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13. Kapitel. Wintersnot.

Bis in den Dezember hinein merkte man nicht viel vom Winter in Jena. Die Jugend wurde schon ungeduldig, daß die diesjährigen Winterfreuden gar so lange auf sich warten ließen. Herbert und Helga wollten sich am Jugendskiwettspringen beteiligen. Jeder von ihnen hoffte, den Ersten Preis zu erringen. Aber der Schnee wollte und wollte nicht kommen. Da, eines Nachts schritt er auf weichen Silbersohlen von den Bergen herab und deckte die alte Universitätsstadt mit weißen Flockenbetten bis über die Nase zu. Die spitzen Giebel, die Gassen und Tore trugen schlohweiße Pelzmützen. Alles still und feierlich. Kein Wagen rollte. Nur Kinderjauchzen unterbrach die Stille der Stadt.

Eisgepanzert zog das neue Jahr in die Welt. Grimmige Kälte löste sein Frostatem aus. Die Saale war trotz starker Strömung zugefroren. Scharfer Nordost blies das an den weißen Schneehängen vergebens Schutz suchende Jena unbarmherzig an. Die Spatzen erfroren oder verhungerten. Jeden Morgen streute Suse auf den Schnee in ihrem Garten Futter für die Vögel. Es war ein tolles Balgen und Raufen unter den gefiederten Bettlern um die Brosamen, die man ihnen gönnte. Bis Bubi oder Piccola sie davonscheuchte.

Nicht nur die Vögel draußen unter freiem Himmel froren und hungerten. Auch die Menschen in den Häusern krochen um den Herd oder den Kachelofen zusammen. Wohl dem, der einen Ofen hatte und Kohlen und Holz, um ihn zu heizen.

Im Sternenhaus hatte man seinen Kohlenvorrat für die Zentralheizung bereits im Sommer eingefahren. Dort fror man nicht. Trotzdem predigte der Professor, daß man die Kohlen strecken müsse und nicht unvernünftig darauflosfeuern dürfe, wie das die Emma nur allzugern tat. Man wisse nicht, wie lange die Kälte andauern würde. Neue Vorräte wären nicht zu haben und auch zu kostspielig.

Warm umfing es Paul, wenn er am Sonntag das Sternenhaus betrat. Äußerlich und innerlich wärmte er sich dort auf. Denn der arme Paul fror gottsjämmerlich. Kohlen kosteten Geld. Und Paul hatte in diesem kalten Winter kein Geld, seine Stube zu heizen. Er hatte die Optikergehilfenstelle an den Zeiß-Werken aufgeben müssen. Seine Hoffnung, als Werkstudent vormittags in den Zeiß-Werkstätten weiter arbeiten zu können und nur die Nachmittage und Abende für das Studium zu verwenden, hatte sich nicht erfüllt. Sein Arm hatte die frühere Gebrauchsfähigkeit trotz elektrischer Massage, Höhensonne und Diathermie nicht wieder erlangt. Bei längerer praktischer Arbeit versagte er und wurde lahm. Paul mußte seinen Abschied von den Optikerwerkstätten nehmen.

Das war ein bitterer Schlag. Das bedeutete eine große Einbuße für Pauls ohnehin schon so bescheidenen Geldbeutel. Zwar hatte Professor Winter ein Universitätsstipendium für ihn erwirkt, zwar bekam er in der »Mensa«, der Studentenspeisung, freien Mittagstisch, aber für Kohlen reichte das Geld nicht, so oft Paul auch den Pfennig hin- und herdrehte.

»Heizt deine Wirtin auch gut, Paul?« erkundigte sich Suse an einem der kalten Januarsonntage fürsorglich. Wie gut, daß sie Paul zu Weihnachten einen warmen Wollschal gestrickt hatte.

Paul lachte. »Ihre Küche wird sie wohl heizen, denn sie kocht doch auf dem Herd das Essen.«

»Und deine Stube, Paul? Arbeitest du etwa bei dieser schrecklichen Kälte im ungeheizten Zimmer?« fragte Suse entsetzt.

»I wo«, behauptete er.

»Du schwindelst, Paul! Ganz rot bist du geworden. Also beichte!« bestürmte ihn das Mädchen.

»Ich arbeite immer in geheizten Räumen. Entweder in der Universität oder in der Bibliothek des Volkshauses, wo es herrlich warm ist«, beruhigte Paul sie.

»Ja, aber des Abends! Abends ist sowohl die Bibliothek wie die Universität geschlossen. Du hast mir selbst erzählt, daß du oft bis in die Nacht hinein studierst. Und Abendbrot mußt du auch in der eiskalten Stube essen, du armer Junge du!« regte Suse sich auf.

»Ist ja nur halb so schlimm, Suschen. Ich lerne eben, daß mir der Kopf raucht, damit ich nicht friere«, scherzte Paul.

»Dann kriechste einfach ins Bett, wenn dir kalt ist«, entschied Herbert, dem es weniger naheging als der weichherzigen Suse, daß Paul nicht heizen konnte. »Kalt schlafen ist sogar sehr gesund.«

»Ja, du hast dein warmes Zimmer, Herbert, da läßt sich leicht so sprechen«, wandte sich Suse gegen den Bruder. Und zur eintretenden Mutter fügte sie hinzu: »Muttichen, der arme Paul muß frieren, er hat keine Kohlen, sein Zimmer bei dieser Eiskälte zu heizen. Unser Fremdenzimmer steht doch leer. Und ganz absperren kann man die Heizung dort nicht, weil sonst die Röhren einfrieren, hat Vater gesagt. Kann der Paul während der Kälte nicht bei uns im Fremdenzimmer wohnen?« Suses Braunaugen baten noch mehr als ihr Mund für den Freund.

»Aber natürlich, Paul.« Die menschenfreundliche Frau war sogleich damit einverstanden. »Du siedelst auf ein paar Wochen zu uns über, bis es wieder wärmer ist.«

Das war ein sehr verlockender Vorschlag. Täglich in dem lieben Kreis zu weilen, in der warmen, Behagen ausströmenden Häuslichkeit – es gehörte viel Kraft dazu, um die freundliche Aufforderung abzulehnen. »Es ist wirklich nicht nötig, Frau Professor, ich danke Ihnen herzlich. Die paar kalten Wochen gehen schnell vorbei. Am Tage bin ich nicht zu Hause, und des Abends mache ich es so, wie Herbert es mir geraten hat, ich lege mich ins Bett.« Daß er nicht einmal im Bett warm wurde, das verschwieg Paul. Er wollte die lieben Menschen, die schon so viel für ihn taten, nicht noch mehr in Anspruch nehmen, als unbedingt nötig war. Paul hatte auch seinen Stolz.

Suse war gar nicht damit einverstanden. Sie kannte den Freund besser als die andern. Sie durchschaute auch seine Beweggründe zu der Ablehnung.

»Vatichen, Herbert und ich, wir haben die Heizung in unsern Zimmern jetzt immer nur auf halb gestellt. Herbert sagt, kalt schlafen sei gesünder. Man härtet sich damit ab. Erlaubst du wohl, daß wir Paul die Kohlen, die wir in unsern Zimmern sparen, hinbringen? Der arme Junge hat gar keine Kohlen zum Heizen.« So bat Suse an einem der nächsten Tage den Vater.

Der zog die Augenbrauen hoch. »Kind, es ist leichtsinnig, bei dieser ungewöhnlich starken Kälteperiode, die noch wochenlang anhalten soll, seinen Kohlenvorrat zu verringern. Es sind allenthalben Stockungen in der Kohlenzufuhr. Wir bekommen so bald keine neuen Kohlen. Lieber gebe ich dem Paul Geld. Vielleicht kann seine Wirtin ihm Kohlen besorgen.«

»Geld nimmt der Paul nicht«, sagte Suse traurig über die Ablehnung.

»Sei mal verständig, mein Mädel. Denke mal, wenn wir keine Kohlen mehr hätten und unsere alte Omama müßte frieren, das wäre doch noch schlimmer. Paul ist ein junger Bursche«, stellte der Professor seinem Töchterchen vor.

»Dann stellen wir der Omama einfach einen elektrischen Ofen auf«, schlug Herbert vor.

»Und wer bezahlt ihn?« fragte der Vater. »Du nimmst den Mund sehr voll, mein lieber Sohn. Du weißt noch nicht, wie schwer Geldverdienen ist. Du verstehst nur, das Geld auszugeben.«

»Also wir werden mal Pauls Wirtin fragen, ob sie ihm den Ofen heizen kann, wenn wir es ihr bezahlen«, überlegte Suse. »Du brauchst uns das Geld gar nicht zu geben, Vati. Wir nehmen unser Weihnachtsgeld von Onkel Ernst, nicht wahr, Herbert?«

»Nee«, lehnte Herbert deutlich ab. »Fällt mir nicht im Traume ein. Für Onkel Ernsts Geld sollten wir uns was kaufen, was uns Freude macht. Ich denke jeden Tag darüber nach, was ich alles dafür kaufen werde.«

»Aber kann uns denn irgend etwas mehr Freude machen, als wenn Paul nicht mehr frieren muß? Denke mal, Herbert, wenn er abends nach Hause kommt und findet eine warme Stube vor. Wie er sich dann wohl freuen würde«, malte Suse dem Bruder lebhaft aus.

»Wir sollen uns freuen, hat Onkel Ernst geschrieben, nicht der Paul«, stellte Herbert sachlich fest. »Weiber sind furchtbar unlogisch. Entweder kaufe ich mir für das Geld eine Schildkröte oder dressierte Flöhe«, überlegte Herbert.

»Um Gottes willen keine Flöhe! Nachher sind sie nicht dressiert genug und kommen in mein Zimmer gehopst«, rief Suse aufgeregt. »Und überhaupt, der Paul braucht eine warme Stube viel nötiger als du deine Flöhe!«

»Du bist ja immer auf Pauls Seite, als ob er dein Zwilling wäre und nicht ich«, knurrte Herbert eifersüchtig.

»Nun hört mal, Kinder«, schlichtete der Vater belustigt den Streit, »ich habe mir die Sache überlegt. Pauls Wirtin wird auch für Geld im Augenblick keine Kohlen auftreiben können. Und Suse möchte den Paul doch so gern mit einem warmen Zimmer überraschen. Also so viel Kohlen, wie ihr auf euren Rodelschlitten laden könnt, dürft ihr dem Paul hinbringen.«

»Hurra!« rief Suse begeistert und hing sich an des Vaters Hals. »Du bist mein allerbestes Vatichen!«

»Kleine Schmeichelkatze!« Voll Vaterstolz blickte der Professor auf sein hübsches Mädel, das nicht mehr viel kleiner war als er.

Am Nachmittag entwickelten Professors Zwillinge lebhafte Tätigkeit. Im Kohlenkeller luden sie einen großen Sack voller Kohlen trotz Emmas Protestes, daß der Herr wieder meinen würde, sie hätte die ganzen Kohlen verfeuert. Herbert spannte sich vor, Suse schob hinten nach. Es ging tadellos.

Brrr – war das eine Kälte! Man sah kaum Menschen auf der Straße. Und die wenigen, die ihr Beruf hinausführte, rannten, als ob sie noch rechtzeitig zum Zuge kommen müßten. Obgleich man die Rodelmützen ganz über die Ohren gezogen hatte, schnitt der Wind einem ins Gesicht, machte die Hände trotz dicker Wollhandschuhe erstarren.

»Die Eisbahn ist wegen der Kälte geschlossen, weil doch keiner kommt. Ist das nicht paradox?« stieß Herbert, seine Finger reibend, hervor. Sein Atem ging gleich einer Dampfwolke aus dem Munde. »Wie der rauchende Vesuv«, fand Suse.

»Paradox – was ist das? Heißt das gemein?« fragte Suse, von einem Fuß auf den andern trampelnd, um sich zu erwärmen.

»Hahaha«, trotz der Kälte brach Herbert in ein wieherndes Gelächter aus. »Mensch, bist du doof! Und du willst Ostern die Reife für Obersekunda haben? Kennst wohl nur Paragraph und allenfalls noch Parapluie.«

»Parapluie heißt Regenschirm, aber paradox haben wir im Französischen noch nicht gehabt«, verteidigte sich Suse.

»Ist doch auch griechisch, Kamel.«

»Na, was bedeutet es denn?«

»Es bedeutet – das bedeutet, wenn man ...«

»Das bedeutet, wenn man ..., so darf man keine Erklärung beginnen, sagt Professor Martin.«

»Na, dann frage doch gefälligst deinen Professor Martin danach.«

»Nee, das ist mir peinlich, wenn der mich für dämlich hält. Aber Inge kann ich danach fragen, die weiß das sicher noch besser als du.«

»Na, nu brat mir einer 'n Storch, aber die Beene recht knusprig!« rief Herbert empört. »Kann die Martinsgans etwa griechisch? Ist sie auf einem humanistischen Gymnasium? Na also!« Das konnte Herbert nicht vertragen, daß einer etwas besser wußte als er. »Also, nu knöpf die Ohren auf. Paradox ist ein weißer Mohr, schwarzer Schnee, eine bergige Ebene, salziger Zucker – also verstehste?«

»Nee«, sagte Suse verständnislos, »was hat der Mohr, der Schnee und der Zucker mit dem Paradoxen zu tun?«

»Aber mit dem Ochsen, der bist du nämlich! Das Adjektiv drückt beim Paradox gerade den Gegensatz zu dem Substantiv aus, hebt den Begriff desselben auf. Klar, Mensch?«

Suse zuckte die Achsel. Ganz hatte sie's noch immer nicht begriffen.

»Dir ist sicher der Verstand bei der Kälte eingefroren.« Herbert setzte sich in Trab, denn es war wirklich zu kalt zu weiterer Unterhaltung. An der Straßenecke rannte er gegen ein Mädel an, das mit gesenktem Kopf gegen den Wind lief.

»Achtung! Lauf nicht wie ein Stier!« rief Herbert dem Mädel wenig ritterlich zu.

Das Mädel hob den von einem Tuch vermummten Kopf – das verfrorene Gesicht Tinchen Schillers wurde sichtbar.

»Tag, Tinchen. Wo willst du denn bei der Kälte hin?«

»Zur Bahn, ob ich nicht ein paar Kohlen beim Abladen erbetteln kann. Meine Mutter liegt krank, und ich kann nicht mal Feuer machen, um ihr was Warmes zu kochen.«

»Nimm doch Holz«, schlug Herbert vor und wollte weiter, denn zum Stehenbleiben war es zu eisig.

Suse hielt ihn zurück und tuschelte ihm was ins Ohr. Aber durch die dicke Wollmütze verstand Herbert nichts.

»Kannste mir alles zu Hause erzählen. Komm bloß endlich. Ich bin schon das reine Eisbein mit Sauerkraut.«

»Wir wollen Tinchen die Hälfte von den Kohlen abgeben, Herbert. Weil ihre Mutter krank ist und Paul ist gesund«, sagte Suse jetzt mit lauter Stimme.

»Meinetwegen«, brummte Herbert. »Hoffentlich hat das Mädel nicht wieder geschwindelt.« Er traute Tinchen nicht recht.

»Du willst mir Kohlen schenken?« Tinchen stand starr vor Kälte und vor soviel Güte. »Ich möchte dir auch mal was zuliebe tun«, sagte sie dankbar zu Suse, während der Schlitten in die Schillergasse, in der Tinchen wohnte, einbog.

»Brauchst uns bloß keine Tennisbälle mehr zu mausen«, lehnte Herbert ab.

Tinchen wurde feuerrot. Ein Kind mag noch so verwahrlost sein, etwas Gutes lebt immer noch in ihm. Und dieses Gute galt bei Tinchen dem Mädel aus dem Sternenhaus.

Die Hälfte der Kohlen – Herbert zählte sie gewissenhaft – wurde bei Tinchen abgeladen, die andere Hälfte erhielt Pauls Wirtin mit der Weisung, ihm jeden Tag davon sein Zimmer zu heizen.

»Die klaut sicher und brennt von Pauls Kohlen mit. Ich hätte ihr sagen sollen, es sind fünfzig Stück, da muß sie fünf Tage reichen«, überlegte Herbert auf dem Heimwege.

»Die Frau sah so elend aus – es ist nicht schlimm, wenn sie sich auch davon Feuer macht«, meinte Suse mitleidig.

»Du kannst nicht die ganze Welt beglücken. Es frieren und hungern noch mehr Leute.« Diese Worte Herberts kamen Suse in den Sinn, als sie später wieder daheim in der molligen Stube saß und an all die dachte, die es nicht so gut hatten wie sie. Dann aber gab ihr die Vorstellung, wie freudig überrascht Paul bei seiner Heimkehr abends sein würde, und daß Tinchens Mutter jetzt sicher auch eine warme Suppe bekommen habe, wieder frohe Befriedigung.

Die Kälte nahm noch immer zu statt ab. Die Jugendskiwoche wurde verschoben. Kein Mensch hatte Lust, sich Nase und Ohren zu erfrieren. Selbst Helga, dem Sportmädel, war es zu eisig zum Trainieren.

In den Schulen konnte nur noch ungenügend geheizt werden. Schnupfen und Husten waren die Folge davon. Und bald kehrte neben Kälte und Not noch ein anderer Gast in die Stadt ein – die Grippe hielt ihren Einzug.

Im Sternenhaus stand immer heißer Kaffee auf dem Herd, wenn ein Armer anklopfte. Emma durfte keinen abweisen, der um etwas Warmes bat. Suse hatte Tinchen ihren ausgewachsenen Wintermantel hingetragen. Denn es war ihr aufgefallen, daß das arme Mädchen nichts weiter als ein Tuch gegen die grimmige Kälte zum Schutz hatte. Auch in der Schule wandte man sich an die Hilfsbereitschaft der Jugend. Die Schüler und Schülerinnen wurden aufgefordert, die Sorge für arme, alte Leute, die nicht mehr fähig waren, ihren Unterhalt zu verdienen oder für sich selbst zu sorgen, zu übernehmen. »Altershilfe« nannten es die Lehrer. Wie gern meldete sich die Jugend dazu. Alle wollten sie helfen.

Unter den Namen, die von einer langen Liste verlesen wurden, war auch der Name der alten Frau Kahlert, für die Suse vor Jahren mal Schnee geschaufelt hatte, die ihr zum Dank dafür die kleine Myrte geschenkt hatte. Suse meldete sich lebhaft – Frau Kahlert mußte sie helfen, die sollte ihr Schützling werden. Warum wohl ihr Sohn, mit dem sie damals zusammen wohnte, nicht mehr für sie sorgte?

Auch die Mitschülerinnen erhielten jede eine Pflegschaft für arme, alte Leute. In den Zwischenpausen machte man nicht wie sonst Pläne, Eistouren die Saale hinab, Schneeschuhwanderung über den Rennsteig bis Oberhof oder Bobwettfahren zu veranstalten, sobald das Thermometer, das jetzt stets unter zwanzig Grad war, etwas stieg. Nein, man beschäftigte sich mit seinen Schützlingen, wie man denen helfen konnte, was man ihnen alles Gute antun wollte.

»Vor allem müßt ihr doch erst mal sehen, woran es ihnen fehlt«, unterbrach Helga die phantastischen Überlegungen der Schulkameradinnen.

»Die können sicher alles brauchen«, meinte Inge.

»Aber keine seidenen, abgelegten Blusen und keine Halbschuhe mit hohen Absätzen, wie Hilde und Ruth sie für ihre Schützlinge mitnehmen wollen. Ein Pfund Speck ist ihnen sicher lieber.« Helga war durch und durch praktisch.

Suse führte ihre Vornahme, gleich nach Schulschluß ihren Schützling zu besuchen und dort nach dem Rechten zu sehen, aus. Oh, sie wußte noch genau, wo sie wohnte, die gute Alte. An den kleinen Fenstern hatten immer blühende Blumenstöcke gestanden. Heute wurde man vor Eisblumen, welche die niedrigen Fenster ganz und gar überzogen, nichts davon gewahr.

Suse pochte an die kleine Tür. Ein mattes Herein forderte zum Nähertreten auf.

»Guten Tag, Frau Kahlert, ich wollte mal sehen, wie es Ihnen geht«, sagte Suse eintretend mit heller Stimme. Der Fensterplatz, an dem die alte Frau sonst strickend zu sitzen pflegte, war leer.

»Wer ist da?« fragte eine schwache Stimme aus der Ecke, wo das Bett stand.

»Ich bin es, die Suse Winter, der Sie damals die kleine Myrte geschenkt haben, Frau Kahlert. Der Myrtenstock geht fein fort. Einmal hat er schon geblüht«, berichtete Suse.

»Ich weiß – ich weiß – Sie sind ein gutes Kind, ein braves Kind! Sie haben mir beim Schneeschippen geholfen. Wie lieb von Ihnen, daß Sie mich besuchen tun, Fräulein Winter«, hüstelte die alte Frau.

»Ich möchte Ihnen auch jetzt gern wieder helfen, Frau Kahlert. Darum bin ich gekommen. Aber ›Fräulein Winter‹ dürfen Sie nicht zu mir sagen. Ich bin erst im Herbst fünfzehn gewesen; nächstes Jahr werde ich erst eingesegnet. Sind Sie krank, daß Sie im Bett liegen müssen?« erkundigte sich Suse teilnehmend.

»Nu nä – nu nä – das nu gerade nicht. Nur die Gicht plagt mich arg, ganz steif sind mir meine Hände und Füße. Und auf der Brust hab' ich's auch – nu jä, ist ja kein Wunder nicht bei dieser Kälte.« Ein erneuter Hustenanfall unterbrach den Bericht der alten Frau.

Suse blickte sich im Stübchen um. Man sah, daß die Alte nichts dort schaffen konnte. Denn die kleine Stube, die damals blitzsauber gewesen, machte einen verstaubten und verwahrlosten Eindruck. Auch die sonst treulich gepflegten Blumentöpfe an den Fenstern hingen kümmerlich und vertrocknet. Es war so kalt in der Stube, daß man seinen Atem sah.

»Wo ist denn Ihr Sohn, der bei Ihnen gewohnt hat, Frau Kahlert? Kann der denn nicht für Sie sorgen?« forschte Suse.

»Der Karle – nu nä! Der ist fortgemacht von Jena. Der arbeitet jetzt in Rudolfstadt. Und geheiratet hat er auch, der Karle. Da muß er froh sein, wenn er selber mit seiner Familie durchkommen tut.«

»Und wer sorgt für Sie?« erkundigte sich Suse voller Teilnahme. Schrecklich, wie verlassen und einsam das alte Mütterchen hier lag.

»Nu, wer wird für mich sorgen? Unser lieber Herrgott da droben! Und manchmal tut auch eine gute Nachbarin nach mir sehen und bringt mir einen Teller warme Suppe oder einen Topf heißen Kaffee. Viel braucht man ja nicht mehr, wenn man alt ist.« Wieder unterbrach sie der abscheuliche Husten.

Ganz still stand die Suse. O Gott, war das traurig! Wenn sie daran dachte, wie liebevoll ihre »kleine Omama« umhegt wurde. Mußte das eine befriedigende Aufgabe sein, der verlassenen Alten zu helfen. Was sollte sie nur zuerst tun? Heizen – für ein warmes Zimmer sorgen. Entschlossen legte Suse ihre Sachen und die Büchermappe auf einen Stuhl.

»Ich will Ihnen ein bißchen einheizen, Frau Kahlert. Es ist kalt hier in der Stube. Kohlen haben Sie wohl nicht?«

»Nä, Kohlen sind keine nicht. Aber Holz muß noch da sein. Von der städtischen Armenverwaltung haben die alten Leute, die wo über siebzig, Holz bekommen. Es liegt in der Küche nebenan. Wenn Sie mir ein bißchen würden einheizen tun bei der Kälte, da täten Sie ein gutes Werk, Fräuleinchen.«

Suse lief geschäftig in die Küche nebenan, holte einen Arm voll Holz und Streichhölzer – zum erstenmal in ihrem fünfzehnjährigen Leben sollte sie Feuer machen. Daheim war Zentralheizung. Aber sie hatte ja oft zugesehen, wenn Emma Feuer im Herd anzündete. Es konnte gar nicht schwer sein.

Sie machte die Ofentür auf, entzündete ein Streichholz und hielt es gegen einen der Kloben Holz. So – nun brenn an! Aber das Holz dachte gar nicht daran. Es begann noch nicht mal zu kohlen. Ein Streichholz nach dem andern – halbleer war die Schachtel schon. Wenn doch Herbert dagewesen wäre! Der war in allen praktischen Dingen des Lebens viel gewandter als sie.

»Sie müssen sich erst kleines Holz machen, Fräuleinchen, so tut es nicht anbrennen«, sagte die alte Frau, die von ihrem Bette aus den vergeblichen Bemühungen zuschaute.

»Womit denn?« fragte Suse unsicher.

»Nu, mit 'n Messer. Aber am Ende tun Sie sich dabei schneiden, Kind. Das ist nichts für so feine Händchen. Sehen Sie auch mal im Bratofen nach, da tut am Ende noch Kleinholz liegen.«

»Ich habe gar keine feinen Hände. Ich mache doch immer im Sommer Gartenarbeit«, meinte Suse ein wenig beschämt. Aber sie war doch heilfroh, als sich kleines Holz im Bratofen vorfand.

»So – nu tun Sie etwas Papier in den Ofen. Das kleine Holz draufgeschichtet, nu können Sie's anstecken«, kommandierte die alte Frau aus dem Bett.

Suse tat, wie ihr geheißen. Lichterloh brannte es – Hurra! Nun konnte sie bald die größeren Scheite Holz auflegen. Auf den besten Schulaufsatz war Suse niemals so stolz gewesen, wie auf das erste Feuer, das sie glücklich zustande gebracht hatte.

»Ich werde Ihnen noch eine warme Suppe kochen – ist irgend was dazu da? Milch oder vielleicht Fleisch zu einer Bouillon?«

»Nu nä – nu nä, Fräuleinchen. Wenn Sie mir nur den Topf mit Kaffee warm stellen tun in die Ofenröhre. Ich hole ihn mir dann später. Es geht schon, wenn ich auch humpeln tu.«

Suse kam der Weisung nach. Dann holte sie den Besen aus der Küche. »Ich werde ein bißchen hier zusammenfegen. Das Fenster kann ich ja leider nicht aufmachen – – –.«

»Barmherziger – das wäre mein Tod!« stieß die alte Frau hustend hervor.

»Frische Luft ist gesund, auch in Krankheitsfällen, sagt meine Mutter; aber die Fenster sind ja eingefroren. Die Blumen werde ich noch begießen.« Das brachte Suse nicht fertig, die armen, durstenden Blumen zu vergessen.

»Vergelte Gott – vergelte Gott tausendmal, was Sie einer alten Frau Gutes tun, Fräuleinchen.«

Suse versprach, am nächsten Tage wiederzukommen. Eisig pfiff der Wind auf der Straße. Suse merkte es kaum noch. In ihr war es warm im Gefühl der erfüllten Guttat.

Daheim berichtete Suse von ihrem Schützling. »Ich muß ganz schnell bei der Emma kochen lernen, Mutti, daß ich der armen, alten Frau Kahlert etwas Kräftiges kochen kann. Sie sieht so elend und krank aus, die Ärmste.«

»Am Ende hat sie die Grippe, Kind! Daß du dich nicht etwa ansteckst!« So einverstanden die Mutter mit der Hilfsleistung ihrer Tochter war, mit Suses Gesundheit war sie stets etwas ängstlich.

»Sie hat bloß die Gicht, Mutti, und Husten«, beruhigte Suse die Mutter.

Trotzdem nahm sich Frau Professor Winter vor, morgen selbst mal bei Suses Schützling nach dem Rechten zu sehen.

»Vorräte muß ich einkaufen, es ist gar nichts dort im Hause. Ich nehme die zehn Mark von Onkel Ernst dazu«, überlegte Suse, »was meinst du, Mutti, ob ich ein Huhn kaufe?«

»Das ist ein guter Gedanke, Suschen«, lobte die Mutter. »Aber ich schlage vor, daß Emma davon eine kräftige Hühnersuppe kocht, die du der alten Frau dann hinträgst. Dann kannst du ihr täglich etwas davon wärmen. Denn bis du kochen gelernt hast, ist Frau Kahlert hoffentlich wieder gesund.«

»Ist auch ratsamer«, fiel Herbert ein. »Die Suse steckt das Huhn sicher sonst mit den Federn in den Kochtopf.«

»Quatsch – ich würde es natürlich vorher rupfen«, widersprach Suse lebhaft. Innerlich aber fühlte sie sich recht erleichtert, daß sie das Huhn bereits in gekochtem Zustande ihrem alten Schützling mitnehmen sollte. »Was kann ich sonst noch für Vorräte kaufen, Mutti? Vielleicht Rum für den Tee, das ist gut gegen die Grippe, hat Vater gesagt. Und Sandtorte, Sandtorte ist leicht, nicht wahr, Omama?« Die Großmama und die Mutter lachten. »Ich glaube, die arme Frau Kahlert wird notwendigere Dinge brauchen als Rum und Sandtorte«, meinte die Mütter. »Kaffee, Milch und Kakao, Haferflocken, Reis, Grieß und Zucker. Dafür mußt du zuerst Sorge tragen, Kind, für das Alltägliche.«

»Vor allem wird es bei dieser Kälte Holz und Kohlen brauchen, das arme, alte Frauchen«, fiel die Großmama ein und wickelte sich trotz der Zentralheizung fester in ihr warmes Wolltuch.

»Ja, viel Holz war nicht mehr da«, räumte Suse ein. »Aber werden denn die zehn Mark von Onkel Ernst zu all dem Zeug, das eingekauft werden muß, reichen?« Sie machte ein besorgtes Gesicht.

»Nun, das Huhn schenke ich deinem Schützling«, beruhigte die gute Großmama die Enkelin.

»Dann muß ich wohl für die Feuerung Sorge tragen«, stimmte die Mutter lächelnd ein.

»Fein!« Suse strahlte. »Nun soll es die alte Frau Kahlert gut haben.«

»Und wer hilft mir bei meinen alten Leuten?« erkundigte sich Herbert ein wenig neidisch.

»Du hast auch Schützlinge? Und das erzählst du erst jetzt! Wer sind denn deine alten Leute?« forschte die Schwester eifrig.

»Ein olles Ehepaar – schon 'n bißchen wurmstichig. Sie hat 'nen Star – – –.«

»Kann er sprechen?« unterbrach Suse.

»Wer? Der Mann?«

»Nein, der Star. Starmätze sind gelehrig, die lernen sprechen.« Nicht endenwollendes Gelächter folgte auf Suses Worte. Herbert wollte sich vor Lachen ausschütten. Auch die Eltern und die Großmama konnten sich gar nicht beruhigen.

Suse blickte verdutzt von einem zum andern. Tränen stiegen ihr in die Augen. Auslachen ließ sie sich nicht.

»Herbert meint doch keinen Piepmatz, Kind, sondern eine Augenkrankheit, den grauen oder den grünen Star«, erklärte ihr schließlich der Vater, immer noch mit dem Lachen kämpfend.

Nun mußte auch Suse trotz ihrer Backfischempfindlichkeit in das Lachen einstimmen.

»Sehr begeistert waren die Ollen von meiner Anwesenheit nicht«, berichtete Herbert wahrheitsgemäß weiter. »Der Mann fragte mich, was ich bei ihnen zu suchen hätte. Und als ich ihm mitteilte, daß ich ihnen helfen wolle, meinte er, dann solle ich nur hundert Mark auf den Tisch legen, dann könnten sie sich selber helfen. Na, dann macht euch euren Kram allein, dachte ich und wollte verduften. Da aber mischte sich die Frau, die mit dem Star, 'rein und sagte, daß es doch nett von mir sei, daß ich zu ihnen gekommen wäre, und wenn ich ihnen einen Eimer frisches Wasser vom Brunnen holen würde, weil die Leitung eingefroren sei, und auch einen Eimer Kohlen aus dem Keller, dann würden sie es dankbar annehmen. Na, das tat ich denn, und morgen soll ich wiederkommen. Aber meine zehn Mark von Onkel Ernst behalte ich für mich.«

»Suse ist viel opferfreudiger als du«, urteilte die Mutter.

»Dafür ist sie ein Mädel!« Herbert fand, daß er genug Wohltaten leistete, wenn er Wasser und Kohlen schleppte.

Es sollte bald noch mehr für Professors Zwillinge zu tun geben. Die Grippe, der schlimme Gast, die fast in jeder Familie herrschte, machte vor dem Sternenhaus nicht halt.

Der Vater war der erste, der fröstelnd aus dem Planetarium heimkam und sich mit Fieber legte. Seine Frau pflegte ihn, bis sie selber nicht mehr weiterkonnte. Auch sie lag mit hohem Fieber.

»Wenn bloß unsere Omama nicht angesteckt wird«, meinte Herbert, »bei alten Leuten ist die Grippe gefährlich.«

»Gute Ware hält sich«, scherzte die Großmama. Aber eines Tages, als die Zwillinge von ihren Schützlingen heimkehrten, war es im Sternenhaus wie im Dornröschenschloß. Wohin sie auch kamen, überall lag einer im Fieberschlaf. Auch die Großmama und Emma waren von der abscheulichen Epidemie ergriffen worden.

Was nun?

»Ich schicke euch eine Krankenpflegerin«, versprach der behandelnde Arzt.

Schwester Martha rückte ein. Aber sie konnte sich nicht zerteilen. Es blieb im Hause noch genug zu tun. Da mußten die Zwillinge heran. Zum Glück hatte man jetzt in der Schule Kälteferien. Das heißt, die Schulen waren wegen Kohlenmangel geschlossen. Herbert übernahm die Zentralheizung, die ihm ungeheuren Spaß machte, und das Stiefelputzen. Letzteres erstreckte sich allerdings nur auf Suses und seine Füße, da die Patienten keine Stiefel trugen. Suse zeigte hauswirtschaftliche Talente. Sie fegte, mopte und bohnerte die Zimmer, daß es nur so blitzte. Sie besorgte den Aufwasch und ging Schwester Martha beim Kochen zur Hand. Daneben fand sie aber noch Zeit, ihrem Vati, der zum erstenmal aufstehen durfte, eine warme Decke über die Knie zu legen und es ihm in einem bequemen Sessel gemütlich zu machen, der Mutti erfrischende Limonade zu reichen, ihrer kleinen Omama liebevoll über die noch immer heiße Stirn zu streichen und der Emma, die so erbärmlich hustete, heiße Milch mit Emser an das Bett zu bringen.

Als Frau Professor Winter das Bett verlassen durfte, löste sie Suse ab. Auch sie mußte der Krankheit ihren Tribut zahlen.

Herbert, der sich rühmte, gegen alle Bazillen gefeit zu sein, folgte als getreuer Zwilling bald darauf nach. Im Sternenhaus blieben nur Bubi und Piccola von der Grippe verschont.


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