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Die Stadt der Kunst.

Auf dem menschenbelebten, rauchdurchtränkten Bahnhof in München schritt Heinz Grimm auf und nieder. In der Hand hielt er herrliche, purpurnglühende Nelken.

Ungeduldig zog er die Uhr. Wieder Verspätung! Na, sein Geschäft mußte heute ohne ihn fertig werden; er hatte Wichtigeres vor.

Lächelnd schaute er in die dunstige Ferne. Sein Lächeln verlor sich nicht einmal, als ihn ein vierschrötiger Gepäckträger mit derbem »Aufg'schaut« unsanft in die Rippen stieß. Es mußte wohl etwas sehr Erfreuliches sein, an das Heinz Grimm dachte, denn gar so friedfertig war er eigentlich von Natur nicht. Dafür hatte er Grimmsches Blut in den Adern.

Endlich tauchte der fauchende Kopf der schwarzen Eisenschlange im Rundbogen der Halle auf. »Willkommen, Lotte,« dachte Heinz bei sich; dann begann er auf gut Glück seinen Panama zu schwenken.

An einem Fenster der zweiten Klasse erschien das scharf geschnittene Gesicht eines alten Mannes; schlohweißes Haar umrahmte den stolzen Kopf. Potzschock, war der Onkel in den letzten sieben Monaten gealtert! Aber jetzt zeigte sich dasselbe lebhaft blitzende Auge wie früher, als er den Neffen erschaute.

Schwerfällig kletterte er mit Heinzens Hilfe die hohen Stufen hinab. Hinter ihm erschien schüchtern errötend ein heller Blondkopf. Suchend drang Heinz Grimms Auge in das Innere des Wagens, während er auch Marlenchen heraushalf.

»Na, und –?« fragte er, sich auf die Treppenstufe schwingend.

»Laß nur; das Gepäck besorgt der Träger.« Der Großonkel ergriff Marlenes Arm und wandte sich zum Gehen.

»Wo ist denn Lotte – und Hanni?« setzte Heinz noch schnell hinzu, nur schwer seine Enttäuschung hinter der Wiedersehensfreude verbergend.

»Es wundert mich, daß du nicht auch nach unserem Portier fragst, Junge! Ich bin doch keine Schnecke, daß ich mein ganzes Haus auf dem Rücken trage. Ich habe mir unterwegs schon Vorwürfe gemacht, daß ich Marlene mitnahm. Als ich so alt war wie sie, da wußte ich noch nicht, wie es in der zweiten Klasse der Eisenbahn aussieht.«

»Weil's halt damals noch gar keine 'geben hat,« scherzte Heinz, mit Willensstärke das niederzwingend, was ihm die Stimmung zu verderben drohte.

»Oho, Junge, so alt sind wir denn doch noch nicht,« polterte der Onkel.

Heinz trat zu Marlene. Sie ging bescheiden und verschüchtert nebenher, und dabei hatte sie doch solch einen flimmernden, suchenden Blick in den Blauaugen. Er war wohl beim Empfang gar nicht herzlich mit ihr gewesen; sie tat ihm leid.

»Schau, die Bavaria schickt dir durch mich einen Gruß!« Er überreichte ihr den prachtvollen Strauß, der eigentlich für eine andere bestimmt gewesen war. Marlenchen erglühte tiefer als die Blüten in ihrer Hand.

»Verwöhne mir nur das Mädel auch noch,« brummte der Großonkel, die Augenbrauen hochziehend, aber sein Blick wanderte wohlgefällig von einem zum anderen.

Heinz Grimm winkte einem Wagen. Der Onkel sah ihn verdutzt an.

»Das Endchen bis zu dem Familienhotel? Da wird gelaufen! Ich leide nicht an Größenwahnsinn.« Schwerfällig setzte sich der alte Herr in Bewegung.

Auf dem von Trambahnen und Wagen durchquerten Platz vor dem Bahnhof strebten hohe Pfeiler empor. Dunkles Tannengrün umkletterte sie, wölbte sich zu geschmackvollen Rundbogen über die Straße hinweg und umrankte das lustig flatternde Banner der feuchtfröhlichen Stadt. Auch die Straßen entlang zeigte sich duftendes Tannengewinde und buntfroher Flaggenschmuck. Marlene schritt wie verzaubert dahin.

»Ist das hier immer so herrlich?« fragte sie, sich mit glänzenden Augen umblickend.

»Nein, nur heut – euch zu Ehren!« Aber auf Marlenes bittenden Blick setzte der Vetter schnell hinzu: »'s ist heut Schützenfest; ihr habt's gut getroffen. Die Ausschmückung der Straßen stammt von Künstlern; schau dir's nur recht an, Marlenerl.«

Von Künstlern? Marlene hatte jetzt kein Auge mehr für den lachenden Straßenschmuck; suchend irrte ihr Blick in der vorüberflutenden Menge. Sie war ja in München, der Kunststadt; jeden Augenblick konnte ein bekanntes Antlitz unter den Vorübergehenden auftauchen. Wie durfte sie da noch für etwas anderes Interesse haben!

Aber ob sie sich die Vergißmeinnichtsterne auch schier aus dem Kopf schaute, sie sah nur breite, derbe Gestalten, meistens mit wohlgenährten, gutmütigen Gesichtern, denen man es ansah, daß ihnen »ihre Moaß« schon morgens früh mundete. Vereinzelt darunter gab es auch wehende farbige Schlipse, braune Samtjacken und die unvermeidlichen Schlapphüte; das waren wohl die Herren Künstler? Marlene starrte einen jeden wie ein Wundertier an; ob Rudi auch so einherging?

Das Familienhotel war erreicht; Heinz verabschiedete sich.

»Ich spring' nur noch amal um die Eck' und schau' in mein Geschäft; in einer halben Stunde hol' ich euch dann wieder zum Nachtessen. Ihr werdet wohl inzwischen den Reisestaub abspülen wollen, und das junge Fräulein am End' auch noch Toilette machen. Grüß Gott!« Fort war er ...

»Marlene, bist du fertig?« Der Onkel pochte gegen die Verbindungstür.

Marlene fuhr zusammen. Sie hatte bisher ihr Interesse redlich geteilt zwischen der Frauenkirche, die mit den beiden Köpfen ihr gerade zum Fenster hereinschaute, und einer hellblauen Batistbluse, die schon ein wenig ausgegangen war.

»Der Vetter meinte, ich müsse mich umkleiden –«

»Unsinn! Der Herr Vetter hat gar nichts zu meinen – soll dir nur keinen Sparren in den Kopf setzen! Komm, wie du bist!«

Das ging nun nicht gut an. Seufzend schlüpfte Marlene wieder in die dunkelfarbige Reisebluse, während der Großonkel einen kleinen Monolog über die Eitelkeit der Frauenzimmer hielt.

Vetter Heinz war unten schon zur Stelle.

»Hm, Pünktlichkeit liebe ich,« brummelte Onkel Heinrich und sah strafend auf Marlene, die ihn hatte warten lassen. Die zart besaitete junge Dame fühlte, wie ihr das Wasser in die Augen schoß.

»Wo nun hin?« Heinz bemühte sich, die Unterhaltung auf ein anderes Thema zu bringen. »Du selbst kennst unser München ja gut, Onkel; aber was wollen wir der Marlene zeigen?«

»Marlene?« Der Onkel hatte noch nicht mit dem kleinsten Bruchteil eines Gedankens daran gedacht, daß er seiner jungen Großnichte etwas zeigen müsse. Sie war zu seiner Begleitung und Pflege mitgenommen worden – basta!

Diese Ansicht tat sich deutlich in den sprühenden Augen kund. Marlene kroch ganz in sich hinein; es war ihr entsetzlich, daß Heinz sie so zum Mittelpunkt machte. Der schien das Verneinende gar nicht in des Onkels Zügen zu lesen.

»Wollen wir auf einen Keller gehen – vielleicht ins Löwenbräu? Aber du bist mit dem Essen eigen. Ich denk', wir nachtmahlen erst amal im Künstlerhaus.«

»Ach ja, Künstlerhaus!« Marlene erschrak heftig, daß sie es gewagt hatte, eine eigene Meinung vor dem Onkel zu äußern. Aber wenn irgendwo, mußte sie Rudi doch wohl dort treffen.

So gingen sie auf das Restaurant am Maximiliansplatze zu.

»Kostet es da Eintrittsgeld?« erkundigte sich der Onkel vorsichtig.

Heinz verneinte. So schritt man, allgemein zufriedengestellt, auf das zwischen blühenden Pflanzen grüßende Restaurant am Maximiliansplatz zu. Der stolze Justizpalast sowohl wie der herrliche Wittelsbacherbrunnen, auf die Vetter Heinz seine schlanke Begleiterin aufmerksam machte, vermochten nicht die sonst so leicht begeisterte Marlene vollständig zu fesseln. Sie strebte, wie von unsichtbaren Händen geschoben, dem mit roten Flämmchen besteckten Künstlerhause zu.

Enttäuscht saß sie dann vor ihrem Gansbraten, den Vetter Heinz trotz ihres und des Großonkels lebhaften Widerspruches – er kostete eine Mark fünfundsiebzig Pfennig – für sie bestellt hatte. Feurige Zigeunerweisen, meisterhaft gespielt, jubelten und klagten aus der offenen Halle. Marlenes den Tönen so zugängliches Herz weinte mit ihnen. Fremde Menschen, gleichgültige Gesichter ringsum – nur wenige Künstlerlocken! Wo sollte sie Rudi finden, wenn nicht hier? München war groß und –

»Mädel, willst du nicht wenigstens den teuren Braten aufessen? Zum Stehenlassen habe ich kein Geld.«

Des Großonkels Worte brachten die träumende Marlene mit einem Ruck wieder zu sich. Mechanisch begann sie ihr Gänslein zu zerlegen.

Auch Heinz war von einem kleinen Ausflug nach Berlin zurückgekehrt, den er in Gedanken unternommen hatte.

»Wo hast du Lotte und Hanni untergebracht?« wandte er sich, die Fortsetzung seines Gedankens spinnend, an den Onkel.

»Johanna in einem Pensionat, und für Charlotte habe ich in einer feinen Familie als Stütze der Hausfrau Unterkunft gefunden.« Der Onkel machte ein sehr zufriedenes Gesicht dazu.

»Als – Stütze –« der Vetter glaubte seinen Ohren nicht zu trauen, »in dienstbarer Stellung bei Fremden – die Lotte – –?« Er sah den Onkel fassungslos an.

»Es wird der jungen Dame nicht schaden, wenn sie es mal unter anderen Leuten versucht; da sieht sie wenigstens, wie gut sie es bei ihrem Großonkel hat.« So schnitt der alte Herr kurz das ihm unbequeme Gespräch ab.

Heinz Grimm schwieg. Er hatte in früher Jugend die schwere Kunst der Selbstbeherrschung gelernt; nur an dem kaum merklichen Zittern seiner Schnurrbartspitzen konnte man die niedergehaltene Erregung bemerken.

Der Großonkel achtete auch nicht darauf; der war von seinem Abendessen in Anspruch genommen. Marlene wiederum schmiedete geheime Pläne; Lottes Auftrag, betreffend der englischen Cousine in spe, war ihr in Erinnerung gekommen. Wie fing sie es nur an, daß es nicht dumm ausfiel?

»War es schön in England?« begann sie, über ihre Kühnheit errötend.

Heinz bejahte.

»Wie – wie sind denn die englischen Mädchen?« Sie tappte gerade auf ihr Ziel los.

Heinz lächelte schon wieder. »Es gibt halt blonde und braune, grad' wie bei uns.«

Nun war sie so klug wie vorher; aber sie hatte Lotte versprochen, sich Auskunft zu holen.

»Hei – heiraten sie viel?« Sie wurde rot bis über die niedlichen Ohren.

Vetter Heinz lachte nun mit dem Großonkel um die Wette.

Aber ausgelacht wollte das empfindliche Marlenchen nicht werden; lieber mochte Lotte sie für dämlich halten.

»Wir glaubten nämlich, du würdest dir eine junge Frau aus England mitbringen,« platzte sie nun gekränkt los.

»Aha!« Der Vetter kniff das linke Auge ein und machte ein belustigtes Gesicht; er hatte seine gute Laune wiedergefunden. »Dir scheint ja viel daran zu liegen, mich in Ehefesseln zu schmieden, Marlene.«

»Mir – o nein – Lotte –« verwahrte sich Marlene eifrig. Aber gleich darauf bekam sie einen mächtigen Schreck; Lotte würde schön böse sein, daß sie als Urheberin der wichtigen Frage verraten wurde.

»Ich werde der Lotte selber Antwort geben – Kellner, eine Ansichtskarte!« Vetter Heinz sah jetzt kein bißchen enttäuscht mehr aus.

»Du könntest wirklich ans Heiraten denken, Junge,« mischte sich der Onkel nun ins Gespräch, und wieder spann sein Auge unsichtbare Fäden zwischen den beiden ihm zu Seiten sitzenden hübschen jungen Menschen, »alt genug bist du dazu – –«

»Aber net dumm genug, Onkel,« unterbrach Heinz ihn lachend. Dann warf er mit seiner flotten Handschrift schnell ein paar Zeilen auf die inzwischen gebrachte Karte.

»Liebe Karline,« las Marlene, die auch einen Gruß anfügen sollte, ganz heimlich und verstohlen, »ich wollt' Dir nur sagen, daß mir die englischen Madln gar net gefallen. Viele Grüße vom Onkel Heinz.«

»So, jetzt geht's erst amal auf den Löwenbräukeller und hernach ins Café Luitpold.« Heinz war plötzlich wie ausgetauscht; unternehmungslustig zwirbelte er sein Bärtchen.

»Junge, wo denkst du hin? Ich bin nicht mehr in den Zwanzigern; meinst du, ich will bis morgens in die Früh – –«

»Ganz so lang ist ja grad' net nötig, aber so jung sind wir net wieder beieinand'!«

Vetter Heinz nahm, trotzdem der Onkel das Fahren mit der Trambahn für die angenehmste Beförderung erklärte, einen Fiaker. Auch Marlene ließ sich von der plötzlichen guten Laune des Vetters fortreißen; je mehr Lokale man besuchte, um so größer war die Möglichkeit, Vetter Rudi zu treffen. Also vorwärts!

Am Löwenbräukeller wurde aber wieder kehrt gemacht. Es war Doppelkonzert und kostete gerade an diesem Tage Eintrittsgeld.

»Was ich an einem anderen Tage umsonst haben kann, dafür gebe ich auch nicht einen Groschen aus,« sagte der Großonkel und war durchaus nicht hineinzubekommen. So fuhr man lachend weiter ins Café Luitpold.

Das feine Café mit seiner verschwenderischen Ausstattung, seiner Säulenpracht, den bildergeschmückten Wänden und duftenden Blütenkelchen machte Marlene vollständig befangen. Scheu drückte sie sich in ihrem dunklen Reiseanzug zwischen den in hellen, feinen Abendkleidern prangenden Damen und den plaudernden Herren hindurch. Sie wagte die Augen kaum zu heben. Nie war sie in Berlin in ein ähnliches Etablissement geführt worden; sie kam sich durchaus als nicht hereingehörig vor.

Heinz grüßte hierhin und dorthin; er schien gut bekannt zu sein.

»Hier verkehrt alles, was a bisserl was ist in München, Künstler, Schriftsteller, Schauspieler, Professoren und Studenten, aber auch unschuldiges Gewürm wie ich,« erklärte der Vetter.

Wieder zog er seinen Panama. »Dort sitzen ein paar von den Glücklichen, die im Glaspalast haben ausstellen dürfen.«

Marlene fuhr herum. Zwischen den lachenden Kunstjüngern sah sie dichtes dunkelblondes Haar, ein von der Unterhaltung lebhaft gerötetes, unregelmäßiges Gesicht; das kannte sie unter Tausenden heraus. Breiter schien Rudi geworden zu sein, aber der samtne Malerkittel, die bei vielen jungen Künstlern beliebte wehende Tolle fehlten. Trotzdem gefiel er ihr besser als sein Nachbar mit der »Löwenmähne«. Er wandte dem Gang den Rücken und konnte sie nicht sehen.

Marlene hatte einen Platz erwischt, von dem sie den Künstlertisch im Auge behalten konnte; sie wurde bald blaß, bald rot.

»Lieber Himmel, gib, daß er mich sieht,« flehte sie in dem einen Augenblick inbrünstig, und in dem anderen sogleich: »Nein, o nein, der Großonkel –!« Wurde ihr nicht jede Freude von Bitterkeit vergällt?

»Lenerl, du bist ja so fad; hat's dir am End' einer dieser Raffaele angetan?« neckte Heinz.

Marlene beugte das erglühende Gesicht über die Tasse; gerade so hatte Onkel Theodor im Winter den Rudi genannt!

Drüben an den Künstlertisch war inzwischen ein Blumenmädchen getreten. Vetter Rudi kaufte eine langgestielte Rose und überreichte sie mit einem Scherzwort, wie es schien, einer gegenübersitzenden Dame. Aber siehe da, die anderen Herren kauften ebenfalls; von allen Seiten wurde die junge Dame förmlich mit Blumen überschüttet. Am Ende hatte sie Geburtstag? Ein Zentnergewicht fiel plötzlich bei diesem Gedanken von Marlenes Herz.

Vetter Heinz war dem sprechenden Blick der Blauaugen gefolgt. Er drehte den Kopf ebenfalls in jene Richtung. Nun stieß er ein leises »Hü–it« durch die Zähne und sah Marlene forschend an. Da wagte diese nicht mehr aufzublicken.

Gleich einer Erlösung begrüßte sie den gähnend hervorgestoßenen Wunsch des Großonkels, nun endlich ins Bett zu kommen.

Wieder mußte sie an Rudis Stuhl vorüber; sie streifte ihn fast. Er sprach und lachte und ahnte nicht, daß ihm sein blondes Cousinchen so nahe war.

»Morgen in der Früh hol' ich dich ab, Lenerl; du mußt dir das Treiben im Hofbräuhaus anschaun. Der Onkel wird wohl a bisserl länger schlafen. Dann gehn wir miteinand' in den Glaspalast,« sagte Heinz beim Abschied.

»Ach was,« antwortete der Onkel gähnend, »in Berlin kann ich jeden Tag genug Bilder sehen.«

Marlene schaute Heinz flehentlich an. Ob er sie verstand?

»Wenn du müd bist, setzt du dich halt auf ein Sofa; aber den Glaspalast muß man anschaun. Es sind diesmal besonders gute Sachen dort.«

Marlene drückte Heinz dankbar die Hand beim Abschied. »Schlaf wohl, Lenerl, und laß dir auch was Schönes träumen, gelt?«

Er schaute sie so verschmitzt an, daß Marlene nun merkte, daß er Vetter Rudi ebenfalls gesehen hatte. Am Ende kannte er ihn gar näher?

Es wurde nicht viel aus dem Schlaf in dieser Nacht. Marlenes geschlossene Augen sahen unausgesetzt den lebhaften Künstlertisch aus dem Café Luitpold vor sich. Hätte sie sich nicht wenigstens durch Husten zu erkennen geben sollen? Als sich gegen Morgen endlich der Schlummer auf sie herabsenkte, begannen die Kirchenglocken zur Frühmesse zu rufen; sie schreckte wieder empor.

Durchsichtig blaß, mit Schatten um die Augen, trat sie morgens um acht Uhr Vetter Heinz entgegen.

»Potzblitz, Dirn, du schaust ja wie das leibhaftige Elend drein! Gar so lang sind wir doch net aufgeblieben, daß du ein so katzenjämmerliches Gesicht machst,« begrüßte er sie.

Die frische Morgenluft tat Marlenes schmerzenden Schläfen wohl und hauchte ihre bleichen Wangen rosig an; die hellblaue Bluse, zu der sie sich heute aufgeschwungen, da der Großonkel noch schlief, ließ sie noch zarter, blonder und anmutiger erscheinen.

Trotzdem konnte Vetter Heinz, als sie ziemlich einsilbig an seiner Seite dahinschritt, den heimlichen Wunsch nicht unterdrücken: »Warum ist die Lotte net da!« Marlene dachte in dem gleichen Augenblick ganz das gleiche, nur daß es statt »Lotte« der Name »Rudi« war.

Ungeachtet der frühen Morgenstunde herrschte im Hofbräu lärmendes Treiben. Da standen an den Tonnen auf dem Hofe Droschkenkutscher, Dienstmänner, Hökerinnen und Nichtstuer, jeder seinen Bierkrug vor sich. An den Holztischen unter den gewölbten Steinbogen drängten sich die Leute in gemütlicher Geschäftigkeit, packten hier ihr Frühstücksbrot aus, zogen dort Salzbrezeln aus einer nicht ganz einwandfreien Schürze oder ließen sich vom Zenzerl »a Paar Weißwürscht« bringen.

»Komm, setz dich daher, Lenerl!«

Der Vetter zog die mit großen Augen das fremde Bild in sich aufnehmende Marlene zu einem Tisch. Der Arbeiter in der blauen Bluse rückte bereitwillig zur Seite, um dem hübschen Mädchen Platz zu machen. Aber Marlene zögerte noch. Sie war ja nicht stolz, durchaus nicht; im Gegenteil, meist war sie zu armen Leuten besonders freundlich. Aber sich so mir nichts, dir nichts mit ihnen an einen Tisch zu setzen, das paßte dem norddeutschen jungen Fräulein nicht. Da hatte eine umfangreiche Markthändlerin an demselben Tisch Platz genommen; daneben ließ sich ein blaurotbenaster umherziehender Händler nieder. An der Ecke wieder saß ein gut gekleideter Herr und biß in seinen Radi.

»Das ist der berühmte Professor A.; der trinkt hier jeden Morgen, bevor er ins Kolleg geht, seine Maß und ißt seinen Radi,« erklärte Heinz der aufhorchenden Marlene.

Nun, wenn der berühmte Herr Professor hier saß, würde es der Marlene Elmert wohl auch nicht schaden, sich »daherzusetzen«.

»Magst a Paar Weißwürscht?« fragte der Vetter.

Marlene schwankte. Appetit hatte sie schon, aber –

»Essen S' nur, die sein gut heut!« Der Arbeiter mischte sich gemütlich in die Unterhaltung.

Als Vetter Heinz mit seinen Würschtln wiederkam, waren Marlene und ihr wenig gesellschaftsfähiger Nachbar bereits gut Freund.

Marlene und Heinz kehrten zum Hotel zurück, der Großonkel saß wohlgelaunt im Vestibül. Er hatte gut geschlafen, gut gefrühstückt und seine Zeitung ohne Störung gelesen; das waren drei wichtige Dinge, die auf den Witterungsstand des ganzen Tages von Einfluß waren.

Marlene mußte ihm vom Hofbräuhaus erzählen. Danach schwang er sich sogar dazu auf, ihr seinerseits nun auch etwas von der Schönheit Münchens zeigen zu wollen.

»Königliche Residenz« und »Englischer Garten«, das kostete nichts; überdies war ihm solch kleiner Spaziergang ärztlich anempfohlen worden. Heinz mußte inzwischen mal ins Geschäft. Um halb zwölf wollte man im Glaspalast wieder zusammentreffen.

Arm in Arm durchwanderten die zwei die Stadt der Kunst. Wer sie einherkommen sah, der freute sich über die harmonische Verschmelzung des Alters und der Jugend. Niemand bemerkte, daß zwischen den beiden, trotzdem sie dicht nebeneinander gingen, eine Kluft gähnte. Aber je weiter der Großonkel in den herrlichen Sommertag hineinschritt, um so kleiner wurde der Zwischenraum, der ihn von seiner Begleiterin trennte. Mit jedem Schritt machte er ein Jahr in seinen Erinnerungen zurück; er fühlte sich wieder frisch und jung, und ihm zur Seite ging die blonde Henni, die er so lange entbehrt hatte.

Aber als er schließlich, um seinem einen Grundsatz, pünktlich zu sein, zu entsprechen, seinem anderen, allenfalls Trambahn zu fahren, untreu werden und sich eine Droschke zum Glaspalast leisten mußte, da sie in dem Straßengewirr nicht rasch genug hinfanden, kam er plötzlich wieder ganz in die Gegenwart zurück. Er zankte mit Marlene, daß sie sich nicht besser orientieren könne; da schlich sich der Schatten der blonden Henni davon.

Marlene grämte sich nicht darüber. Die sah vor sich den ausgedehnten gläsernen Palast, wo sie in dem Werke Rudis den Meister grüßen wollte. Andächtig wie in einer Kirche, so schritt sie langsam durch die der Kunst geweihten Räume.

Es war keine besondere Erbauung, mit dem Großonkel eine Bildergalerie zu besuchen. Er hatte es sehr eilig, jeden Saal zu durchmessen, um »alles« in Augenschein genommen zu haben. Fragte man ihn dann später, ob er dieses oder jenes Bild gesehen habe, so war seine ständige Antwort: »Wenn es da war, habe ich's gesehen.« Sein Urteil beschränkte sich meist darauf, Ähnlichkeiten der Porträte mit ihm bekannten Persönlichkeiten festzustellen; ließ er sich wirklich dazu herbei, einmal im Katalog nachzublättern, den er sich nie selbst kaufte, so schimpfte er meistens, daß nichts weiter als Herren- oder Damenbildnis angegeben war. Das sah er doch von selber!

Auch heute eilte er beinahe als Schnelläufer durch sämtliche Säle. Marlene, die mit einem Interesse, das freilich nicht nur der Kunst galt, auch an das unscheinbarste Bild herantrat, stellte seine Geduld auf eine harte Probe. Viel Herrliches sah Marlene, aber das, wonach sie sehnsüchtig spähte, wollte und wollte sich nicht finden lassen. So oft sie auch zusammenschreckend die Initialen R. E. an einem Gemälde entdeckte, stets erwiesen sie sich beim hastigen Nachschlagen im Katalog als zu einem fremden Namen gehörig. Die Bilder waren nach Sälen und Nummern dem Buche eingeordnet; Marlene fand den Namen des Vetters nicht heraus, und Heinz danach zu fragen, das wagte sie doch nicht.

»Ich habe genug,« erklärte der Großonkel, ungeduldig auf und ab marschierend, »es ist auch bald Essenszeit; ich denke, wir gehen.«

Heinz zeigte sich einverstanden; Marlene weinte fast vor Ärger und Enttäuschung.

»Halt, eins muß ich euch noch zeigen« – Heinz blieb unweit des Ausgangs stehen – »hier in dem kleinen Nebensaal hängt ein prächtiges Bild, das die goldene Medaille bekommen hat; das dürft ihr net auslassen.«

Der Onkel brummte zwar, er könne auch ohne das Bild weiterleben, aber er kam langsam hinterdrein.

Von einem flimmernden Sonnenstrahl beglänzt, hing ein großes Gemälde an der Längswand des schmalen Raumes. Unter einem Lindenbaum, der seinen lichten Blütenregen herniederrieseln ließ, stand ein lichtblondes, kleines Mädchen, zart und duftig wie ein Lindenblütchen. Alles war Licht und Duft in diesem Bilde. Über des Mädchens weißes Kleid kleckerten blaue, rote und grüne Farben eines verdorbenen Tuschkastens; mit weinerlich verzogenem Munde blickte die Kleine auf ihre gerötete Hand. Vor ihr, die Rechte wie zum zweiten Schlage erhoben, stand mit gefurchter Stirn ein langaufgeschossener Knabe mit zornigen braunen Augen. O, diese braunen Knabenaugen! Jahrelang hatte Marlene ihren Zornesblick nicht vergessen können. Sie brauchte nicht die in der Ecke verzeichneten Initialen, sie brauchte keinen Katalog; sie wußte, das konnte nur Rudis Bild sein. Wie eine schnelle heiße Welle jagte ihr alles Blut zum Herzen hin; sie sah nur noch die herunterrieselnden Lindenblüten. Ein Schleier legte sich ihr vor die Augen.

»Dieses ist also das Bild, das die goldene Medaille erhalten hat; ›Lindenduft‹ heißt's,« wandte sich Heinz zum Großonkel.

»Dieses ist also das Bild, das die goldene Medaille erhalten hat.«

»Die goldene –« Marlene bekam jedoch das Wort nicht mehr heraus; der Saal drehte sich mit ihr. Sie streckte die Hände aus – aber Vetter Heinz war schon herzugetreten und stützte sie.

»'s war wohl doch a bisserl zu viel Anstrengung für dich heut, Lenerl. Komm in die frische Luft; da wird's besser!«

Noch einen langen Blick warf Marlene auf das mit der goldenen Medaille ausgezeichnete Bild, dann ließ sie sich schweigend hinwegführen.

»Zu meiner Zeit kannte man noch keine Nerven – da hatten die Mädchen noch Mark und Kern – so zimperliche Frauenzimmer gab es damals nicht!« Der Großonkel war ungehalten über das »zart besaitete Dämchen«.

Aber Marlene vernahm nichts von seinem Schelten und Brummen. Die schritt durch ein schimmerndes Meer von Lindenblüten. Rudi hatte ihrer gedacht und der lindendurchwürzten Juniabende! Wie Tausende und aber Tausende von winzigen Glöckchen läuteten ihr die Blüten, die sie im Geist erschaute, ins Ohr. Ein berühmter Künstler war er geworden, der Rudi, und hatte sein blondes Cousinchen doch nicht vergessen! Stumm, unbewußt, ohne Worte, jubelte ihre Seele.

»Ich denke wir essen wieder im Künstlerhause.« Der Großonkel unternahm gern am nächsten Tage dasselbe, was er am Tage zuvor getan hatte.

»'s ist recht; ich ess' oft dort mit einem Bekannten zusammen. Wenn's euch net grad' unangenehm ist, bitt' ich ihn halt dazu.«

Dem Onkel war es völlig gleichgültig, ob da noch jemand mehr am Tische saß oder nicht. Marlene, die viel lieber ihren Gedanken Audienz gegeben hätte, als sich mit einem Fremden unterhalten zu müssen, wurde nicht erst gefragt.

Man saß bereits bei der Suppe, als Heinz plötzlich lebhaft winkend aufsprang. Hinter Marlenes Stuhl schien der Bekannte aufgetaucht zu sein. Als wohlerzogenes Mädchen wandte sie den Kopf nicht.

»Unser großer, mit der goldenen Medaille prämiierter Maler, Herr Elmert,« stellte Heinz mit spitzbübischem Lächeln vor, aber den Namen verschluckte er ziemlich. »Mein Onkel, Herr Grimm aus Berlin, seine Nichte – – –«

Marlene war weiß geworden wie das Tischtuch vor ihr. Rudis Gesicht erschien wie in Blut getaucht; offenbar hatte auch er von der Überraschung keine Ahnung gehabt, die da Heinz Grimm heimtückisch ins Werk setzte.

»Ist mir eine Ehre!« Dem Onkel imponierte der junge Mann, oder vielmehr die goldene Medaille; er bot ihm sogar einen Stuhl neben sich an.

Marlene und Rudi hatten noch kein Wort gewechselt. Bei Marlene jagte eine Erregung die andere. Die plötzliche Freude, Rudi an ihrem Tisch zu sehen, war schon längst wieder zurückgedrängt von beklemmender Angst. Wenn der Großonkel merkte, wen er an seine Seite geladen?!

Da streckte Rudi plötzlich in herzgewinnender Natürlichkeit ihr die Hand über den Tisch hin. »Wie freue ich mich, Marlenchen! Geht es dir gut?«

Die Mädchenfinger, welche die kräftige Männerhand umspannten, zitterten wie Espenlaub. Ihre Lippen bewegten sich, aber keinen Laut brachte sie heraus.

Mit einem Ruck hatte der Großonkel den Löffel hingelegt.

»Du – Marlenchen – ja, in Kuckucks Namen, was hat denn das zu bedeuten?« Sein blitzender Blick durchbohrte den jungen Mann förmlich.

»Es sind halt Jugendgespielen, lieber Onkel; ich hab's mir als Überraschung ausgedacht. Fein gelungen, gelt?« Damit nahm Heinz, trotzdem auch ihm dabei nicht ganz wohl zumute war, schnell die Antwort vorweg.

Aber Rudi richtete sich kerzengerade auf; ruhig begegnete sein Blick den blitzenden alten Augen.

»Sie haben wohl meinen Namen nicht verstanden, Herr Grimm; Rudolf Elmert – Marlenes Vetter,« sagte er laut und deutlich.

Marlene hatte die Empfindung, als ob jetzt die Welt untergehen müsse. Mit drohend gefurchter Stirn blickte der Onkel von einem zum anderen.

»Ist das ein abgekartetes Spiel?« stieß er hervor.

Marlene kannte diese Ruhe vor dem Sturm. Rudi sah ihm frei in die Augen.

»Dazu hätte ich mich kaum hergegeben, und außerdem hätte ich Ihnen dann wohl nicht sofort meinen Namen genannt,« sagte er stolz.

Das war einleuchtend; des Onkels Stirn glättete sich.

Eine dumpfe Pause trat ein.

Gerade die Ehrlichkeit machte auf den Onkel noch mehr Eindruck als die goldene Medaille. Außerdem – was hatte er denn eigentlich noch gegen die Elmert? Seitdem er Hennis Brief gelesen, doch im Grunde genommen nichts mehr! Wer einen solchen Sohn besaß, der mußte selbst ein Ehrenmann sein; das wußte er auch ohne jenes Schreiben.

»Aber Onkel, du machst ja ein G'sicht, als ob du uns alle miteinand' am liebsten aufessen tätst,« platzte da plötzlich Heinz gemütlich dazwischen.

Diese leichtblütige Harmlosigkeit war geradezu beneidenswert; nur einen kleinen Teil davon wünschte sich die schwerfällige Marlene.

»Ich dachte daran, daß es Theodor Elmert zu gönnen sei, daß sein Sohn es zu etwas Tüchtigem gebracht hat,« antwortete der Onkel mit ernster Stimme.

Schien die Sonne nicht plötzlich noch einmal so hell, oder waren es die Strahlen der aufgehenden Sonne in Marlenes und Rudis Augen?

»Onkel Heinrich« – immer noch zweifelhaft rang es sich von Marlenes Munde; dann griff sie, ungeachtet der Umsitzenden, nach des Onkels Hand und zog sie inbrünstig an die Lippen.

»Schon gut, schon gut,« polterte er, dem alle heftigen Gefühlserregungen zuwider waren, »iß dein Fleisch – es wäre schade drum.«

»Ruhig, Kindchen, ruhig!« Rudis Stimme glättete die wild durcheinander tobenden Fluten ihrer Erregung.

Gehorsam aß sie, in dem Augenblick, da sie glaubte, auch nicht einen Bissen hinunterwürgen zu können, von dem Braten und dem »gar so guten Kraut«, das ihr Vetter Heinz auflegte.

Der Onkel speiste wie stets schweigsam; nur ab und zu streifte ein wohlgefälliger Blick den jungen Künstler, der lebhaft von seinem Ringen und Streben, aber auch von manchem Zweifel, manch entmutigender Stunde erzählte.

Marlene hatte es noch nicht gewagt, Rudi zu seinem glänzenden Erfolge zu gratulieren; aber in ihren Blauaugen las er eine ganze Welt von guten Wünschen.

Heinz summte vergnügt vor sich hin und ließ Rudi sprechen, mit dem er durch Zufall bekannt und bald befreundet geworden war. In seinem offenen Gesicht stand deutlich: »Das hab' ich recht gemacht, gelt?«

Da tauchten sie zum ersten Male vor Marlene auf, die Riesen des bayrischen Hochgebirges.

»Jetzt legt sich der Onkel zu seinem Schläfchen nieder, und wir zwei beid' ringen indes um die Palme, unser Fräulein Cousine zu unterhalten; Sie müssen net grad' überall die goldene Medaille erwischen, Elmert. Hernach da geht's nach Starnberg 'naus; Sie können sich doch freimachen?«

Wie selbstverständlich nahm Heinz an, daß Rudi zusagen würde. Der aber wandte sich zum Großonkel.

»Wenn der Herr Onkel nichts dagegen hat.«

Wirklich, der junge Mann wußte, was sich gehörte! Nein, der Herr Onkel hatte durchaus nichts dawider einzuwenden. Das war ja ein prächtiger junger Mensch, keine Spur eingebildet auf seinen großen Erfolg, kein bißchen übergeschnappt, wie es Künstler so leicht werden! Daß er gerade »Elmert« hieß, nun, dafür konnte der junge Mann doch im Grunde genommen nichts!

Vetter Heinz erkannte die stille Marlene heute gar nicht wieder. Auch Onkel Heinrich warf erstaunte Blicke auf ihr lebhaft gerötetes lachendes Gesicht. Der alte Sanitätsrat hatte wirklich recht; die Reise tat dem blassen Mädchen gut.

Nie hatte Marlene gewußt, daß es so schön auf der Welt sein könnte. Zum erstenmal war das Schattenblümchen in helles, goldenes Sonnenlicht gesetzt worden; nun entfaltete es zu seiner eigenen und der anderen Verwunderung farbenprächtige Blumenblätter, von denen es bisher selbst keine Ahnung gehabt hatte.

Auf den blauen Wassern des Starnberger Sees lag blitzendes Sonnengold; einen schimmernden Glorienschein wob es um Marlenes Blondkopf. Rudis Künstlerauge hing unverwandt an ihr.

»Dort drüben liegen die Berge, Elmert,« neckte Heinz Grimm.

Ja, da tauchten sie scharfbegrenzt in majestätischen Umrissen zum erstenmal vor Marlene auf, die Riesen des bayrischen Hochgebirges. Da, die Zugspitze! Schnee, richtiger Schnee lag darauf, Marlene konnte es noch immer nicht fassen, daß sie das alles mit eigenen Augen schauen sollte.

Voll Stolz wies Heinz ihr die Schönheiten seines Vaterlandes. »Protzenhausen«, die scherzhaft so benannten Landhäuser der Münchener Hopfenkönige, Schloß Berg, das der unglückliche König Ludwig bewohnte, herrliche Parkanlagen, leuchtende Schlösser, edel gebaute Villen in hügligem Tann! München, die Kunststadt, drückte auch ihrer weiteren Umgebung ihren vornehmen Stempel auf.

Hinter dem Wettersteingebirge war die Sonne zur Rüste gegangen. Samtblauer, mit unzähligen Sternlein besäter Abendhimmel überspannte den See, als das leis schaukelnde Schiff sie wieder der Bahnstation zutrug. Droben mit ihnen um die Wette segelte das Silberschiffchen des Mondes.

Rudi hatte einen Sitz neben Marlene bekommen; aber da es dem Großonkel auf seinem Platze zog, bat er den jungen Herrn, doch ein wenig zu rücken. Rudi mußte sich also damit begnügen, Marlenes Profil, an des Onkels Schnauzbart vorbeischielend, zu betrachten.

So rollten auch diese vierundzwanzig Stunden, die einen Feiertag in Marlenes Leben bedeuteten, dem alles verschlingenden Meer der Zeiten zu. Am nächsten Morgen entführte das Dampfroß sie unbarmherzig den hutwinkenden Vettern. Fort ging es, den blauen unbekannten Bergen zu.


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