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8. Kapitel. Die Bälle fliegen übers Netz.

Jenas Sportplätze lagen jenseits der Saale zwischen Wiesen und prächtigen Anlagen. Ein lustiges Völkchen tummelte sich dort. Studenten und Studentinnen, Gymnasiasten und Backfische, barfüßige Buben und Mädel, die die Bälle zureichten.

Die Tennisbälle wurden kraftvoll über das Netz geschnellt, geschickt zurückgeschleudert. Muskelstärke, Geschicklichkeit, Geistesgegenwart und Anmut der Bewegungen löste das Spiel aus.

An dem Drahtgitter eines Tennisplatzes sammelten sich die Zuschauer. Dort wurde meisterhaft gespielt. Ein großes, blondes Mädel, knapp dem Kindesalter entwachsen, zog die Blicke aller Zuschauer auf sich. Fabelhaft, wie gewandt sie einen jeden Ball ihres Partners zurückgab, mit welcher Leichtigkeit sie selbst die strammsten Bälle haarscharf über das Netz schleuderte. Jetzt war sie hier, jetzt dort; leichtfüßig sprang sie dem schwierigsten Ball nach. Ihr lichtblondes Haar zügelte ein schwarzes Stirnband. Veilchenblaue Augen sprühten vor Freude und Lebenslust.

»Spiel!« rief sie triumphierend und schwenkte ihren Schläger siegreich wie eine Fahne.

»Vier zu zwei!« erklang es von dem hohen Stuhl des Schiedsrichters. »Krause hat gegen Helga Martin mit Glanz verloren.« Herbert, der Schiedsrichter, sprang mit einem Satz von seinem Thron herab. »Die nächste Partie spielen wir, Helga.« Aber da hatte sich bereits ein rotbemützter Student vor der jungen Siegerin verneigt.

»Wollen wir mal unsere Kräfte gegeneinander messen, gnädiges Fräulein?« Das Backfischchen nickte in stolzer Erhobenheit. Helga kannte den Studenten, er verkehrte im Hause ihrer Eltern. Aber bisher waren sie und Inge von den Musensöhnen noch nicht für voll genommen worden. Ihr Tennisspiel hatte ihr den Platz unter den Erwachsenen erobert. Sogar »gnädiges Fräulein« nannte man sie. War es da ein Wunder, daß sie Herbert Winter, den sie sonst als tüchtigen Partner schätzte, heute den Laufpaß gab?

Herbert ballte die Hände vor Ärger. Na warte, Martinsgänschen, das wird dir angestrichen. Alle seine Schulkameraden würde er gegen Helga zur Verschwörung aufrufen. Keiner durfte sie mehr zu einem Spiel auffordern oder bei den Jugendwanderungen mit ihr tanzen. Hatte sie doch die ganze Untersekunda in ihm beleidigt. Kaltgestellt sollte sie werden, so wie sie ihn soeben kaltgestellt hatte. So was ließ sich Herbert nicht gefallen. Oh, wäre er nur auch erst Student!

Inge Martin, die den Vorfall beobachtet hatte, trat zu dem wütenden Jungen. »Komm, Herbert, wollen wir beide ein Spiel machen?« fragte sie freundlich, denn seine Zurücksetzung durch die Schwester tat ihr leid.

Was – statt Helga Inge, die lange nicht so gut spielte – nee, mit Ersatz nahm er nicht fürlieb. «Ich spiele überhaupt nicht mehr mit euch Martinsgänsen«, sagte er grob und wandte Inge recht wenig kavaliermäßig den Rücken. Er begab sich zum Nebenplatz, wo Suse sich bemühte, Paul in die Geheimnisse des Tennissportes einzuweihen.

Paul war keine gute Erscheinung auf dem Tennisplatz. Seiner langen Gestalt fehlte das Sehnige, Kraftvolle. Er hatte eine schlechte Haltung, und sein zusammengestückelter Anzug nahm sich etwas merkwürdig unter den weißen Tennisanzügen der meisten Sportjünger aus. Auch Herbert trug Kniehose und Sporthemd. Aber er wirkte trotzdem flott.

»Paul, versuche noch mal die Bälle recht flach und scharf übers Netz zu geben.« Suse zeigte eine grenzenlose Geduld mit Pauls Erstversuchen.

Paul gab sich Mühe, Suses Anweisungen nachzukommen. Aber wie eine Lerche schwang sich sein Tennisball hoch in die Lüfte.

»Mensch, du zielst wohl nach der Sonne – da unten auf der Erde ist das Netz«, rief Herbert dazwischen.

Paul lachte über seine eigene Ungeschicklichkeit.

»Du hast einen recht ungelehrigen Schüler, Suse. Ich habe es euch ja gleich gesagt, ich tauge nicht dazu – an mir ist Hopfen und Malz verloren.«

»Schadet nichts. Du siehst schon nicht mehr so aus wie Braunbier und Spucke. Und einen Pudel richtet man schließlich auch ab«, meinte Herbert. »Mehr Faust, Mensch, hau doch, was du kannst, aber nicht in die Luft, den Ball mußt du treffen – feste!«

Paul holte aus – ein Schmerzensruf – o weh – er hatte ein Ballmädel vom Nebenplatz, das einen verschlagenen Ball zurückholen wollte, getroffen. Es hielt sich weinend den linken Arm.

»O Gott, tut es sehr weh, Kleine? Ich habe dich doch nicht verletzt?« Mit entsetzten Augen blickte Paul auf das weinende Kind. Auch Suse und Herbert eilten erschreckt hinzu.

»Au weih – au weih – au, mein Arm – ich kann ihn gar nicht bewegen, den haben Sie mir kaputt geschlagen – uijeh – uijeh!« Das Mädel barg den Kopf mit dem rötlichen Haar in beide Arme.

»Zeige mal her, Mädel, wo tut's denn weh?« wandte sich Herbert tatkräftig an das weinende Mädchen. Das hob den Kopf. Ein sommersprossiges, verweintes Gesicht kam zum Vorschein und – »das ist ja Tinchen Schiller!« rief Suse überrascht aus.

Das Barfüßchen rieb sich bei Nennung seines Namens die Tränen aus den Augen. Ach so, Professors Zwillinge aus dem Sternenhause! Tinchens Mutter wusch dort die Wäsche. Und Suse war immer gut zu dem Kinde gewesen. Blitzschnell zogen diese Gedanken hinter der niedrigen Kinderstirne. Dann erinnerte sich Tinchen wieder ihres kranken Armes. Sie brach aufs neue in »uijeh – uijeh« und in die dazugehörigen Tränen aus.

Suse streifte behutsam Tinchens vielfach geflickten Ärmel in die Höhe. Ein roter Fleck wurde am linken Oberarm sichtbar, wo der Tennisschläger gegengeprallt war.

»Wir müssen mit Wasser kühlen«, schlug Suse verständig vor. »Herbert, drüben ist ein Brunnen. Bitte, feuchte unsere beiden Taschentücher an.« Sie zog ihr sauberes Tüchlein aus der Tasche.

»Geht nicht, habe eine wunderbare Raupe in meinem Taschentuch. Ich muß beobachten, wie der Schmetterling auskriecht.« Die Raupe war Herbert wichtiger als Tinchen Schiller.

»Davon wird's auch nich wieder heile«, jammerte Tinchen. »Sie haben mir meinen Arm kaputt geschlagen. Ich kann nu überhaupt keine Bälle nicht mehr aufklauben. Das Geld, was ich dadurch verlieren tu, müssen Sie bezahlen«, wandte sich Tinchen an den ganz geknickt dastehenden Paul. Es war erstaunlich, wie das noch nicht dreizehnjährige Mädel sofort Nutzen aus ihrem Unfall zu ziehen wußte.

Dem armen Paul sank das Herz. Er sollte für die Verletzung des Mädels aufkommen, Schadenersatz leisten – um Himmels willen, wovon denn? Er hatte wirklich keinen Pfennig übrig. Zum Tennisspiel hatte Professor Winter ihn eingeladen, weil er wünschte, daß Paul gesunden Sport bei dem vielen Bücherhocken triebe. Ratlos sah Paul Suse an.

Die fühlte sich verpflichtet, ihrem Freunde zu Hilfe zu kommen. »Der Paul hat allein kein Geld, Tinchen«, erklärte sie dem noch immer »uijeh – uijeh« stöhnenden Mädchen. »Aber wir werden alle zusammenlegen. Jeder gibt zehn Pfennige. Mehr als fünfzig Pfennige hättest du bestimmt heute nicht verdient«, beruhigte sie die Weinende. Bei dem Worte »fünfzig Pfennige« stellte Tischen ihr »uijeh – uijeh« ein. Doch blitzschnell überlegte sie, daß eine Mark mehr wäre als fünfzig Pfennige, und sie begann aufs neue ihr Jammergeheul.

Inzwischen war Herbert mit dem nassen Tuch vom Brunnen zurückgekehrt. Suse machte Tinchen einen Verband. Aber diese wehrte sich und schrie: »Es brennt – es brennt immer doller.« Eine Mark war das mindeste, was man ihr Schmerzensgeld zahlen mußte.

Vom Nachbarplatz rief die in höchstem Eifer spielende Helga: »Bälle – Bälle! Wo bleibt denn das Ballmädel? Wenn du so langsam bist, Mädel, können wir dich nicht gebrauchen.«

Suse verständigte Helga von der Verletzung, denn Herbert wollte nichts mehr mit der »Martinsgans« zu tun haben.

»Solche Ungeschicklichkeit!« räsonierte Helga in ihrem Spieleifer. »Hab' ich's dir nicht gleich gesagt, Suse, der Paul paßt nicht zum Tennisspiel! Also weiter – weiter – schicke uns einen andern Balljungen, Suse.« Keine Minute wollte sich Helga entgehen lassen.

Inge, die dem Tenniskampf der Schwester zugeschaut hatte, begleitete Suse zu dem verletzten Kinde.

»Es ist sicher nur äußerlich«, meinte sie, als sie bei Erneuerung des Umschlages den roten Fleck gewahr wurde.

»Nee, es ist innerlich – ganz tief innerlich«, heulte Tinchen.

»Dann muß man eine Röntgenaufnahme machen«, schlug Herbert mit wichtigem Gesicht vor.

»Tut das weh?« erkundigte sich Tinchen ängstlich.

»Mächtig«, meinte Herbert gerade nicht beruhigend, »wenn der Arm wieder eingerenkt werden muß.«

»Dann heilt's am Ende auch von alleine. Wenn ich 'ne Mark kriege, kann ich meinen Arm ja auch noch morgen schonen.« Da keiner antwortete, denn eine Mark war viel Geld für die Mädel und Jungen, tat es Tinchen leid, daß sie nicht noch mehr verlangt hatte. »Aber am Ende kann ich die ganze Woche nicht auf den Tennisplatz, dann kostet es noch mehr.«

Der Student, mit dem Helga spielte, hielt im Abschlagen der Bälle inne. »Gnädiges Fräulein, ich halte es für meine Pflicht, mich erst mal als Mediziner um das verletzte Kind zu kümmern.«

»Ach was, wir waren gerade so schön im Zuge. Wollen wir nicht wenigstens das Spiel erst noch beendigen?« Trotzdem sie wieder »gnädiges Fräulein« genannt worden war, schien Helga sehr ungnädig, daß sie mitten im Spiel unterbrechen sollte. Der ungeschickte Paul – was hatte der auch auf dem Tennisplatz zu suchen? Helga war fuchtig auf den armen Jungen.

stud. med. Hesse, der gerade erst ein Anatomiesemester hinter sich hatte, untersuchte inzwischen den Arm des verunglückten Tinchens nach allen Regeln der Kunst. Er drehte ihn nach rechts und nach links, nach oben und nach unten. Aus Furcht vor der möglichen Röntgenuntersuchung stieß Tinchen kein »uijeh – uijeh« aus, sondern blieb stumm.

»Der Arm ist richtig im Gelenk drin«, stellte der junge Mediziner fest.

»Was der davon versteht!« brummte Herbert seinem Zwilling zu; denn er hatte es noch nicht verwunden, daß er ihn bei Helga verdrängt hatte.

»Ob irgendein Knochen abgesplittert ist, kann nur bei einer Durchleuchtung mit Sicherheit erwiesen werden«, fuhr der Student in seiner ersten ärztlichen Sprechstunde fort.

»Habe ich ja gleich gesagt«, triumphierte Herbert, der Gernegroß.

»Womit durchleuchten Sie – mit Feuer?« erkundigte sich Tinchen unbehaglich.

»Nein, mit Röntgenstrahlen, mein Kind. Wenn die Schmerzen sich nicht bessern, müßte man eine Röntgenaufnahme von dem Arm machen.«

»Es ist schon besser, viel besser ist es schon«, behauptete Tinchen, eingedenk dessen, daß eine Röntgenaufnahme »mächtig weh« tun sollte.

Während Paul noch überlegte, wo er vielleicht doch noch etwas sparen könnte, falls man ihn für die ärztlichen Behandlungskosten etwa haftbar machen sollte, und zu dem Entschluß gekommen war, abends statt Butter Salz zum Brot zu essen, wandte sich die Verunglückte plötzlich an ihn.

»Wenn Sie mir eine Mark geben, dann werde ich mal versuchen, ob ich bloß mit dem gesunden Arm Bälle aufklauben kann«, schlug Tinchen vor.

Paul kramte in seiner Hosentasche und brachte zwei Zehner zum Vorschein. Mehr hatte er im Augenblick selber nicht.

Aber Herbert drängte sich geschäftstüchtig dazwischen. »Du bist wohl total hops, Tinchen? Wenn du weiter Bälle aufklauben kannst, brauchst du keine Entschädigung. Dein rechter Arm ist ja heil«, entschied er.

Einen bitterbösen Blick warf ihm Tinchen zu. Inzwischen hatten Suse und Inge die Köpfe zusammengesteckt und miteinander geflüstert.

»Wir werden Tinchen jeder zehn Pfennige Schmerzensgeld geben, nicht wahr, Herbert?« wandte sich Suse bittend an den Bruder.

»Wir sind Zwillinge, da genügen zehn Pfennige für uns beide.«

»Sei nicht solch ein Geizkragen, Herbert. Für deine Viecher hast du immer Geld übrig«, stellte ihm Suse vor.

»Die sind auch viel interessanter als Tinchen Schiller«, brummte der Bruder. Aber als er sah, daß der Student zehn Pfennige stiftete, brachte er auch unter mehreren abgerissenen Knöpfen noch ein Zehnpfennigstück zum Vorschein. Hinter dem Studenten wollte er nicht zurückstehen.

Tinchen Schiller wurde mit ihren fünfzig Pfennigen als geheilt entlassen. Sie vergaß allmählich beim Zureichen der Bälle im Berufseifer, welcher Arm eigentlich der verletzte war, ob der rechte oder der linke.

Die Parteien wandten sich aufs neue dem edlen Tennissport zu. Helga gewann ihr Spiel. Sie schnitt wieder glänzend ab, fünf Spiele zu eins. Als sich ihr Partner, stud. med. Hesse, von dem »gnädigen Fräulein« verabschiedet hatte, wandte sich Helga an Herbert Winter, der seinem Freund Krause das Ehrenwort abgenommen hatte, daß über Helga Martin »der große Bann« verhängt werden solle. Für jeden von der Untersekunda sollte sie künftig Luft sein. Dieses Ehrenwort war nicht so einfach zu geben. Denn Helga, das frische, lustige Sportmädel, erfreute sich besonderer Beliebtheit bei allen Wanderungen und Veranstaltungen der Jugend Jenas.

»Wer von euch will es noch mal gegen mich wagen?« rief Helga mit lauter Stimme zu den Plätzen hinüber, wo Herbert Winter gegen Hans Krause und Suse gegen Inge spielte. Helga tat, als ob sie gar nicht wisse, daß sie Herbert tödlich beleidigt habe. Paul Liedtke feierte, er sah zu. Er mußte sich von den Anstrengungen erholen, wie er vorgab. Im Grunde aber wollte er den andern Gelegenheit geben, sich von ihm zu erholen. Denn Paul war stets bescheiden und rücksichtsvoll.

Herbert blinkte seinem Intimus Krause zu. Luft! besagte dieser Blick, sie ist Luft für uns. Keiner von den Jungen antwortete, trotzdem es Krause schwer wurde; denn er verehrte Helga.

»Seid ihr taubstumm, ihr beide?« lachte Helga sie aus. »Ach, die gekränkte Leberwurscht – und Krause läßt sich von Winter ins Schlepptau nehmen. Na, viel Vergnügen; ihr seid mir beide zu doof!« Stolz wie eine Königin wandte sie sich zu dem nächsten Tennisplatz.

»Abgeblitzt!« triumphierte Herbert.

»Ich finde eigentlich, daß wir die Abgeblitzten sind«, meinte Hans Krause kleinlaut. »Sprecht euch doch lieber miteinander aus, wenn ihr euch gekabbelt habt. Beleidigt sind nur Backfische – das ist unmännlich.«

»Oho – ich bin durchaus nicht beleidigt«, schwindelte Herbert, »aber ich habe den großen Bann über die Martinsgans verhängt. Wenn du mein bester Freund sein willst, mußt du sie ebenfalls verachten.«

Noch einen Abschiedsblick warf Hans Krause wehmütig zu der blonden Helga hinüber. Dann siegte die Freundschaft. Er verachtete ebenfalls.

Inge und Suse, die beiden Freundinnen, waren durch das trennende Tennisnetz zu Gegnerinnen geworden. Aber es tobte kein erbitterter Kampf zwischen ihnen. Sie waren beide nur mittelmäßige Spielerinnen. In aller Gemütlichkeit flogen die Bälle hin und her. Lustiges Lachen begleitete jeden verschlagenen Ball.

Der leidenschaftlich dem Sport ergebenen Helga war solch ein Spiel ohne jeden Ehrgeiz, ohne Aufregung und ohne Einsetzen seiner ganzen Persönlichkeit unfaßbar. »Hoppla, Suse, lauf, spring doch! Menschenskind, sei bloß nicht so tranig, du läufst ja wie 'ne Schnecke«, regte sich Helga auf. Dann gab sie wieder ihrem Zwilling Ratschläge: »Nimm die Bälle gleich am Netz, Inge – so – scharf nach unten hauen, rückhändig hättest du ihn besser genommen. Ach, Kinder, ihr spielt ja unter aller Kritik!« Jetzt wandte sie sich Paul zu, der im Schatten einer Akazie sich von der Aufregung, die Tinchen Schiller verursacht hatte, erholte und sich nur wunderte, daß die Kleine so schnell wieder geheilt war. Denn daß Tinchen nur Theater gemacht hatte, um Geld herauszuschlagen, das kam dem ehrlichen Paul nicht in den Sinn.

»Na, du Unglückswurm, soll ich mal ein Training mit dir machen?« fragte Helga, einer gutmütigen Regung folgend. »Aber die Puste wird dir dabei ausgehen, Paul.« Von den Jugendwanderungen her duzte sich alles.

Aber zu ihrer Erleichterung schüttelte Paul den dunkelblonden Schädel. »Laß nur, Helga – ich will mir nicht für immer deine Ungnade zuziehen«, lehnte er lächelnd ab.

»Du paßt auch zum Tennisspiel wie eine Seerobbe zum Flieger«, lachte das Mädchen ausgelassen.

»Kein sehr schmeichelhafter Vergleich, aber du wirst schon recht haben«, stimmte Paul zu.

»Sag mal, Paul«, Helga nahm neben ihm auf der Bank Platz, »wozu büffelst du eigentlich so doll? Du siehst aus wie weißer Käse. Zum Optiker oder Mechaniker an den Zeiß-Werken brauchst du doch nicht solche Büchergelehrsamkeit. Treibe lieber mehr Sport. Das ist gesünder. Oder willst du am Ende gar Professor an unserer Universität werden?« Helga brach in ein spöttisches Lachen aus.

Ja, wollte Paul erwidern, ich weiß wohl, daß ich mir mein Ziel unbescheiden hoch gesteckt habe. Aber manch einer unserer größten Gelehrten hat sich aus dürftigen Verhältnissen emporgearbeitet. Jedoch vor dem Spottlachen des Mädchens schwieg er errötend.

Helga lachte jetzt erst recht. »Hahaha, der Paul wird rot wie ein Backfisch«, hänselte sie ihn. »Also, Herr Professor, warum willst du nicht gleich auch Tennismeister werden?« Das eine erschien Helga so unmöglich wie das andere.

Suse, die unweit der Bank Bälle gab, wurde aufmerksam. Dieses Spottlachen Helgas kannte sie. Sie wußte, wie weh das tun konnte. Ihren Freund Paul ließ sie nicht durch Helgas Spott verwunden.

»Helga, willst du für mich einspringen?« unterbrach sie die Unterhaltung der beiden. »Ich bin müde und möchte pausieren.«

»Schon müde? Kannst dich mit Paul zusammen um die nächste Tennismeisterschaft bewerben, Suse.« Helga war sogleich dabei. Suse nahm statt ihrer neben Paul unter der Akazie Platz. Sie schaute in die hängenden zartrosa Blütentrauben über ihrem Haupt.

»Sieh nur, wie schön, Paul, wie ein Blütenhimmel. Bei uns im Garten ist es jetzt auch herrlich – die Rankrosen blühen, und die La-France-Rosen stehen in voller Knospe. Du wirst morgen Augen machen, wenn du zu uns kommst. Ich habe dir einen kleinen Rosenstock eingesetzt und einen Ableger von unserer Zimmerlinde. Die mußt du dir ans Fenster stellen und schön pflegen. Sonst weißt du ja gar nicht, daß wir Sommer haben.«

»Wie lieb von dir, Suse, daß du an mich gedacht hast.« Merkwürdig, wenn Suse Winter mit ihm sprach, wurde dem Paul immer wohl und freudig zumute. Er empfand die Herzenswärme, die von Suse ausging. Helga dagegen stieß ihn stets durch ihr spöttisches Wesen ab. Als ob Suse Gedanken lesen konnte, fragte sie: »Warum hat dich Helga vorhin ausgelacht, Paul?«

»Sie hat mich mit meinem Lernen aufgezogen, ob ich am Ende gar Universitätsprofessor werden will. In den Zeiß-Werken die Kameraden lachen mich auch aus, daß ich immer und ewig bei den Büchern hocke. Aber ich kümmere mich nicht darum. Ich werde mein Abiturium schon machen.« Pauls schmales, blasses Gesicht sah plötzlich energisch und bedeutend aus.

»Laß sie ruhig lachen, Paul. Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Du bestehst sicher dein Abiturium. Du erreichst alles, was du dir vorgenommen hast«, sagte Suse überzeugt.

»Ja, Suschen, glaubst du an mich? Oh, dann ist es viel leichter, die Schwierigkeiten zu überwinden. Wenn einer an mich glaubt, darf ich auch selbst den Glauben an mich nie verlieren«, sagte Paul erfreut.

»Unser Vater setzt große Hoffnungen auf dich, Paul. Neulich erst sagte er zu Mutti: ›In Paul ziehe ich mir mal einen tüchtigen Assistenten heran. Ich wünschte, unser Herbert hätte bei all seiner Begabung nur halb soviel Fleiß und Ausdauer.‹«

»Ich will ihn nicht enttäuschen, sicher nicht!« nahm Paul sich vor. »Anders kann ich ihm seine Güte ja gar nicht danken.« Die Unterhaltung unter der blühenden Akazie wurde plötzlich durch Helgas laut scheltende Stimme unterbrochen. Es fehlte ein Tennisball. Tinchen Schiller, die beauftragt war, ihn auf den Nachbarplätzen zu suchen, kam unverrichtetersache zurück. Herbert und Hans Krause, die Helga nach dem Ball befragte, gaben überhaupt keine Antwort. Das war Helga noch nicht passiert. Solche Nichtachtung der »dummen Jungen« ließ sie sich nicht gefallen. Ihr Ärger entlud sich über Tinchen Schiller.

»Du mußt den Ball herbeischaffen, Mädel, du bist für die Bälle verantwortlich. Neun haben wir gehabt, jetzt sind es nur noch acht. Wenn du den Ball nicht findest, mußt du ihn bezahlen.«

Tinchen brach in Tränen aus. »Ich kann doch nichts dafür, wenn Sie die Bälle verschlagen tun – hu – u – uh«, heulte sie. »Und Geld habe ich auch keins.« Tinchen schluchzte herzzerbrechend. Suse und Paul traten hinzu und ließen sich den Sachverhalt erzählen. »Sicher hat das Mädel den Ball gemaust«, sagte Helga ärgerlich, »die Balljungen und -mädel stehlen wie die Raben Tennisbälle.«

»Nee, ich habe nich geklaut«, behauptete Tinchen weinend. »Wo sollt' ich ihn denn überhaupt haben, hä?«

»Hier – da hast du ihn, du Kröte«, kam da plötzlich Herberts Stimme dazwischen. Wenn er auch Helga in Bann getan hatte, die Sache war doch zu interessant, um sich fernzuhalten. Mit seinen scharfen Augen hatte Herbert sofort erspäht, daß Tinchen in der Magengegend einen runden Auswuchs unter dem Kleide hatte. Ein Boxerstoß, und der gesuchte Tennisball kullerte heraus.

»Warte, du diebische Elster, hier hast du noch ein Andenken an den gemausten Tennisball.« Aufs neue boxte der empörte Herbert das schreiende Tinchen.

»Nicht doch, Herbert, mit Mädchen boxt man nicht.« Paul und Hans Krause zogen den angriffslustigen Herbert zurück.

»Tine Schiller darf nicht mehr auf den Tennisplatz kommen. Keiner nimmt sie mehr als Ballmädel!« verkündete Inge, ebenfalls aufgebracht.

Tinchen heulte zum Gotterbarmen.

»Pfui, Tinchen, schäme dich«, sagte Suse traurig. »Wie konntest du nur so etwas Häßliches tun, einen Ball mausen und dann noch schwindeln? Noch dazu, wo du denselben Namen hast wie unser großer Dichter. Du darfst nicht mehr zu uns ins Sternenhaus kommen, wenn deine Mutter bei uns wäscht.«

»Will ja gar nicht«, rief Tinchen, wütend, daß auch Suse, die sich ihrer schon öfters angenommen hatte, heute gegen sie Partei ergriff. Und – hast du nicht gesehen – da hatte das ungezogene Mädel Suse die Zunge 'rausgesteckt und machte, daß es davonkam.

Auf dem Tennisplatz ließ sich Tinchen Schiller nicht mehr blicken.


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