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Lämmerhüpfen.

»Ach, wenn es doch alle Tag Weihnachten wär'!« So schloß das Kinderlied, das Marlene und Lotte vor vielen Jahren mit ihrem Mütterchen gesungen hatten. Die alte Melodie verfolgte sie jetzt auf Schritt und Tritt. Aber so sehnsüchtig hatten selbst die Kleinen damals nicht dem erloschenen Lichterglanz nachgeschaut, als es jetzt die Großen taten.

Bis zum fünften Januar, dem mit Spannung ersehnten Theatertage, trieben Marlene und Lotte in jeder freien Minute dramatische Studien. Aber wenn man die zwei miteinander sprechen hörte, wurde es einem zweifelhaft, ob Schiller die Jungfrau von Orleans geschrieben hatte oder Heinz Grimm. Für die beiden Mädel war Heinz, als Urheber des bevorstehenden Genusses, entschieden der wichtigere.

Der kleinen Hanni hatte Marlene den Inhalt des Dramas erzählt. Sie war ja noch reichlich jung für eine solche Aufführung, aber der gute Vetter hatte die Kleine doch nicht ausschließen mögen.

In den duftigen neuen Spitzenblusen, angetan mit Armband, Ring und Medaillon, so wanderten die drei in gehobener Stimmung zum Schauspielhause. Selbst wenn nun gar nichts weiter erfolgt wäre, das Bewußtsein allein, rechtmäßige Besitzerinnen von drei Parkettplätzen zu sein und in entsprechender Kleidung dort erscheinen zu können, wäre des Glücks für die Schwestern gerade genug gewesen.

Endlich ertönte das ersehnte Klingelzeichen. Es wurde dunkel, herzbeklemmende Erwartung wie vor der Weihnachtsbescherung legte sich auf die drei. Dann tauchte plötzlich eine andere Welt vor ihnen auf.

Sicher kannte keiner von all den Schauspielern da oben seine Rolle so gut wie Marlenchen. Ja, es war etwas Altvertrautes, und doch so neu, so fremd, so erregend! Sobald der Vorhang sich schloß und es wieder hell wurde, schlossen sich auch Marlenes Blauaugen; es war ihr unerträglich, sich so plötzlich aus der Stimmung zu reißen und zur Alltäglichkeit hinabzusteigen.

Auch Lotte war Feuer und Flamme. Der tapfere Lionel versetzte, als das Vorbild edelster Männlichkeit, ihr Herz in helle Begeisterung. Freilich, in einer Feldherrnszene, die ein klein wenig an die Geschichtstunde seligen Angedenkens erinnerte, hatte Lotte mehr Interesse für ihren neuen Ring als für Frankreichs Krone. Die blauen Steinchen waren nach innen gerutscht, und der schmale glatte Goldreif hob sich leuchtend von ihrem Finger.

»Wie ein Verlobungsring sieht er aus,« dachte sie herzklopfend. »Himmel, wenn mich die Leute hier bloß nicht für verlobt halten! Ich werde doch erst sechzehn!« Aber da niemand so böse Gedanken zu hegen schien, wandte sie ihre Huld wieder Karl dem Siebenten zu.

Auf Hanni machte die Erscheinung des schwarzen Ritters den gewaltigsten Eindruck. Sie graulte sich entsetzlich. Als er mit Blitz und Donner verschwand, da wäre sie am liebsten auch verschwunden.

Marlenchen war überhaupt nicht mehr im Theater. Sie selbst war die Jungfrau, die da oben stand, der Schrecken der Feinde. Jede Sekunde des schnellen Siegeslaufes durchlebte sie. Als die Jungfrau schließlich gefangen war, als sie in der atembeklemmenden Turmszene den dreifachen Eisenketten Hohn spottete, da packte Marlene in höchster Begeisterung den Arm der Nebensitzenden und kniff ihn in begreiflicher Erregung. Was kümmerte es sie, daß das nicht Lottes Arm war, sondern der einer Fremden? Wer konnte noch rechts und links unterscheiden, wenn sich vor ihren staunenden Augen die größten Wunder vollzogen?

Es empörte sie nachher geradezu, daß der König die soeben entseelte Jungfrau, nachdem Marlene ihren Tod bereits mit heißen Tränen beweint hatte, noch einmal vor die Rampe schleppte, wo sie durch liebreizendes Neigen des Hauptes kund tat, daß sie dem Himmel wieder entrissen sei. Aber auch Marlene wurde dadurch aus allen ihren Himmeln gerissen. Wie eine Traumwandlerin ging sie zwischen den Schwestern heim und hatte nur den einen Wunsch, im Traum all das Herrliche noch einmal zu durchleben!

Als die drei Mädchen mit ihren übervollen Herzen das graue Haus betraten, näherten sich statt Frau Tanns gewohntem Schlurfen schwere, knarrende Männerstiefel der Eingangstür. Der Großonkel öffnete in höchsteigener Person.

»Na, spät genug ist's aus,« empfing er sie.

Marlene antwortete nicht; sie weilte noch nicht auf dieser Erde.

»Warum bist du denn nicht schlafen gegangen, Onkel Heinrich?« erkundigte sich Lotte, der das alles nicht geheuer vorkam. »Frau Tann hatte uns doch versprochen aufzubleiben –«

»Frau Tann ist bereits auf dem Wege nach Hinterpommern – muß ihre Mutter auch gerade heute krank werden, wo ihr fort seid und noch kein Bett hergerichtet ist!« Der Großonkel faßte das Erkranken der alten Frau als ein ihm persönlich zugefügtes Unrecht auf.

Jetzt war keine Zeit mehr zum Träumen und zum Schwärmen, Onkel Heinrich mußte erst seine gewohnte Ordnung haben.

Statt in Rheims den König zu krönen, stand Marlene, die Jungfrau, in der Küche und kochte geschwind den Tee, den der Onkel vor dem Schlafengehen stets zu trinken pflegte. War es ihre Schuld, daß sie statt der Baldriantüte die mit Sennesblättern erwischte? Sie, in deren Hand das Schicksal von ganz Frankreich gelegt war, konnte unmöglich auch noch auf den Tee in ihrer Hand achten! An des Großonkels Leibschmerzen und an seinem berechtigten Groll war also nur die Ländergier der Engländer im Jahre 1430 schuld!

Nicht einmal in der »Zelle« im eigenen Bett hatte man Ruhe, seine Gedanken in den Gärten der Poesie spazieren zu führen. Die nüchterne graue Werktagsprosa mit vorgebundener Küchenschürze schob die erhabenen Gedanken zur Seite, pflanzte sich breit vor Marlenchens geschlossenem Auge auf und fragte zudringlich: »Was kochen wir morgen?«

Ja, es war nicht so leicht, die ganze Wirtschaft allein zu regieren! Wäre Lotte am anderen Morgen nicht einigermaßen früh schon aufgewacht, Marlene und Hanni hätten ohne Frau Tanns Wecken sicherlich bis zu deren Wiederkehr geschlafen.

Der Onkel vermißte Frau Tann auf Schritt und Tritt, und der Sennestee vermochte seine Laune nicht gerade zu verbessern. Mit hunderterlei Kleinigkeiten hatte die langjährige Wirtschafterin den alten Herrn verwöhnt. Die Schwestern wußten zwar alles, was dazu gehörte, aber sie stellten sich nicht sehr geschickt an, und der Onkel war dementsprechend ungnädig.

Dann war noch Waschtag. Waschkeller und Trockenboden waren bestellt; Lotte mußte hinunter, den großen Waschkessel aufsetzen und die Wäsche einseifen. Sie, die gestern in einer Spitzenbluse das Parkett des Schauspielhauses geschmückt hatte, stand heute mit hochgekrempelten Ärmeln vor der dampfenden Seifenlauge – es war empörend!

Marlene hegte beim Zubereiten des Mittagessens weniger aufrührerische Gedanken. Bouillon und Milchreis kochten friedlich, das Täubchen für Onkel Heinrich wälzte sich behaglich in seiner Buttersoße. Geräuschlos huschte Marlene zur Zelle und kehrte alsbald mit ihrem geliebten »Schiller« wieder zurück.

Bald darauf zeigte die Küche ein sonderbares Bild. Auf dem Herd hatte die gebildete Köchin aus Holz und Preßkohlen erfinderisch ein Lesepult zusammengeschichtet; die »Jungfrau von Orleans« ruhte darauf. Marlenchen aber saß davor auf dem Küchenstuhl, in der Linken den Quirl, den Reis zu rühren, die Rechte mit dem Bratenspieß bewaffnet, um die Taube zur rechtem Zeit zu wenden.

Beim Ausfegen der Stuben war sie am Morgen zu dem Ergebnis gekommen, daß der zweite Monolog der Jungfrau den Höhepunkt des Dramas bildete. Die Versuchung war zu groß, ihn einmal so zu spielen, wie sie es gestern im Schauspielhause gesehen hatte. Sie war noch immer ganz berauscht davon. Onkel Heinrich kam vormittags selten aus seinem Zimmer, denn er erledigte seine Schreibereien; sie war also ganz unbeobachtet.

Den Kopf, in Ermanglung eines Säulenstumpfes an den Bratofen gelehnt, so starrte Marlenchen sinnend auf den Mülleimer zu ihren Füßen. Mit halblauter Stimme begann sie:

»Die Waffen ruhn« –

der Bratenspieß sank bedeutungsvoll herab.

»Wehe! Weh mir! welche Töne,
Wie verführen sie mein Ohr –«

Mit sehnsuchtsvoll geneigtem Kopf lauschte sie der plärrenden Musik eines Leierkastens auf dem Nachbarhofe, der gerade »Im Grunewald, im Grunewald« spielte.

»Daß der Sturm der Schlacht mich faßte,
Speere sausend mich umtönten« –

Der Spieß fuhr wild in das sanfte, so wenig kriegerische Täubchen.

»Lösen sie in weichem Sehnen,
Schmelzen sie in Wehmutstränen« –

Zwei große Tropfen perlten von Marlenes Blauaugen in den dicken Reis hinein. Aber dieses Naß genügte leider nicht. Marlene dachte in ihrer elegischen Stimmung nicht daran, den Reis anzugießen; ein stark brenzlicher Geruch entströmte bereits dem Topf, ohne daß sie etwas davon merkte.

»Warum mußt' ich ihm in die Augen sehn,
Die Züge schaun des edlen Angesichts!«

In schwärmerischer Verzückung betrachtete sie den von gestern abend übrig gebliebenen Bückling.

»Frommer Stab, o hätt' ich nimmer
Mit dem Schwerte dich vertauscht!«

Ihr Blick umfaßte sehnsüchtig den emporgehobenen Quirl.

»Nimm, ich kann sie nicht verdienen,
Deine Krone, nimm sie hin« –

Sie schob den Bouillontopf, der ihr gerade am nächsten stand, demütig von sich, daß es in seiner Tiefe zu brodeln und zu bullern begann.

»Ach, ich sah den Himmel offen« –

Aber sie sah nicht, daß die Küchentür sich leise öffnete. Mit verständnislosen Augen blickte der Onkel auf die ganz versunkene Marlene.

»Mußtest du ihn auf mich laden,
Diesen furchtbaren Beruf?«

Drohend schwang sie den Quirl und den Spieß gegen den entsetzt lauschenden alten Herrn.

»Kümmert mich das Los der Schlachten,
Mich der Zwist der Könige?«

»Nein – Bombenmohrenelement nochmal – nicht im geringsten kümmert dich das! Um dein Essen kümmere dich gefälligst – bist du denn ganz und gar übergeschnappt, Mädchen? Verdirbt mir hier das teure Essen –«

Marlene hatte ihre Instrumente, Quirl und Spieß, im ersten Schrecken abwehrend vor sich gehalten. Jetzt stand sie, eben noch die unbezwingbare Siegerin von Orleans, an allen Gliedern zitternd vor dem aufgebrachten Onkel.

Der machte kurzen Prozeß. Ohne auf ihr Wehklagen zu hören, schleuderte er den geliebten Schiller in das hochaufflammende Herdfeuer.

»So – nun wirst du vielleicht mehr Interesse für deine Pflichten haben als für hochtrabendes Zeug, du Theaterprinzessin!« Schmetternd flog die Tür hinter ihm ins Schloß.

Sie war allein mit ihrem Jammer und dem angebrannten Milchreis. So endete Marlenchens dramatisch-kriegerische Laufbahn. – – –

Es war am Tage nach der Verbrennung Schillers auf dem Scheiterhaufen des Herdfeuers.

Seit dem frühen Morgen standen Marlene und Lotte drunten am Waschfaß. Man mußte mit dem gewaltigen Berg Wäsche heute unbedingt fertig werden, denn morgen hielten schon wieder andere Hausbewohner hier Einzug. Lottes gemütvoller Vorschlag, diesmal doch eine Waschfrau zu nehmen, damit der Großonkel nur ja nicht unter dem Waschfest zu leiden und seine Ordnung habe, fand keine Gegenliebe bei ihm. Er war ja nicht anspruchsvoll.

Die Seifenlauge dampfte; die Küchenlampe, die selbst am Tage in diesem Halbdunkel leuchten mußte, duftete nach Petroleum. Scharfer Sodadunst umhüllte die fleißig waschenden Mädchen.

Lotte spritzte den Seifenschaum von den Händen, streckte die entblößten Arme bis an das düstere Deckengebälk des Kellers und gähnte aus Herzensgrund. Dann klapperte sie zum Waschherd in den großen Holzpantinen, die sie über ihre Schuhe gezogen, denn ohne diese war das Stehen auf den feuchtkalten Steinen unmöglich. Dort mußte sie alle halbe Stunde ihren inneren Menschen mit heißem Tee aufwärmen. Nun beugte sie den hübschen Kopf wieder über die Kragen und Manschetten und rieb und rubbelte darauf los, daß die Seifenbläschen der versonnen in den weißen Schaum starrenden Schwester übermütig gegen die Nase sprangen.

»Flink, Marlenchen! Morgen ist Schwälbchens Geburtstag; da müssen wir alles hinter uns haben, sonst dürfen wir nicht gehen.« Lottes unnatürlicher Fleiß war geradezu beängstigend.

»Meinst du denn, daß Onkel überhaupt seine Erlaubnis gibt?« fragte Marlene. Ihr dramatisches Erlebnis am Tage zuvor hatte sie recht niedergedrückt. »Wir können ihn doch auch unmöglich allein lassen,« setzte sie nach einem Weilchen mit Überwindung hinzu.

»Er ist schon lange nicht im Klub gewesen; es täte ihm sicher gut, wieder mal mit seinen Bekannten zusammenzusein.« Rührend geradezu war es, wie Lotte für des Großonkels Unterhaltung bedacht war. Ilses Geburtstag war aber auch von jeher der schönste Tag im ganzen Jahre; da wurde das Schwalbennest auf den Kopf gestellt.

An das winzige Kellerfenster, auf dem phantastische Eisblumen blühten, pochte es plötzlich. Das war sicher Hanni, der die Zeit oben zu lang wurde.

Lotte öffnete die Kellertür; eisige Luft schlug ihr entgegen.

»Komm nur, aber sieh dich vor, daß du nicht fällst!« rief sie, wieder zu ihrem Waschfaß eilend.

Schritte tappten herab. Eine helle Stimme – war das nicht Schwälbchens munteres Gezwitscher?

Na, angenehm war es ja gerade nicht, daß man sie hier in diesem Empfangsalon aufnehmen mußte, aber es half doch nun mal nichts.

»Ach, hab dich doch bloß nicht so! Du wirst dir schon kein Bein brechen!« Mit diesen Worten tauchte Ilse in dem Strahlenkranz der Küchenlampe auf und hinter ihr – Marlene und Lotte glaubten in die Erde versinken zu müssen – statt der erwarteten Hanni, Käthe Möller in einer nagelneuen Pelzjacke und dazu passendem Hütchen!

»Puh – ist das hier eine Luft! Wie haltet ihr es denn nur fünf Minuten hier unten aus?« Das war das erste, was Käthe, nach Atem ringend, hervorstieß.

»Ersticke nur nicht!« Das Schwälbchen lachte und schüttelte Marlene und Lotte aufmunternd den einigermaßen trockenen Ellbogen. »Kinder, seid ihr fleißig! Man muß sich ja ordentlich seiner Faulheit schämen, wenn man euch sieht, nicht, Käthe?«

Ja, Käthe schämte sich auch – man sah es deutlich ihrer erhobenen Nasenspitze an – aber nicht ihres Nichtstuns, sondern daß ehemalige Kränzchenschwestern von ihr wie Waschfrauen im Keller arbeiteten, und daß sie selbst in ihrer feinen Toilette sich solch einer gemeinen Umgebung aussetzen mußte.

Die jungen Wäscherinnen erholten sich allmählich von ihrem Schrecken. Die Bloßstellung war ja grenzenlos – gerade Käthe Möller! – aber nun hieß es sich voll Grandezza mit der betrüblichen Lage abfinden.

»Waschen ist eine gesunde Beschäftigung – ich betrachte sie geradezu als muskelstärkende Turnübung,« suchte Lotte sich herauszureden. Voll Ärger aber, daß sie bei dieser Muskelstärkung überrascht wurden, rieb sie zugleich das unschuldige Handtuch so, daß das Wasser schadenfroh aus dem Faß schwappte. Käthe entfloh mit gerafftem Rock, als ob sie auf Eiern ginge, in die äußerste Kellerecke.

»Geschmacksache,« sagte sie recht ironisch, »aber wir wollen euch nicht länger stören; komm, Ilse!«

»Na, so schnell geht die Sache nicht! Erst habe ich mich noch meines Auftrages zu entledigen – eine große Überraschung!« Schwälbchen machte eine geheimnisvolle Miene. Es flatterte überall herum und steckte das Näschen neugierig in alle Kessel, Wannen und Zuber. »Ich möchte euch für mein Leben gern helfen – das ist ja eine riesig lustige Arbeit – schade, daß ich meine gute Bluse anhabe! Aber die Wringmaschine kann ich nachher drehen; das habe ich zu Hause auch schon gemacht. Nanu, was ist denn das für eine seltsame Lauge?« Ilse war an den Teetopf geraten.

»Unser Fünfuhrtee,« scherzte Lotte mit Galgenhumor, trotzdem ihr die Tränen ziemlich nahe waren.

»Hurra, da halten wir mit! Komm, Käthe, wir laufen schnell zum Bäcker und sorgen für Kuchen; das soll eine pikfeine Teegesellschaft hier unten werden.«

Schwälbchen sprang schon wieder die ausgetretenen Kellerstufen hinauf. Auch Käthe geruhte ihr zu folgen; das Außergewöhnliche eines solchen Fünfuhrtees im Waschkeller übte auch auf sie einen gewissen Reiz aus. Bald kamen die jungen Mädchen, beladen mit verheißungsvoll knisternden Tüten wieder zurück, jede zugleich mit einem Tassenkopf in der Hand, den sie sich von Hanni geholt hatten.

Marlene und Lotte hatten inzwischen ihre gute Laune wiedergefunden; wie elektrische Funken sprang es stets von Schwälbchens strahlender Heiterkeit auf die Freundinnen über. Sie hatten die schmale Holzbank, die wie eine Wippe auf und nieder ging, frei gemacht, den leeren Waschkorb umgestülpt, und eine noch ziemlich saubere Kaffeedecke über diesen ungewöhnlichen Tisch gedeckt.

Ilse war von der geschmackvollen Tafel begeistert; auch Käthe wurde von der harmlosen Fröhlichkeit mit fortgerissen. Den Tassenkopf in der Hand, so hockten die vier um den Waschkorb und schmausten wacker. Der Besuch thronte auf der wackligen Holzbank, Marlene auf einem Wäschebündel und Lotte auf dem umgekippten, noch leeren Spülzuber. Draußen aber auf der Kellerstufe saß die schwarze Katze und blinzelte mit ihren grünen Augen verwundert durch die Türspalte. Solange sie im grauen Haus umherstrich, war ihr solch lustiger Waschfrauenklatsch noch nicht vorgekommen!

Aber zum langen Feiern hatten Marlene und Lotte heute keine Zeit. Bald standen sie wieder am Waschfaß, und Ilse schoß nun endlich mit ihrer großen Neuigkeit los.

»Morgen ist mein Geburtstag,« begann sie.

»Das weiß ich schon seit zwölf Jahren!« Lotte sah ungemein enttäuscht aus.

»Ja, aber nun kommt es erst! Unser Kränzchen hat doch diesen Winter Tanzstunde –«

»Das weiß ich ebenfalls schon seit zwei Monaten!« Lotte hatte sich genug darum gehärmt und gejammert, daß sie sich nicht daran beteiligen durfte.

»Menschenskind, unterbrich einen doch nicht immer! Also weil morgen mein sechzehnter Geburtstag ist, gibt es keine Nachmittagschokolade, sondern ihr seid feierlichst für morgen abend zum ersten Lämmerhüpfen eingeladen.« Ilse machte eine Kunstpause, um die Wirkung ihrer Neuigkeit abzuwarten.

»Zum ersten Tanzstundenkränzchen,« verbesserte Käthe.

»Nee, Lämmerhüpfen! Muttchen und die Jungen nennen es nicht anders; ich finde den Namen auch sehr poetisch. Aber Kinder, ihr redet ja keinen Ton! Habt ihr etwa keine Lust?«

Ob sie keine Lust hatten? Ein Blick in die strahlenden Mädchenaugen genügte, das festzustellen.

»Wenn nur Onkel Heinrich nichts dagegen hat, weil Frau Tann verreist ist!« Marlene konnte das »Unken« nicht lassen.

»Können wir dunkle Röcke zu unseren Spitzenblusen anziehen und hohe Stiefel?« Diese Frage lag Lotte am meisten auf dem Herzen.

»Aber natürlich; es ist doch kein Ball,« beteuerte Ilse.

»Du hast ja schon so zierliche Tanzschuhe an!« Käthe warf einen spöttischen Blick auf Lottes Holzpantinen. Es war wirklich ein schreckliches Mädel, diese Käthe; eben war sie noch so nett, und gleich wurde sie wieder boshaft. Aber Lotte hatte ihre Harmlosigkeit jetzt wieder erlangt; sie bespritzte Käthe, daß die schreiend Reißaus nahm.

»Ich bitte einfach den Großonkel selbst um Erlaubnis, und schlimmstenfalls lade ich ihn auch zu unserem Lämmerhüpfen ein,« schlug Schwälbchen vor.

»Um Himmels willen nicht!« Käthe Möller stieß es mit solcher Inbrunst hervor, daß die anderen nun doch wieder über sie lachen mußten.

Ilse machte sich bereits nützlich; sie drehte die Wringmaschine und hatte sogar Käthe angestellt, die ausgerungenen Stücke säuberlich in den Korb zu breiten. Das förderte die Arbeit, die nun noch einmal so flott vonstatten ging. Immer kleiner wurde der Berg Wäsche.

Endlich waren sie fertig. Nun war noch der Onkel zu gewinnen, und dann drückte Lotte noch ein weiterer Kummer. Sie konnte nämlich bloß Knickswalzer tanzen.

»Das schadet nichts! Du kommst eine halbe Stunde früher; da bringe ich es dir noch bei.« Ilse wandte sich, die Kuchenreste für Hanni im Arm, zum Gehen.

»So, jetzt wird oben die Festung gestürmt!« Damit jagte sie die schwarze Katze draußen aus ihrem schläfrigen Nichtstun auf. Käthe aber nahm mit der Beteuerung, sich noch nie bei einem Tee so gut unterhalten zu haben, Abschied von dem mißachteten Waschkeller.

Schwälbchen verstand sich darauf, einen Wunsch zu erbetteln. Auch Herr Grimms Einwendungen konnten ihren Bitten nicht standhalten.

»Ich bin für morgen abend zum Tanz eingeladen worden,« eröffnete der Großonkel das Gespräch, als Marlene und Lotte endlich voll banger Erwartung aus der Versenkung des Waschkellers auftauchten.

»Ja, gehst du mit uns ins Schwalbennest, Onkel Heinrich?« Lotte war selig über seine gute Laune.

»Mit euch? Der Tausend, seid ihr etwa auch eingeladen?« So nett war der Großonkel seit Heinzens Abreise nicht mehr gewesen; Schwälbchen konnte wirklich hexen. »Na, mit Rücksicht auf meine Gicht, werde ich lieber bei Johanna zu Hause bleiben.«

Hanni sah zwar nicht sehr erbaut aus, aber das ihr von Ilse als Entschädigung in Aussicht gestellte richtige Kochen auf Spiritus am Sonntag mit Gerda tröstete sie einigermaßen.

Am nächsten Tage überlegte Lotte allen Ernstes, ob es nicht doch besser sei, abzusagen. Trostlos blickte sie auf ihre Hände. Die waren an und für sich nicht sehr zart, aber vom Waschen nun auch noch rissig geworden und krebsrot obendrein. Ob Vetter Heinzens Ring diesen Fehler wohl wieder wettmachen würde? Sie steckte ihn probeweise an; dabei mußte sie an den ersten Handkuß in ihrem Leben denken. Na, eine Hand, die Onkel Heinz geküßt hatte, würde wohl selbst Herr Totila nicht zum Tanzen verschmähen.

So traten Marlene und Lotte Punkt acht Uhr klopfenden Herzens in dem festlich erleuchteten Schwalbennest an.

Erstes Lämmerhüpfen! Gibt es etwas Herrlicheres, Unschuldvolleres und nur annähernd so Wichtiges überhaupt noch in der Welt?

Das Geburtstagskind, in einem weißgepunkteten Sommermullkleid, erschien als verkörperter Frohsinn. Jedem Eintretenden flog sie entgegen. »Kinder, zieht euch bloß die Handschuhe aus, damit es nicht steif wird!«

Nein, steif wurde es nicht; das wäre auch das erstemal im Schwalbennest der Fall gewesen. Die natürliche Heiterkeit, die jeder Winkel auszuströmen schien, lenkte auch die Gäste gleich in dasselbe Fahrwasser.

»Ganz richtige Herren« waren geladen, sogar ein Leutnant und ein Referendar; es war einfach wonnig! Zwar gab es unter den Tanzstundenjünglingen ziemlich viel Grünzeug, aber dafür hatten die noch junge Beine und waren unermüdlich im Walzen.

Zu Lotte hatte sich sogleich Teja gesellt, der ihr mitteilte, daß sie das »reizendste Mariellchen« von sämtlichen Damen hier wäre. Lotte war ihm dankbar dafür, denn all die Goldkäfer- und Lackschuhchen, die unter den Kleidersäumen hervorlugten, waren ganz dazu angetan, ihr die harmlose Fröhlichkeit zu zertreten. Immer wieder mußte sie auf ihre derben »Kommißstiebel« hinabschielen, die für den fußhohen Schnee allerdings geeigneter erschienen als für den Tanzsaal. Aber trotz der plumpen Beschuhung, trotz der knallroten Hände, die Vallis »ästhetisches Empfinden« so verletzten, daß sie sämtliche Freundinnen darauf aufmerksam machen mußte, und trotz des Knickswalzers war Lotte eine der begehrtesten Tänzerinnen. Auch Käthe Möllers Seidenrobe, die sich da so großspurig zwischen den Batist- und Musselinkleidchen breit machte, knisterte ärgerlich, als Totila schon zum drittenmal mit dem dunkelblauen Wollrock und der weißen Spitzenbluse vorbeigaloppierte. Käthe hielt es für ihre Pflicht, Totila anzuvertrauen, daß seine Tänzerin gestern in Holzpantinen am Waschfaß gestanden habe. Die Folge dieser menschenfreundlichen Mitteilung war, daß Totila die Liebenswürdigkeit hatte, Lotte sofort zur Quadrille aufzufordern.

Fritz Schwalbes betrübter Freund, der selbst an diesem Abend seinen Weltschmerz nicht ganz verleugnen konnte, glaubte am meisten Verständnis bei der sinnigen Marlene zu finden. Da er dem »unvernünftigen Herumspringen« durchaus keinen Geschmack abzugewinnen vermochte, tanzte er natürlich keinen Schritt; eine »Wanddekoration« nannte ihn deshalb Ilse. Aber Marlene konnte mit ihm von der »Jungfrau von Orleans« plaudern; das war ihr lieber als alle Walzer und Polka der Welt.

Ilses Brüder taten ihr Möglichstes zum Gelingen des Abends. Fritz bildete die Hauskapelle und war unermüdlich in der Vereinigung Polyhymnias mit Terpsichore; bald strich er die Fiedel, bald paukte er auf den Tasten herum. Ernst dagegen war die reine Straßenkehrmaschine. Alles was sitzen blieb, alle »Überbleibsel«, auch das verborgenste »Mauerblümchen« fegte er im lustigen Wirbel davon.

Es wurde zur Damenwahl geblasen. Die Herren standen in selbstherrlicher Erwartung da. Das ärgerte Lotte; am Ende bildeten sich die noch ein, man interessiere sich für sie. So holte sie sich trotz lachenden Widerspruchs Papa Schwalbe zum Tanz.

In dem geräumigen Speisezimmer war eine Stehbierhalle eröffnet. Die kleine Ilse als Büfettmamsell verschwand fast hinter dem riesigen, blitzenden Messingwurstkessel und all den Salat- und Bratenschüsseln. Lotte und Marlene halfen ihr, jede an einer Biertonne. Beim Ausschank unterhielt man sich noch zehnmal besser als an den kleinen, runden Tischchen, trotzdem es da auch nicht gerade leise zuging.

»Nanu, Fräulein Elmert, sind Sie die glückliche Braut, die heute in der Zeitung gestanden hat?« ulkte ein Jüngling, auf Lottes wieder einmal herumgerutschten Ring weisend; da ließ sie ihre rote Hand schnell hinter der umfangreichen Biertonne verschwinden und sah den vor ihr Stehenden geistlos an.

»Tun Sie nur nicht so,« neckte der weiter. »Herta Elmert stand heute in der Zeitung. Sie heißen doch so?«

»Marlenchen« – Lotte vergaß in ihrer Aufregung den Bierhahn zurückzudrehen, daß sich alsbald ein schäumender See Münchner zu ihren Füßen ergoß – »Marlenchen, Herta ist Braut!«

Auch Marlene hätte sicherlich in ihrer Überraschung ein neues Kanaan erstehen lassen, in dem statt Milch und Honig Münchner Bier fließt, wenn Frau Schwalbes an zehn Orten zugleich waltende Hand nicht die Vorsehung gespielt hätte.

Richtig, in der Zeitung stand es! Ilse hatte in der Geburtstagsaufregung vergessen, es mitzuteilen, und der Großonkel es begreiflicherweise unerwähnt gelassen. »Herta Elmert – Dr. med. Felix Steinhardt, Verlobte.« Wie fein sich der Name Elmert zwischen den Verlobungsanzeigen ausnahm! Nur weil es »Münchner« Bier war, kehrte Lottes Interesse allmählich wieder zu ihrer Biertonne zurück.

Aber die Aufmerksamkeit der Freundinnen war durch den Zwischenfall auf ihren Ring gelenkt. »Woher hast du ihn?« bestürmte man sie.

Was hinderte Lotte bloß daran zu sagen: »Von Vetter Heinz.« Sie wußte selbst nicht, weshalb sie sich davor scheute. Sie hatte sich sonst ganz gern ein bißchen interessant gemacht, und doch antwortete sie ohne Überlegung: »Von meinem Onkel Heinz.« Das klang väterlicher.

Nach der »Fütterung der Raubtiere« – diese ehrenvolle Bezeichnung stammte von Papa Schwalbe – trieb dieser die ganze Gesellschaft wieder an die »Arbeit«, denn zum bloßen Vergnügen wären sie doch wahrlich nicht hier. Aufs neue erklang der Mikadowalzer.

Marlene und Lotte waren durch die Verlobung der Cousine in gehobenster Stimmung. Den Höchstpunkt aber erreichte die Sonne der Heiterkeit, als nach geheimnisvoller Trennung die Herren als Schneemänner verkleidet und die Damen als Schneeflocken in kleidsamen weißen Seidenpapiermützen und Muffen zum Kotillon antraten. Die mit Konfetti gefüllten Schneebälle, die kreuz und quer an die erhitzten Köpfe flogen, erhöhten den Jubel noch. Und plötzlich – wer es zuerst ausdachte, wußte man nicht – aber es war allgemein beschlossene Sache: »Sobald Schneewetter eintritt, machen wir alle eine Schlittenpartie!«

Mit der Aussicht auf so herrliche zukünftige Genüsse und auf die vorgerückte Stunde mußte man doch schließlich an den Aufbruch denken. Überdies hatte Papa Schwalbe bereits verstohlen gegähnt und Zigarren für den Heimweg angeboten.

Viele Bälle haben Marlene, Lotte und Schwälbchen in ihrem späteren Leben noch mitgemacht, viel feinere und anspruchsvollere, aber so schön war es niemals wieder wie bei ihrem ersten »Lämmerhüpfen«. Glückliche Backfischzeit!


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