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3. Kapitel. Der Sonntagsgast.

Am Sonntag war Paul Liedtke ein für allemal Gast bei Professors. Die ganze Woche freute er sich auf das Sternenhaus, so hieß das hübsche Landhaus des Professors der Sternenkunde allgemein in Jena. Zeigte es doch rings um das Gesims in blauem Grunde die bekanntesten Sternenbilder.

Paul war eine Waise. Vor Jahren, als Professors Zwillinge noch in Berlin wohnten, war er mit Herbert und Suse, obgleich er älter war als sie, in der Waldschule befreundet gewesen. Später, als er nach dem Tode seiner Mutter in ein Waisenhaus kam, vergoldeten die Ferien, die der arme Junge bei Professor Winter verleben durfte, das graue Einerlei seiner schweren Kindheit.

»Unser Ferienkind« hieß Paul im Sternenhause. Dort kehrte er regelmäßig zu Weihnachten und für die Sommerferien ein. Der Professor und seine Frau hatten den strebsamen wohlerzogenen Knaben menschenfreundlich in ihr Haus geladen, damit dem blassen Jungen, der in den engen Mauern des großstädtischen Waisenhauses aufwuchs, die notwendige Erholung zuteil wurde. Für Professors Zwillinge war das längere Zusammensein mit Paul immer ein Fest. Von Ferien zu Ferien machte man Pläne, was man alles unternehmen wollte, wenn »Paulchen« wieder kam. Die Eltern hielten das Zusammensein ihrer Kinder mit dem armen Waisenknaben für sehr wünschenswert. Es war ganz ersprießlich, daß die beiden mal sahen, wie gut sie es in treuer Elternobhut hatten, wenn ihnen auch nicht immer jeder Wunsch erfüllt wurde. Erst beim Vergleichen erkennt man, was man besitzt. Außerdem wirkte auf Herbert, der öfter etwas vorlaut war, Pauls bescheidenes, höfliches Wesen jedesmal günstig.

Der Professor aber nahm noch ein besonderes Interesse an dem »Ferienkind«. Er hatte bald die gute geistige Veranlagung des Jungen erkannt, vor allem aber seine auffallende Begabung für Physik und Elektrotechnik. Als Paul eingesegnet und aus dem Berliner Waisenhaus entlassen wurde, setzte sich Professor Winter mit dem Direktor desselben in Verbindung. Dieser wollte den Jungen zu einem Uhrmacher in die Lehre geben. Professor Winter ließ ihn nach Jena kommen und verschaffte ihm eine Lehrstelle in den optischen Werken von Zeiß, die in der ganzen Welt bekannt und berühmt sind. Gleichzeitig verdankte Paul der Fürsprache des beliebten Universitätsprofessors Winter ein Stipendium aus der Carl-Zeiß-Stiftung; das waren Studiengelder, die besonders begabten Angestellten des Instituts technische und wissenschaftliche Weiterbildung erschlossen. Jeden Ersten des Monats bekam Paul eine kleine Summe ausgezahlt, die es ihm, zusammen mit dem Taschengeld, das er als Lehrling bezog, bei seinen geringen Ansprüchen ermöglichte, sich selbst zu erhalten. In einem der winkligen Gäßchen der Altstadt Jena hatte er ein billiges Zimmer inne. Frau Professor Winter hätte Paul gern zu sich ins Haus genommen, um ihm die Miete zu ersparen; das Fremdenzimmer im Sternenhaus stand ja meistens leer. Aber der Professor, ein einsichtiger und überlegter Mann, gab seiner Frau zu bedenken, daß es nicht gut für Paul sei, ihm alle Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumen. Paul war von klein auf Sorgen und Entbehrungen gewöhnt. Er mußte auf sich selbst gestellt sein, mit seinen bescheidenen Mitteln sich einrichten lernen. Das stählte den Charakter. Kämpfen stärkt die Muskeln, auch dem Leben gegenüber. Sogar der Mittagstisch, den die menschenfreundliche Frau Winter dem jungen Burschen gern gewährt hätte, erübrigte sich. Die jugendlichen Arbeiter erhielten aus der Angestelltenfürsorge des Werkes sechzig Pfennige pro Tag zur besseren Ernährung. In der Kantine wurde dafür nahrhaftes Essen gereicht. So blieben Paul nur die Sonn- und Feiertage für Besuche im Sternenhaus, in der Woche fand er keine Zeit dazu.

In dem kleinen Stübchen, das Paul bewohnte, brannte bis in die Nacht hinein Licht. Dort saß der fleißige Junge nach des Tages anstrengender praktischer Arbeit bei seinen Büchern. Dort lernte er Mathematik und Physik, rechnete und zeichnete, bis die Augen ihm zufielen. Er wollte, er mußte vorwärts kommen. »Freie Bahn dem Tüchtigen!« hatte ihm sein väterlicher Freund, Professor Winter, beim Eintritt in den Beruf als Wahlspruch auf den Weg gegeben. Daran dachte Paul unausgesetzt. Wie die einstigen Begründer der gewaltigen Zeißwerke, die jetzt zum Segen für Tausende geworden waren, sich aus den kleinsten Anfängen zu ihrem späteren Ansehen emporgearbeitet hatten, so wollte auch er es tun. Diese beiden Männer waren das Vorbild des armen Jungen, dem er nachstrebte. Da hieß es vor allem, seine noch lückenhafte Bildung ausfüllen. Paul sah ein großes Ziel vor sich, er wollte sich für das Fachabiturium vorbereiten. Auf diesen Gedanken hatte ihn Professor Winter gebracht, um ihm das Universitätsstudium zu ermöglichen. Er lieh ihm Bücher, gab ihm die notwendige Anleitung und nahm am Sonntag das, was Paul die Woche über gearbeitet hatte, mit ihm durch. Er erklärte, erläuterte und förderte damit den strebsamen Jungen in jeder Hinsicht. Dabei war der Professor immer wieder aufs neue überrascht von der scharfen Auffassung Pauls und von seiner speziellen Begabung für Physik und Mathematik.

Auch sein Junge, der Herbert, war außergewöhnlich für Naturwissenschaften begabt und immer einer der Ersten im Gymnasium. Sein Großvater schon war Professor der Naturwissenschaften. Da war diese Begabung kein Wunder wie bei dem armen Paul, der gar früh den Kampf um das tägliche Brot kennengelernt hatte und sich jetzt mit erstaunlicher Energie und Zielbewußtsein emporarbeitete.

Professors Zwillinge versuchten ebenfalls ihren Freund Paul zu fördern. Nur taten sie das auf ganz verschiedene Weise, ein jeder seinem Charakter entsprechend.

Herbert spielte sich allzugern als Besserwisser auf. Er prüfte Paul als gestrenger Examinator und tat sehr überlegen, daß er in allen Fächern mehr wußte als Paul. Dabei bedachte er nicht, daß das eigentlich gar nicht sein Verdienst war, sondern das seines Vaters, der ihm eine bessere Schulbildung zuteil werden lassen konnte. Aber es dauerte nicht allzulange, da mußte Herbert wahrnehmen, daß Paul mit eisernem Fleiße das Fehlende nachlernte, ihn bald einholte und sich das Gelernte ganz zu eigen machte. Das konnte man von Herbert nicht sagen. Er faßte sehr schnell auf, war aber leicht abgelenkt und zerstreut und vergaß manches, was er gelernt hatte, wieder. Geradezu empört aber war Herbert, als Paul eines Sonntags, als er sich mit ihm über ein elektrotechnisches Experiment unterhielt, ihm in seiner bescheidenen Weise zu verstehen gab, daß dies nicht stimme, daß es sich anders verhalte. Was – Paul, das Ferienkind, der weder Latein noch Französisch konnte, der mit vierzehn Jahren von der Volksschule abgegangen war, wollte etwas besser wissen als er! Solche Frechheit!

Der Vater, der als Schiedsrichter angerufen wurde, gab Paul recht und seinem Sohn den Rat, künftig vorsichtiger mit Behauptungen zu sein. Seitdem hatte Herberts Freundschaft für Paul einen leisen Knacks bekommen. Er konnte es nun mal nicht vertragen, daß ein anderer ihn ausstach.

Suse hatte schon als kleines Mädchen Mitleid mit dem armen Paulchen gehabt, der mit geflickter, ausgewachsener Jacke in die Waldschule gekommen war, dem die Augen oft in der ersten Stunde vor Müdigkeit zufielen, weil er schon in aller Herrgottsfrühe für einen Bäcker die Frühstückssemmeln hatte austragen müssen. Dann waren sie auseinandergekommen, da Professor Winter mit seiner Familie nach Italien und später nach Jena übersiedelte. Aber eine Ansichtskarte, einen Gruß hatten Professors Zwillinge inzwischen öfters an den einstigen Schulkameraden gesandt. Später, als Pauls Mutter starb und der arme Paul in ein Waisenhaus kam, hatte Suse die Eltern solange gebeten, bis sie erlaubten, daß sie »Paulchen« für die Ferien zu sich nach Jena einladen durften. Da hatten die Zwillinge erstaunte Augen gemacht. Denn aus dem Paulchen war inzwischen ein Paul geworden. Früher in der Waldschule hatte man das gar nicht gemerkt, daß Paul fast zwei Jahre älter war als sie, denn er war immer klein, schmächtig und schüchtern gewesen. Aber trotzdem wurde die alte Freundschaft wieder aufgefrischt. Denn Paul hing sehr an den Kindern seines Wohltäters. Herberts Streitsucht machte den Verkehr mit ihm nicht immer leicht. Um so netter war die Suse zu dem Freund. Ihr mitleidiges Herz, das für alles, was Not litt, besonders warm schlug, empfand geradezu etwas Mütterliches für den elternlosen Jungen, der schon so früh allein im Leben stand. Trotzdem sie jünger war als er, fühlte sie die Verpflichtung, für ihn zu sorgen. Das tat sie in rührender Weise im Verein mit ihrer Mutti. Sie sah, daß Paul seinem Einsegnungsanzug, den er an den Sonntagen im Sternenhaus zu tragen pflegte, das beste und einzige Kleidungsstück außer seiner Arbeitsjoppe, allmählich ausgewachsen war. Daß der Stoff blank und schäbig aussah. Herbert machte seine Glossen darüber. Ja, er verulkte Paul sogar, er solle sich nur vorsehen, daß er nicht mal aus seinem Anzug herausfiele. Suse war die Röte peinlichster Verlegenheit bei den Worten des Bruders in die Wangen geschossen. Sie schämte sich für ihren Zwilling, daß er so taktlos sein konnte. Paul aber lachte harmlos mit Herbert um die Wette.

Die Folge von Herberts unüberlegtem Scherz war, daß Suse mit dem Bruder beriet, wie man Paul zu einem neuen Sonntagsanzug verhelfen könne. Denn daß der arme Junge sich von seinem bescheidenen Einkommen nicht so bald einen Anzug zusammensparen konnte, war selbst ihrer vierzehnjährigen Welterfahrenheit klar. Die Zwillinge legten ihre Ersparnisse zusammen, denn auch Herbert war ja im Grunde seines Herzens gutmütig. Aber es reichte höchstens zu einer Weste. Auch Herberts Bestand an Anzügen kam für Paul nicht in Betracht. Trotzdem Herbert nicht viel kleiner war als Paul, befanden sich seine Anzüge, wenn er sie ablegte, in einem Zustand, daß man sie allenfalls noch einer Vogelscheuche anbieten konnte. Nein, unter Herberts Garderobe, die von manchem Boxkampf Zeugnis ablegte, war kein Sonntagsanzug mehr für Paul herauszufinden.

Mutti, die Helferin in allen Nöten, schaffte Rat. Vom Vater hing noch ein gut erhaltener Anzug im Schrank, den ihr Mann kaum noch trug. Für Paul gab das einen prächtigen Sommeranzug, den konnte man ihm vom Schneider herrichten lassen.

»Als Osterei, Mutti, ja, als Osterei verstecken wir Paul den Anzug«, hatte Suse freudestrahlend vorgeschlagen.

»Aber eine anständige Krawatte muß er auch dazu haben«, hatte Herbert sachverständig geäußert.

»Er kann doch Schillerkragen tragen, das ist viel bequemer und netter für euch Jungs«, meinte die Mutter. Und Suse setzte hinzu: »Überhaupt, wo er jetzt in der Schillerstadt lebt.«

»Schillerkragen paßt nur zum Sportanzug.« Herbert wußte als junger Gernegroß schon ganz genau Bescheid. Ja, er erklärte sich sogar bereit, von seinem Spargeld, das eigentlich zur Erwerbung eines Igels für seine zoologische Sammlung festgesetzt war, einen Foulardbinder für Paul zu Ostern zu erstehen. »Denn ihr Weiber wißt ja doch nicht, was wir Männer jetzt tragen«, hatte er zu Suse geäußert. Dankbar hatte Suse ihrem Zwilling trotz der geringschätzigen Äußerung den Arm um die Schulter geschlungen, weil er solch ein guter Junge war. Aber Herbert hatte die Schwester abgeschüttelt. »Führe bloß nicht Orest und Pylades auf!« Alles Gefühlvolle erschien dem Jungen unmännlich.


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