und das Tor zu gewinnen. Als Verteidiger mußte Paul mit einem andern das Tor zu halten suchen.

Hinze schleuderte den Ball. Er holte weit aus – er zielte gut – o weh – Paul stieß einen Schmerzensschrei aus, er wurde niedergerissen. An ihm vorbei jagten die Feinde in ihrer blinden Spielwut.

»Will denn der Liedtke nicht aus dem Spiel gehen? Er kann uns doch nicht alle hier mit seiner Wehleidigkeit aufhalten«, räsonierte Hinze. »Nu sieht er wenigstens mal, wer was leistet.«

Paul stöhnte. Er fühlte einen so heftigen Schmerz im rechten Schultergelenk, daß es ihm fast den Atem benahm. Karl Neumann rüttelte ihn an dem getroffenen Arm. Laut auf schrie Paul vor Schmerz.

»Aber Mensch, wie kann man sich bloß so haben. Die andern werden dich nicht schlecht auslachen – mach dich zur Seite. Du störst das Spiel.« Auch Karl war ungehalten über den Aufenthalt.

Paul erhob sich. Er biß die Zähne in die Lippen, daß sie bluteten, daß ihnen kein Wimmern entschlüpfen sollte. Nur dem Hinze und den andern, die so triumphierende Gesichter machten, kein Schauspiel geben.

Aber schon nach wenigen Schritten wurde es Paul vor Schmerzen schwarz vor den Augen. Er torkelte – er strauchelte – griff in die Luft und schlug vornüber zu Boden. Dort blieb er regungslos liegen.

Karl Neumann kam die Sache trotz seines Spieleifers nicht recht geheuer vor. »Du, Liedtke, steh doch auf.« Er beugte sich über ihn. Da sah er, daß Pauls Gesicht schneeweiß aussah. Seine Augen waren geschlossen.

»Halt!« schrie Karl entsetzt den anstürmenden Gegnern zu, »halt! Paul Liedtke stirbt!«

Erschreckt bildete sich ein Kreis um den Regungslosen.

»Wasser!« rief einer und raste zum Brunnen. Hinze griff nach Pauls Puls. Er schlug kaum fühlbar.

»Ich habe ihn nicht treffen wollen – ich habe auf das Tor gezielt – es war ein unglücklicher Zufall!« verteidigte sich Hinze aufgeregt, noch bevor ihn jemand beschuldigt hatte.

»Der arme Liedtke – lebt er denn überhaupt noch – der macht's sicher nicht mehr lange – der sah ja schon vorher aus wie 'ne Leiche auf Urlaub – Hinze ist immer so gemein zu ihm gewesen«, so schwirrten die Stimmen der jungen Burschen in höchster Erregung durcheinander. Die Volksgunst hatte sich plötzlich gedreht. Alles nahm Partei für den bewußtlosen Paul.

Man netzte ihm die Stirn mit Wasser. Er schlug eine Sekunde die Augen auf, schloß sie aber gleich wieder stöhnend.

»Wir müssen ihn in die Klinik bringen, er muß geröntgt werden. Vielleicht hat er eine innerliche Verletzung«, sagte einer.

Hinze lief nach einem Wagen. Der war hier draußen auf den Spielwiesen nicht so leicht zu beschaffen. Es verging geraume Zeit, von dem Stöhnen Pauls und dem scheuen Flüstern seiner Kameraden unterbrochen. Dann trugen vier Mann, Karl Neumann und Hinze darunter, Paul in den Wagen. Neumann und Hinze stiegen mit ein. Es war nicht nur das Aufregende des Erlebnisses, das die jungen Leute dazu veranlaßte. In Karl hatte wieder freundschaftliche Gesinnung und Teilnahme für den armen Paul die Oberhand gewonnen. Hinze aber trieb das Schuldbewußtsein, das böse Gewissen.

Unter den Händen des Arztes schlug Paul die Augen auf. Die Untersuchung verursachte entsetzliche Schmerzen.

»Das Schultergelenk ist ausgerenkt. Wir werden eine Narkose machen müssen, Schwester, um es wieder in die richtige Lage zu bringen. Es ist zu schmerzhaft. Bereiten Sie auch eine Röntgenaufnahme vor. Möglichenfalls Knochenabsplitterung.«

Vierzehn Tage lag Paul nun in der chirurgischen Klinik. Immer noch schmerzte der Arm und war nicht gebrauchsfähig. Aber in der Ruhe und bei der guten Pflege der Schwestern erholte sich Paul langsam. Er wurde voller, seine blassen Wangen röteten sich allmählich. Jeden Mittwoch und Sonntag nachmittag, wenn sich Professors Zwillinge zur Besuchszeit in der Klinik einfanden, stellten sie erfreut fest, wieviel besser der Freund ausschaute. Das heißt, an den Sonntagen erschien meistens nur Suse allein, manchmal in Begleitung der Mutter oder von Freundin Inge. Herbert und Helga zogen es vor, ins Freie auszufliegen. Die hielt der kranke Paul nicht von ihren Jugendwanderungen zurück. Auch anderer Besuch kam. Karl Neumann ließ selten einen Sonntag aus, ohne nach Paul zu sehen. Aber auch Hinze und die übrigen Kameraden vergaßen ihre Feindschaft und erinnerten sich daran, daß Paul Liedtke stets nett und gefällig gegen sie gewesen war. Ja, sogar der Werkmeister besuchte seinen kranken Gehilfen.

Aus den Pfirsichen, Birnen und Pflaumen, die Suse dem Freunde von ihrem Spalierobst im Spankörbchen zur Erfrischung brachte, wurden Weintrauben und bunte Astern. Der Herbst kam und pochte mit blutrotem Buchengezweig an das Klinikfenster.

Da endlich wurde Paul aus der Klinik entlassen. Aber der Arm war noch immer nicht gebrauchsfähig. Der Patient konnte noch nicht wieder seine Arbeit im Zeiß-Werk aufnehmen. Um so eifriger widmete er sich seinen Büchern. Schmerzen hatte er kaum noch. Nur eine Lahmheit, eine Schwäche des Armes war zurückgeblieben, die mit elektrischer Massage gehoben werden sollte.

Paul war restlos glücklich, daß er sich jetzt den ganzen Tag seinen Studien widmen konnte. Er hegte nur freundliche, dankbare Gefühle gegen Hinze, der die Veranlassung dazu gewesen war. Das Krankengeld, das er vom Zeiß-Werk bezog, reichte für seinen Unterhalt aus. Statt daß er seine Examensarbeit zum Abiturium erst im Februar, wie beabsichtigt, einreichte, vollendete er sie nun schon im November. Die physikalische Abhandlung erregte Aufsehen bei den Professoren der Fakultät. Eine ganz außerordentliche Befähigung sprach daraus, auf praktische Sachkenntnisse gestützt. Dem jungen Liedtke wurde darauf und auf seine mathematischen Kenntnisse hin die Universitätsreife zugesprochen.

Paul war Student.


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