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Der siebzigste Geburtstag.

Aus dem Sommer wurde Herbst, aus dem Herbst Winter, und dann fegten wieder ungestüme Frühlingsstürme durch das Land.

Sie zausten Lottes goldbraune Zöpfe und streichelten übermütig ihr rosiges Antlitz. Das junge Mädchen schritt schnell einher, die Pelzmütze in die Stirn gedrückt, die kleine Wachstuchmappe mit Heft und Buch unter dem Arm. Der Weg von dem kaufmännischen Institut führte sie durch den Tiergarten.

Am Neuen See blieb sie stehen. Die Eisdecke, die sich seit Wochen zwischen dem kahlen Ufergebüsch gespannt hatte, war jetzt allenthalben geborsten. Lustig gluckste das vom Wind getriebene Wasser gegen die schwärzlichen Schollen. Das Eis schmolz; der Lenz kam! Die Spatzen im Weidengestrüpp lärmten und schrien es ihr zu, der Frühlingssturm brauste es ihr entgegen, und die Märzsonne leuchtete es ihr ins Herz hinein. Ach, Lotte glaubte nur zu gern die frohe Botschaft!

Zum April sollte sie in Vetter Heinzens Berliner Filiale eintreten. Der Großonkel wollte zuerst durchaus nichts davon hören, aber schließlich hatten ihn ihre Bitten mürbe gemacht.

Herrliche Wochen hatte Lotte im Sommer im Schwalbennest verlebt. Schwälbchens unverwüstliche Zuversicht hatte die Freundin über manche Stunde geheimer Sorge hinweggetragen, wenn sie verzagen wollte.

Unbeschreiblich schwer erschien es Lotte zuerst, als sie mit ungelenken Fingern auf der Schreibmaschine zu üben begann. Im Augenblick waren Hosen in Rosen, Hauben in Lauben verwandelt. Sie hatte als kleines Mädchen ein Jahr lang Klavierunterricht genossen; aber da sie weder besondere Begabung noch Fleiß dabei zeigte, hatte Väterchen sie wieder aufhören lassen, denn er mußte ja mit jedem Pfennig rechnen. Dadurch waren die Finger steif und ungeübt. Wo sie ging und stand, trommelte sie jetzt Parademärsche; kein Tisch und keine Wand im Schwalbennest war vor ihr sicher. Ernst Schwalbe lebte in steter Angst, daß sie ihm eines Tages auf der Nase herumtrommeln und dabei den Kneifer herabschlagen würde. Sie hieß nur noch »Tippmamsell«; wenn sie sich aber mit Ilse bei aller Freundschaft mal in den Haaren lag, denn bei ihrem lebhaften Wesen kam derlei auch vor, dann nannte das Schwälbchen sie »Klapperschlange«.

Das Allerschlimmste aber war die Stenographie. Das Buch mit den vielen Sigeln – so heißen die Abkürzungen – war ihr ein Buch mit sieben Siegeln. Sie glaubte nie dahinterzukommen, warum das Häkchen in runder Form einen anderen Sinn ergibt als in ovaler Gestalt. Sämtliche Fähnchen, Strichelchen und Punkte verbündeten sich miteinander, um Lotte das Dasein schwer zu machen, der huschligen Lotte, die auf solche Kleinigkeiten ihr Lebtag nicht geachtet hatte. Sie lernte, bis ihr der Kopf rauchte, und übte, bis sie das Zittern in den Fingerspitzen bekam. Bei keiner Arbeit hatte sie bisher solche Ausdauer besessen.

Denn da war etwas, das besaß eine wundersame Kraft: die Hoffnung auf Anstellung und damit auf Selbständigkeit. Dachte sie daran, dann waren die Hände nicht mehr müde und der Kopf nicht mehr wüst. Dann wußte Lotte nichts mehr davon, daß draußen lockender Sonnenschein webte, während sie an den goldenen Herbsttagen mit vierzig anderen in einen halbdunklen Raum gesperrt war: daß es Vogelsang und Mädchenlachen gab, statt des Rasselns und Klapperns der vielen Schreibmaschinen. Dann hatte man das wärmste Interesse für Herrn X, der nun schon in dem dritten Schreiben aufgefordert wurde, Herrn Y endlich die bestellte Ware zu liefern; allenfalls huschte dazwischen einmal ein halb unbewußter Gedanke zur fernen Isarstadt.

Wessen Lotte auch immer im Schwalbennest habhaft werden konnte, der mußte ihr ein Stenogramm diktieren; sogar Totila und Teja entrannen ihr nicht. Aber das Betrübende war, daß sie ihr eigenes Geschreibsel nachher nicht wieder entziffern konnte. In diesen sechs Lehrmonaten bestand Lottes höchstes Wünschen und Sehnen darin, in einer Minute die riesige Silbenzahl von hundertfünfzig zu erlangen; dahin strebte all ihr Sehnen. Sie hatte es schließlich sogar auf hundertdreiundfünfzig in der Minute gebracht. Trotzdem klopfte das Herz der kecken Lotte ungestüm, wenn sie an die Prüfung dachte, die sie vor Vetter Heinz ablegen sollte.

In einem schön geschriebenen Schreibmaschinenbrief – der siebente war es, denn bei allen Vorgängern hatte sie allerlei Fehler gemacht – teilte sie ihm endlich mit, daß ihr Kursus beendigt sei, und der Großonkel erlaubt habe, daß sie in seinem Berliner Geschäft tätig sein dürfe. Ob der »Onkel Heinz« noch Platz für sie habe? Darauf gelangte ein mit der Firma bedruckter Brief an sie, ein Geschäftsbrief, der ihr im ersten Augenblick empörte Tränen entlockte.

»Auf Ihr Geehrtes v. 12. d. M. teilen wir Ihnen mit, daß eine Stellung in unserem Berliner Bureau frei ist, und daß Sie zum 1. April d. J. dort eintreten können, falls Ihre Leistungen bei vorheriger Prüfung unseren Ansprüchen genügen.«

Kein »Onkel Heinz« hatte unterzeichnet; fremd und kühl prangte darunter die Firma.

Lotte schleuderte den Brief voll Enttäuschung in die nächstbeste Ecke. Marlene sah erschrocken auf.

»Will er dich nicht haben, Lotte?« fragte sie voll Teilnahme.

»Da – lies den Wisch selbst!« Lotte wandte sich ab, um die Tränen zu verbergen.

Marlenchen aber lachte hellauf.

»Lotte, das ist doch nur ein Scherz – sicher wieder eine Neckerei von Heinz, daß er dir einen solchen Brief schreibt!«

Lotte war nicht so ganz von dem Scherz überzeugt. Sie hatte vom Sommer her ein böses Gewissen dem Vetter gegenüber; vielleicht wollte er gleich im voraus auf das künftige fremde Verhältnis der Angestellten zum Brotherrn hinweisen. Und dann noch die Prüfung! Sie machte Lotte unglaubliches Kopfzerbrechen. Bei jedem Wort würde sie vorbeiklopfen, wenn er hinter ihr stand und diktierte; das wußte sie schon im voraus. Und dann?

Lotte war wie schon oft bei dem täglichen Heimweg wieder bis zu diesem Punkt ihres Grübelns angelangt; weiter mochte sie nicht denken. Heute aber kam der lose Frühlingswind über das berstende Eis dahergestürmt; wie leises Kichern klang es durch die bewegte Luft, als ob er sie auslache. Die Sonne stand mit breitem Gesicht am Himmel und lachte ebenso vergnügt; auch all die schirpenden, piepsenden und durcheinander kreischenden Spatzen lachten die dumme Lotte aus. Da lachte denn auch ihr junges Gesicht dem kommenden Lenz entgegen.

Ungestüm wie der junge Frühlingswind fuhr sie in die »Zelle« des grauen Hauses. Es wurde mit einem Male licht und warm in dem kahlen Raum; Marlene hob mit liebevollem Blick den Kopf von der Arbeit.

»Warst du aber fleißig, Marlenchen! Der Streifen ist ja bald fertig.« Lotte bewunderte Marlenes kunstvolle Häkelei.

Es sollten Gardinen für des Großonkels Zimmer werden. Lotte stickte dazu die Kongreßstoffstreifen. Denn in drei Wochen hatte der Onkel Geburtstag; der siebzigste war es. Tagelang überlegten die Schwestern schon, wie sie den Tag würdig begehen könnten.

»Wir wollen ihm eine Gesellschaft einladen,« schlug Hanni vor, die sich mit rosenbestickten Morgenschuhen herumquälte. Eine Kindergesellschaft geben zu dürfen, war seit Jahren der Gipfel von Hannis Wünschen; folglich mußte sich auch der Großonkel über etwas Derartiges freuen.

»Na, da möchte er uns schön heimleuchten,« antwortete Marlene.

»Ich glaube, die schönste Überraschung wäre für ihn, wenn wir ihm Vetter Heinz einladen würden,« riet Lotte zögernd.

»Wer von euch beiden feiert denn den siebzigsten Geburtstag, der Onkel oder du?« neckte Marlene.

Lotte wandte sich geärgert ab.

»Komm her, Lotte! Siehst du, das ist ein sehr guter Gedanke; der Onkel würde sich wirklich freuen. Das beste ist, du schreibst gleich an den Vetter.«

»Nein, ich schreibe nicht,« entschied Lotte kurz.

»Nanu, warum denn nicht?«

»Weil ich jetzt nur noch geschäftliche Briefe mit ihm wechsle. Schreib du, Marlene; du bist die Älteste – oder schreib an Rudi, er soll es Heinz sagen; sie speisen ja täglich zusammen.«

»Ausgeschlossen – ganz ausgeschlossen!« Marlene war auch sehr ernst geworden. Sie neigte den Kopf wieder auf die Arbeit; still wurde es in der »Zelle«.

Das rosenrote Hoffnungszipfelchen, das Marlene manchmal schon mit Händen zu greifen glaubte, war seit dem Sommer wieder in unbestimmte Ferne geflattert. Der Onkel hatte seine Reise in München nicht unterbrochen. Wohl hatte Rudi den Zug am Bahnhof abgefangen, da Heinz Grimm ihm einen freundschaftlichen Wink von Sylt her gab. Aber der Onkel war diesmal so eisig kühl zu dem jungen Mann, daß auch Marlenes warmes Herz zu frieren begann. Sie war froh, als das kurze gezwungene Beisammensein vorüber war. Sie hoffte auf Weihnachten; da wollte Rudi den Großonkel wieder im grauen Hause besuchen. Doch der Onkel, der gerade von seinem Gichtanfall heimgesucht war, hatte den jungen Künstler nicht empfangen; das ganze Wiedersehen, auf das man sich monatelang gefreut, bestand in ein paar schnell gewechselten Worten draußen auf der Treppe. Marlene seufzte tief.

»Ich kann ja an den Onkel Heinz schreiben,« rief da Hanni plötzlich; sie glaubte, Marlenes Seufzer gelte noch dieser Frage.

Die großen Schwestern erklärten sich mit dem Ausweg einverstanden. Nach Lottes Diktat fabrizierte Hanni einen schöngeschriebenen Brief an den Vetter, daß der Großonkel am 28. März seinen siebzigsten Geburtstag feiere und sich »ganz furchtbar« freuen würde, wenn man ihm den Onkel Heinz als Überraschung aufbaute.

Zur gleichen Zeit saß zwei Zimmer weiter der alte Herr an seinem Schreibpult und ordnete seine Briefschaften. Nach langer Zeit waren ihm Hennis Briefe wieder mal in die Hände geraten; er hatte sie bewegten Herzens gelesen und still zur Seite getan. Jetzt kam ihm ein Schreiben in die Hände, das Heinzens flotte Schriftzüge zeigte. Der Onkel wollte es erst mit gerunzelter Stirn hinlegen; aber schließlich durchflog er es doch noch einmal. Es war vom Sommer her.

»Dummer Junge!« knurrte er dann ärgerlich und schob den Brief fort; aber die Gedanken ließen sich nicht mit fortschieben.

Ein Eisenkopf, der Junge – ein echter Grimm! Er wollte nach der Rücksprache mit dem Onkel nicht eher wieder nach Berlin kommen, als bis dieser ihn selbst rufen würde. Was nun ein solcher Ruf zu bedeuten hatte, das konnte sich jedermann an seinen fünf Fingern abzählen. Aber er hing nun mal an dem Jungen; wie lange konnte er ihn denn noch sehen? Er wurde alt, bald siebzig – halt – war der Geburtstag nicht eine Handhabe, um den Jungen herzulotsen?

Einen Augenblick überlegte der Großonkel noch, dann klingelte er.

Marlene erschien.

»Du wünschst, lieber Onkel?«

»Hm – da fällt mir eben ein, daß nächstens mein Geburtstag ist. Ich halte sonst nicht viel von solchen Feiern, aber ich fühle mich verschiedenen Leuten gegenüber verpflichtet. Da ist die Familie Schwalbe, die Charlotte im Sommer aufgenommen hat; verschiedene Herren im Klub, na, und – was stehst du denn da wie die Katze, wenn's donnert?« fuhr er die mit erstaunten Augen ihn anschauende Marlene plötzlich an.

Die stand starr. Der Großonkel wollte eine Gesellschaft geben? Das war nicht dagewesen, seitdem er das graue Haus bewohnte!

»Hm – wir müßten dann dem Jungen in München wohl auch eine Nachricht zukommen lassen; er könnte sich sonst zurückgesetzt fühlen – hm –«

Marlene erholte sich von ihrem Staunen.

»Onkel – wir – wir wollten dir eine Überraschung bereiten und haben deshalb bereits an ihn geschrieben.«

»So, hm, hinter meinem Rücken – na, das ist – das ist« – Marlene duckte sich zusammen, als ob sie einen moralischen Schlag fürchtete – »das ist diesmal wenigstens hübsch von euch gewesen.« Herr Grimm war heilfroh, daß er nun nicht selbst zu schreiben brauchte.

»Und die Speisenfolge, Onkel?« Marlene fühlte die verantwortlichen Hausfrauenpflichten.

»Einfach und bescheiden – nur keine üppigen Schlemmereien! Ich habe gesehen, wohin die führen.«

»Aber anständig soll es doch sein?« Marlene raffte allen Mut zusammen, um ihre Ehre als Wirtin zu retten.

»Na ja, nimm 'nen Braten!« Der Onkel dachte Wunder, was er tat, daß er sich zu einer solchen Ausgabe aufschwang.

»Ich will es mit Lotte bereden,« erwiderte Marlene nach angestrengtem Nachdenken; sie war gewöhnt, alles mit der Schwester zu überlegen.

In der »Zelle« stand man beinahe auf dem Kopf. Hanni triumphierte, daß der Onkel nun doch eine Gesellschaft geben wollte. Lotte erfaßte die praktische Seite.

»Geizig können wir nicht sein; wenn der Onkel Fremde einladet, muß es auch Fisch und Eis geben, besonders am siebzigsten Geburtstag. Und dann noch eins, Marlenchen! Wir haben ja nichts anzuziehen; unsere Tüllblusen sind zerschlitzt, und dunkel können wir doch an einem solchen Tage nicht gehen.«

»Komm, sag's dem Onkel selbst; ich trau' mich nicht.« Marlene schob Lotte ins Zimmer des Großonkels.

Der hörte mit unangenehm überraschtem Gesicht Lottes Ausführungen an. Sie hatte ja nicht ganz unrecht – er war früher selbst viel eingeladen gewesen – aber es deckte sich nicht mit seiner »Erziehung zur Einfachheit«.

»So macht einen Salat vorher und eine süße Speise als Nachtisch,« räumte er schließlich widerwillig ein. »Was steht ihr denn immer noch?«

Marlene stieß Lotte an.

»Wir haben keine Kleider, Onkel,« platzte diese schließlich heraus.

»Natürlich, die liebe Eitelkeit wieder mal – die Putzsucht, die ich mich nun seit Jahren bemühe, bei euch auszutreiben! Ihr habt doch erst Blusen zum Winter bekommen?«

»Aber Onkel, wir können doch nicht in grünkarierten Wollblusen an deinem siebzigsten Geburtstag herumlaufen, wenn Besuch kommt!«

»Und wir brauchen doch zum Sommer irgend etwas Helles,« fügte Marlene zaghaft hinzu.

Der Onkel überlegte, als ob Europas Wohl von der Kleiderfrage abhinge. Marlene und Lotte studierten inzwischen das Teppichmuster.

»Hm – was könnten solche Sommerkleider, die du selbst schneiderst, denn kosten?« fragte er dann.

Lotte trat der Schwester vielsagend auf den Fuß.

Diese zauderte. Da flüsterte ihr Lotte eine Zahl zu. Aber des Onkels Ohren waren noch scharf.

»Du bist nicht gefragt – du kannst überhaupt gehen,« herrschte er sie an.

Lotte zog sich zurück.

»Also?« fragte der Onkel ungeduldig.

Marlene nannte, erschreckt über ihre Kühnheit, eine mehr als bescheidene Summe. Der Onkel griff seufzend in die Börse.

»Hier ist das Geld – und nun versucht, euch der unverdienten Gaben würdig zu zeigen!«

Aus dem Hinterzimmer schallte heller Jubel. Nun erst kam die Freude über das bevorstehende Fest zum Ausbruch. Das erstemal im Leben weiße Mullkleider – und Heinz sollte sie so sehen!

»Hurra, der Großonkel lebe hoch!« schrie Lotte und wirbelte die Schwestern selig in der »Zelle« umher.

Vorn saß der Onkel und lauschte – lauschte und schüttelte den Kopf. Er würde sie nicht herausbringen, die Genußsucht, den Leichtsinn und die Eitelkeit, die den Mädchen so tief im Blute lagen! Alle Arbeit blieb umsonst.

»Wieviel ist uns denn bewilligt?« fragte jetzt Lotte drin die Schwester, nachdem die erste himmelhochjauchzende Freude verflogen war.

»Dreißig Mark.« Marlene wies stolz ihren Schatz.

»Dreißig – – –?«

Lotte schwieg jäh. Sie schaute Marlene, und diese Lotte an. Keine wagte dem Gedanken, der ihnen soeben gekommen war, Ausdruck zu geben.

»Der Onkel würde es ja gar nicht erlauben,« sagte Lotte mit einem Male ganz unvermittelt aus ihrem Gedanken heraus.

Marlene verstand sie.

Dann schwiegen sie wieder beide. Aber sie dachten dasselbe.

Dreißig Mark, das war gerade die Summe, die noch zu Väterchens Grabstein fehlte! Wie hatten sie hin und her überlegt, um das Geld endlich zusammenzubringen! Nun lag es plötzlich vor ihnen auf dem Tisch, war ihr Eigentum und sollte für Putz und Tand verwendet werden; Väterchen aber schlief schon seit Jahren ohne einen Denkstein!

Wieder begegneten sich Marlenes und Lottes Blick, begegneten sich ihre Gedanken.

»Wir wollen auf die weißen Kleider verzichten,« sagte Lotte leise. »Ich werde Onkel bitten, daß er uns erlaubt, das Geld für Väterchen auszugeben.«

»Er wird sehr böse werden,« flüsterte Marlene und zitterte an allen Gliedern. Aber sie folgte doch der Schwester, als ob sie ihr beistehen könnte. Auch Hanni lief wie ein Hündchen hinterdrein.

»Na, was gibt es denn schon wieder – hm – das ist ja der reine Massenauflauf!«

»Onkel Heinrich –«

Lotte stockte jetzt doch die Stimme, als sie das Falkenauge des alten Herrn so scharf auf sich gerichtet fühlte.

»Lieber Onkel, es ist so sehr gut von dir, daß du uns das Geld zu neuen Kleidern gegeben hast. Aber – aber unser Vater ruht draußen noch ohne Grabstein – wir haben schon jeden Pfennig dazu gespart, den du uns geschenkt hast. Es fehlen uns nur noch dreißig Mark« – ihre Stimme wurde leiser und leiser – »würdest du sehr böse sein, Onkel, wenn wir das Geld statt zu neuen Kleidern zu Väterchens Grabstein nähmen?«

Eine atembeklemmende Pause. Würde der Großonkel jetzt nicht auffahren?

Er räusperte sich.

»Hm – und was wollt ihr zu der Feier anziehen?« Er sah von einer zur anderen. Alle drei hatten sie den Kopf tief gesenkt.

»Unsere dunklen Blusen.« Lotte schlug die langen, seidenweichen Wimpern auf.

Der Jubel von vorhin tönte noch in des Großonkels Ohr. Vor ihm auf dem Schreibtisch lagen Hennis Briefe, und da – Marlene hat den Blick gehoben – das waren auch Hennis Augen, die ihn so flehentlich anschauten.

Zum ersten Male trat der Großonkel mit den Kindern an das Grab der Eltern.

Er räusperte sich. Er wußte es jetzt: es gab etwas in den Herzen der Schwestern, das stärker war als Eitelkeit und Putzsucht. Soeben hatten sie es bewiesen.

Wieder eine Pause – wie eine Ewigkeit so lang.

»Das Geld wird zu Kleidern genommen, verstanden?« – des Onkels Stimme klang rauh – »und für den Grabstein eures Vaters werde ich selbst Sorge tragen –«

Er kam nicht weiter.

»Onkel Heinrich – lieber Onkel Heinrich!«

Sechs junge Arme schlangen sich in heißer Aufwallung um seinen Hals; weiche Mädchenlippen schmiegten sich an sein bärtiges Gesicht. Da nützte alle vorgespiegelte Rauheit im Ton nichts. Das Eis war gebrochen – der Lenz kam!

»Zieht euch an; wir wollen zum Kirchhof fahren.«

Es klang noch immer herb, aber wie der Frühlingssturm, den die Sonne bereits durchwärmt.

Zum erstenmal trat der Großonkel mit den Kindern an das Grab der Eltern. Lange, lange standen sie dort. Ein blinkender Tropfen fiel von den alten Augen auf die braune Scholle. Da bewegte sich der Efeu leis wispernd, als ob er ihm einen Dankesgruß der Dahingeschiedenen brächte.

Am anderen Tage, während Marlene und Lotte eifrig überlegten, wieviel Fisch man zum Salat nehmen müsse, und ob ein Fältchensattel für die neuen Mullkleider hübscher wäre als ein Halsausschnitt, schrieb der Großonkel zwei Briefe. Beide gingen nach München.

Der Junge, der Heinz, hatte einen harten Kopf; der kam am Ende nicht, wenn der Onkel ihn nicht selbst rief. Was sollte man machen? Und der andere Brief? Der Onkel steckte ihn schnell in die Tasche, denn Marlene trat eben ins Zimmer.

Dann ließ er sich Mantel und Hut bringen, doch nahm er heute keines der Mädchen mit. Es war ein Weg, der dem alten Mann sehr sauer ankam; aber er hatte ihn sich gestern draußen an den stillen Erdhügeln gelobt. Heinrich Grimm tat nichts bloß halb.

Als er zum Abendessen heimkehrte, war sein sonst so strenges Gesicht von innerer Befriedigung durchleuchtet. Aus den scharfen Augen schmunzelte hin und wieder der Schalk einer heimlichen Überraschung.

»Onkel Heinrich, du siehst aus wie der Tag vor Weihnachten,« erklärte Hanni, die alle Scheu vor ihm verloren hatte, seitdem er gestern so gut zu ihrem toten Väterchen gewesen war.

»Hm!« Der Großonkel unterdrückte ein Lächeln, sagte aber nichts weiter.

Das gab jetzt viel Arbeit im grauen Haus. Aber wie gern schafft man, wenn die Herzen miteinander gehen!

»Heute hat der Onkel mich bloß ein ganz klein bißchen am Zopf geziept, weil ich die Tür so zugeworfen habe, und für den guten Aufsatz hat er mir die Backe geklopft, und Hanni nennt er mich, nicht mehr Johanna,« verkündete die Kleine selig in der »Zelle«; sie blühte in der jetzt warmen Atmosphäre des grauen Hauses am meisten auf.

Eines lag Lotte schwer auf dem Herzen. Wenn Vetter Heinz kam – er hatte auf Hannis Brief bisher nicht geantwortet – dann würde er sie sicherlich gleich prüfen. Zwischen den Gardinenstreifen, bei den Vorbereitungen in der Küche, dem Vorkramen des schönen Damastes und alten Tafelsilbers, das so lange in der Verborgenheit geschlummert hatte: allenthalben wiederholte Lotte ihre stenographischen Sigel. Sie träumte des Nachts davon.

Alle hatten sie zugesagt: das Schwalbennest, in dem innige Freude über das jetzt so gute Einvernehmen im grauen Hause herrschte, die Herren aus dem Klub, und einige Bekannte von früher her. Nur Heinz nicht! Aber der Onkel zuckte gleichmütig die Achsel, wenn die Mädel berieten, ob der Vetter am Ende den Brief nicht erhalten habe; er trug ja schon längst die Antwort mit der freudestrahlenden Zusage in seiner Brieftasche.

Der Geburtstagsmorgen kam.

Auf dem blumengeschmückten Tisch lagen die fertigen Handarbeiten ausgebreitet; im Vordergrund flammten siebzig Lichter, die den Namenszug des Onkels bildeten. Marlene aber saß, als das greise Geburtstagskind, von Lotte und Hanni geführt, das Zimmer betrat, in Mütterchens Rosenknospenkleid am Klavier und sang ihm das Lied, das er einst so gern von ihrer Mutter gehört hatte.

Tiefbewegt lauschte er. Als sie mit innigem Ton geendet hatte, da trat er auf sie zu und küßte sie auf die weiße Stirn.

»Vielleicht habe ich auch für dich heute noch eine Überraschung zum Dank,« sagte er.

Vorläufig aber kam erst eine andere Überraschung. Mit fröhlichem »Grüß Gott«, in Frack und weißer Binde trat sie ins Zimmer – Heinz!

»Schau Onkel, nun weiter so rüstig die nächsten siebzig« – für Rührseligkeit war Heinz ganz und gar nicht – »Hanni, ich hätt' dich bald nimmer erkannt, so bist du in die Höhe geschossen – Grüß Gott, Marlene – nun, mein Fräulein, wollen Sie Ihren künftigen Chef net respektvoll begrüßen?«

Lotte stand noch immer ganz erstarrt vor freudigem Schreck in der Ecke. Jetzt aber streckte sie Heinz beide Hände hin. »Onkel Heinz,« sagte sie bloß.

Sehr respektvoll war das gerade nicht, aber der junge Chef schien nicht ärgerlich darüber.

»Hernach kommt die Prüfung! Die Katz im Sack kauf' ich net; erst will ich schauen, was du gelernt hast.« Es klang so ernst, daß Lotte wieder recht ängstlich wurde.

Zum Glück gab es bis Mittag so viel zu tun, daß keine Zeit blieb. Die Schwestern setzten ihren Stolz darein, alles aufs schönste und schmackhafteste herzurichten.

Am Vormittag erschien eine treue Gratulantin, Frau Tann; sie hatte den Ehrentag nicht vergessen. Ihre Mutter war inzwischen gestorben, sie selber auf der Suche nach einer geeigneten Stelle. Sie mußte den ganzen Tag über da bleiben und war den Mädeln eine wertvolle Unterstützung. Da erstaunte sie, wie tüchtig ihre einstigen Pfleglinge geworden waren!

Drin beim Onkel war Besuch. Onkel Heinrich hatte ihm selbst zu öffnen gewünscht. Nur Heinz wurde zugelassen; für die Mädchen waren die Türen verriegelt.

Doch als Marlene in die Nähe des Zimmers kam, da hörte sie eine Stimme, die ihr alles Blut zum Herzen trieb. Nur eine Sekunde – sollte sie sich getäuscht haben? Aber was hatte der Onkel heute früh von einer Überraschung gesagt?

Marlene war jetzt noch aufgeregter als Lotte vor ihrer Prüfung. Es war doch recht gut, daß man Frau Tann hatte; die war die einzige, die ihre Gedanken bändigen konnte.

Am Nachmittag, als Lotte mit dem Ausputz der Tafel gerade fertig geworden war und frohlockend die duftigen Veilchen betrachtete, nahte das Verderben.

»Jetzt wollen wir halt amal schauen, ob ich dich gebrauchen kann; setz dich daher, Karline,« sagte Heinz, ihr Papier und Bleistift zuschiebend.

Darauf begann er, ihr in rasender Geschwindigkeit ein Stenogramm zu diktieren. Ach, wo blieb Lotte da mit ihren hundertfünfzig Silben in einer Minute! Ganze Sätze mußte sie auslassen; ihre Wangen glühten, die Finger flogen, die Schläfen schlugen. Immer schneller wurde das Tempo.

Da schleuderte Lotte plötzlich empört den Bleistift fort.

»Das – das ist unmöglich – da kann kein Mensch folgen – und für das dumme ›net‹ gibt es überhaupt kein Sigel!« Man hörte ein unterdrücktes Schluchzen in ihrer Stimme.

»Oh,« verwunderte sich Heinz, »das war doch net zu schnell?! Schau, meine Damen die schreiben noch ganz anders; da kann am End doch nix draus werden.«

In Lotte begehrte Ärger und Trotz auf.

»Dann muß ich mir eben eine andere Stellung suchen, für die meine Leistungen genügen.« Es sollte schnippisch sein, klang aber recht enttäuscht und weinerlich.

»Das tät' mir leid; meinst net, daß es noch einen anderen Platz für dich geben könnt'? Denk amal a bisserl nach, Lotte! Ich brauch' halt jemand, der mir meine Wirtschaft führt, aber –«

Er blickte sich erstaunt um, denn er stand allein im Zimmer. Lotte war auf und davon. Da lächelte der gestrenge Chef und steckte das Blatt mit den Hieroglyphen seiner jungen Angestellten sorgsam ein.

Ganz entzückend waren die weißen Mullkleider geworden. Sie hoben die junge Schönheit der Schwestern trotz ihrer Schlichtheit wie Feengewänder. Aber Marlene und Lotte blickten heute nicht viel in den Spiegel. Ihre Wangen brannten und ihre Hände waren eiskalt; sie hatten an anderes als an neue Kleider zu denken.

»Komm, Lotte, wir müssen uns alle drei zugleich dem Onkel zeigen,« bat Marlene, nachdem Frau Tann sie genugsam bewundert hatte.

Lotte wäre am liebsten überhaupt nicht zum Vorschein gekommen. Aber in der Zelle konnte sie heute nicht bleiben; einmal mußte es ja sein.

Mit gesenkten Augen trat sie in das Empfangszimmer, in dem der Großonkel und Heinz sie bereits erwarteten.

»Hm – na, das ist doch besser wie die grünen Wollblusen, was?« Der Großonkel machte ein Gesicht, als ob er noch eine große Geburtstagskiste erwarte.

Heinz trat zu Lotte. Die machte sich schnell an einem Tischchen zu tun, auf dem alles wohlgeordnet stand.

»Wie eine Braut schaust halt aus, Lotte,« sagte er bewundernd.

Sie begann in ihrer Verlegenheit eine wüste Unordnung auf dem Tischchen anzurichten. Da hielt ihr Heinz die Hand fest.

»Hat sich das Weihnachtsringerl doch wieder g'funden? Das tut mir aber leid; ich hab' glaubt, es käm' nimmer wieder, und hab' dir einen Ersatz mitbracht.«

Ehe sie die Hand zurückziehen konnte, hatte er ihr einen schmalen Goldreif an den Finger gestreift. Der hatte keinen Stein.

Lotte wollte wieder ausreißen, aber da klingelte es. Sie mußte dableiben. Krampfhaft verbarg sie die Linke in eine mitleidige Kleiderfalte.

Der Großonkel hatte ein nettes Mädchen zum Öffnen und Servieren kommen lassen. So hatten die Schwestern jetzt nur noch Empfangspflichten.

Die Bewohner des Schwalbennestes traten an. Lotte empfand es als Erlösung; sie flüchtete sofort zu Ilse. Aber ihre Linke zog sie nicht hervor.

»Wo bleiben denn meine Herren?« fragte endlich der Großonkel und zog die Uhr.

Wieder klingelte es; er ging selbst hinaus.

Marlene hatte ein wenig Herzklopfen. Sie mußte die fremden alten Klubherren doch als Wirtin begrüßen.

»Liebe Freunde, ich habe Sie heute eingeladen.«

Da öffnete sich die Tür – Marlenes Blauaugen wurden schreckensweit – über die Schwelle traten Onkel Theodor und Tante Lenchen, Herta mit ihrem Mann und dahinter, halb von Onkel Heinrich verdeckt – Rudi!

Keine der drei Schwestern dachte an ihre Wirtinpflicht. Sie waren dem Großonkel um den Hals geflogen, küßten und streichelten ihn unter Tränen, bis dieser sie seinen Gästen zuschob. Da ging dieselbe Geschichte noch einmal von vorn los.

»Na und ich, Marlenchen?« Rudi zwirbelte unternehmungslustig seinen Schnurrbart, als Marlene ihn mit warmem Händedruck abspeiste. Sie wandte ihm schnell den Rücken, aber der Onkel rief: »Zu Tisch, meine Herrschaften, das waren meine Klubherren!«

Rudi bot ihr den Arm. Heinz führte Lotte. Ilse aber hatte sich der Großonkel geholt, weil die Siebzig und die Siebzehn am besten zusammenpassen.

Das wurde ein glücklich frohes Mahl; die jungen Wirtinnen hatten alles glänzend bereitet.

Lotte aß mit der rechten Hand, trotzdem es damals nicht üblich war, aber die Linke war fest in die Serviette gewickelt.

»Sag, Lotte, schenkst du mir denn gar nix für meinen Ring?« neckte Heinz.

Ehe sie antworten konnte, klopfte Onkel Theodor ans Glas und sprach auf den Großonkel. Es waren wenige, warmempfundene Worte, in denen er der Hoffnung Ausdruck gab, daß das heute neugefügte Freundschaftsband ehern fest sein möge und sie noch viele Jahre umschlinge. Als er geendet hatte, reichte ihm der Großonkel, der im Sommer die gebotene Rechte verschmähte, seine beiden Hände hin.

Die Tafel war fast zu Ende, da erhob sich endlich das greise Geburtstagskind. Umständlich räusperte es sich, sprach kurz und knorrig, wie es seine Art war: »Liebe Freunde, ich habe Sie heute eingeladen – das ist sehr nett von mir. Aber zum Dank dafür will man mich bestehlen – das ist nicht sehr nett. Noch dazu, da es mein eigen Fleisch und Blut tut! Das Mädel, das ich in meinem Hause großgezogen habe, will mir der Junge da nehmen –«

Heinz hielt Lottes widerstrebende Linke hoch, an welcher der goldene Reif blitzte.

»Lotte!« schrie Ilse selig dazwischen und lief zu ihr herum.

Aber der alte Herr fuhr sich räuspernd fort: »Hm – ich hab's dem Jungen gleich gesagt: bei mir herrscht Ordnung in allen Dingen; ich gebe die Zweite nicht vor der Älteren her! Aber da der Junge auf seinem Recht besteht und gerade gestern jemand zu mir kam, der die Marlene wollte, so habe ich beschlossen, sie dem ersten besten zu verloben – falls sie nichts dagegen hat – lediglich meiner Ordnungsgrundsätze wegen.«

Er kam um den Schluß seiner schönen Rede, denn Marlene, von Rudi geführt, war bereits bei ihm und schloß ihm den Mund, der in rauhem Ton so gute Worte sprach.

Heute würde sein Kind – seine Henni mit ihm zufrieden sein! Er hatte ihr Vermächtnis treulich verwaltet.

»Hurra, zwei Verlobungen auf einmal!« jubelte das Schwälbchen. »Kinder, wird der ›Große Kurfürst‹ neidisch werden! Die wollte immer die erste Braut sein.«

»Jetzt haben Schneeweiß und Rosenrot ihre Prinzen!« Hanni tanzte um die Tafel herum.

»Und was wird aus uns zwei, hm – wenn die beiden Großen uns allein lassen?« Der Onkel faßte Hannis mit rosa Seidenband durchschlungenes dunkles Gelock.

»Wir ziehen mit nach München,« schlug Hanni wie selbstverständlich vor.

»Schau, Hanni, das war das rechte Wort – und auch Frau Tann kommt wieder zu euch, gelt, Frau Tann? Dann sind wir alle beieinand – und Fräulein Schwälbchen besucht uns, net wahr?« rief Heinz, der neugebackene Bräutigam, glückselig zu Ilse, da Lotte gerade ihr Marlenchen beim Wickel hatte.

So geschah es. Das düstere graue Haus wurde leer, aber in das Herz des vereinsamten alten Mannes, der so lange darin gewohnt hatte, zog noch einmal Frohsinn und junges Glück.


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