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Ein Maientag.

Draußen lachte goldener Maisonnenschein vom Himmel, linde Lüfte wehten über die Dächer.

Lotte merkte nicht viel davon. Sie lag auf den Knien in dem dämmerig kühlen Treppenhaus und scheuerte die Stufen. Ihr Sträuben hatte nichts genützt. Jeder Mieter des grauen Hauses war verpflichtet, alle acht Tage seinen Treppenabsatz reinigen zu lassen. Da nun der Onkel kein Mädchen hielt und auch dem Portier nichts dafür vergüten wollte, mußte Lotte als kräftigere der beiden Schwestern heran. Sie schimpfte zwar heimlich wie ein Rohrsperling, aber es half nichts. Wohl schüttelten die übrigen Hausbewohner den Kopf, daß die jungen Nichten des reichen Herrn Grimm so grobe Arbeit tun mußten; doch es mochte sich niemand mit dem als griesgrämig bekannten Sonderling einlassen.

»Können S' mir net sagen, ob Herr Grimm z' Haus is?«

Lotte hatte einen alten, ausgedienten Rock übergezogen und die Ärmel der schwarzen Kattunbluse hochgestreift; dazu trug sie eine grobe blaue Küchenschürze. Das war für die eitle Lotte ebenso hart, wie die »entehrende« Arbeit. Sobald drunten die Portierklingel ging, zuckte sie zusammen. Sie lebte in beständiger Angst, daß eine der ehemaligen Kränzchenschwestern, die vornehme Käthe oder die so leicht die Nase rümpfende Valli, sie einmal in diesem Aufzuge überraschen könnte.

Schritte kamen die Treppe herauf, schnell und elastisch, immer zwei Stufen auf einmal. Ehe Lotte sich noch aus ihrer gebückten Stellung aufrichten konnte, stand schon jemand hinter ihr.

Na, gottlob, kein Bekannter! Ohne den Herrn im feinen, hellen Sommeranzug weiter eines Blickes zu würdigen, neigte sie sich wieder auf ihre Arbeit.

Der Herr tänzelte inzwischen auf den Spitzen seiner hellbraunen Stiefel durch die von Lotte entfesselte Sintflut. Das junge Mädchen biß sich auf die Lippen, um das Lachen zu unterdrücken.

Jetzt blieb er oben an der offenen Wohnungstür suchend stehen und wandte sich, da kein menschliches Wesen sich zeigte, wieder zu Lotte.

»Können S' mir net sagen, ob Herr Grimm z' Haus is?« fragte er, flüchtig an seinen weißen Strohhut greifend. Graue Haare wurden sichtbar.

»Jawohl!« Lotte strich mit dem Handrücken die goldbraunen Löckchen aus der Stirn und kam herbei, vor Scham errötend, in der Hand die triefende Scheuerbürste. »Wünschen Sie ihn zu sprechen?«

Der Fremde sah bewundernd auf das bildhübsche Mädel, das wie der verkörperte Frühling in dem düsteren Treppenhaus stand.

»Bringen S' Ihrem Herrn meine Karte, liebes Kind,« sagte er, ihr eine Visitenkarte in die nasse rote Hand drückend.

Lotte schossen vor Empörung die Tränen in die Augen. Der fremde Besucher hielt sie für Onkels Dienstmädchen – solche Schmach!

Trotzdem warf sie drin einen schnellen, neugierigen Blick auf die Karte. »Heinrich Grimm.« Nanu, der Fremde hatte sich wohl vergriffen? Wie kam er zu Großonkels Karte?

»Onkel, da ist ein alter Herr, der dich zu sprechen wünscht – so komisch redet er, und hat mir eine falsche Karte gegeben – es ist eine von dir.«

Der Onkel rieb umständlich seine Brille blank, setzte sie auf die Nase und las den Namen.

»Hm – ein alter Herr, Charlotte? Du kannst wohl wieder mal nicht sehen?«

Aber ehe Lotte noch »er hat doch graue Haare« zur Verteidigung ihrer Menschenkenntnis entgegnen konnte, wurde die Portiere zu Onkels Zimmer mit raschem Griff auseinander geschoben. Es war der Fremde.

»Verzeih, lieber Onkel, dein Mädchen blieb zu lange aus! Wie freu' ich mich, dich nach so vielen Monaten wieder frisch und wohl zu sehen!« Er schüttelte dem Onkel voll Herzlichkeit die Hand.

Lotte stand starr, Onkel ...?

Da aber traf ein Ton ihr Ohr, daß sie sich mit weit aufgerissenen Augen zu dem Großonkel umwandte. Der Großonkel – wirklich und wahrhaftig – er lachte! Gleich einem Naturwunder starrte Lotte ihn an. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, daß er auch lachen könnte.

»Haha – ihr seid mir schon eine Gesellschaft! Das Mädel faselt mir was von einem alten Herrn mit grauen Haaren vor, und der Junge hält meine Großnichte fürs Dienstmädchen!« Ein hervorgestoßenes »Hm« vermittelte wieder den Übergang zu des Onkels gewöhnlicher Gemütstimmung.

Der »Junge« aber und das »Mädel« sahen einander verlegen an; wie auf Kommando brachen sie dann alle beide in ein befreiendes, herzerquickendes Lachen aus. Lotte bemerkte jetzt erst, daß ein junges blühendes Gesicht von vielleicht achtundzwanzig Jahren mit keckem schwarzen Bärtchen unter den grauen Haaren hervorsah. Der junge Mann aber dachte: »Wie konnt' ich nur dies hübsche Mädel mit dem feinen Gesichterl für das Dienstmädchen halten!« Lebhaft streckte er ihr beide Hände entgegen.

»Auf eine gute Freundschaft, schönes Cousinerl, ungeachtet unserer merkwürdigen Bekanntschaft! Heinz Grimm aus München!« Der junge feine Herr machte dem Backfischchen in dem ausgedienten Kleide und der groben Küchenschürze eine tiefe Verbeugung.

Für sowas war Lotte empfänglich. Als jetzt die tiefblauen Mädchenaugen und die blitzenden schwarzen des plötzlich hereingeschneiten neuen Vetters sich begegneten, da fühlten sie es alle beide: »Wir werden sicher gut Freund!«

Onkel Heinrich hatte inzwischen sein Gesicht wieder in die gewöhnlichen mißmutigen Falten gelegt.

»Sage Frau Tann, daß der Vetter zum Mittag bleibt, und zieh dir ein anständiges Kleid an, daß man sich nicht deiner zu schämen braucht,« knurrte er.

»Wenn ich Treppen scheuern muß, kann ich doch nicht ...« fuhr Lotte auf, die der unverdiente Tadel vor dem Besuch wieder mal aufsässig machte; aber des Großonkels Augenblitze ließen sie rechtzeitig verstummen.

Beim Hinausgehen fing Lotte einen mitleidigen Blick des neuen Vetters auf. »Armes Mädel,« dachte Heinz Grimm, »auf Rosen scheinst du hier auch nicht zu wandeln.«

Dann ließ er sich schweigend von dem alten Herrn berichten, wie man mit den Mädchen, die man aus Gnade und Barmherzigkeit ins Haus genommen hatte, seinen Ärger habe.

Draußen in der Küche verursachte Lottes Mitteilung große Aufregung. Frau Tann erzählte in einem Atem, was für ein reizender Mensch der junge Herr sei, der jedes Jahr seiner Berliner Filiale wegen herkomme; er sei ein Lieblingsneffe von Herrn Grimm, und die frühzeitigen grauen Haare lägen dort so in der Familie. Zugleich jammerte sie, daß man nur falschen Hasen zum Mittagbrot habe. Marlene schlug Schnee zu einer schnell eingeschobenen Speise und hätte sich am liebsten in ein Mausloch verkrochen. Wohl hatte sie schon davon gehört, daß der Großonkel in Süddeutschland noch irgendwelche Verwandte besaß, aber sie hatte sich immer vor ihnen gefürchtet; sicher glichen sie dem Onkel. Alle Beteuerungen Lottes – die gerade eine möglichst kleidsame Haarfrisur ausprobierte, anstatt den Tisch zu decken – daß der Vetter aus München einfach »süß« sei, nützten nichts. Marlene hätte die halbe Welt gegeben für die Erlaubnis, hinten in ihrer Zelle bleiben zu dürfen.

Aber als man dann um den Tisch saß, an dem es sonst so still und einsilbig zuging, und Vetter Heinz in seiner lustigen, süddeutschen Art eine lebhafte Unterhaltung in Gang brachte, da verlor auch Marlenchen ihre Befangenheit ziemlich. Zwar versprach sie sich immer noch und sagte »Sie« statt »Du«, wie der Vetter es verlangte, denn es widerstrebte ihr, einen bisher wildfremden Menschen plötzlich zu duzen; aber das gab nur Stoff zu neuer Heiterkeit.

»Die Lotte muß ›Onkel‹ zu mir sagen, weil ich halt so a würdiger alter Herr bin, net wahr?« neckte Vetter Heinz das junge Mädchen, auf seine grauen Haare weisend.

»Und du zu mir Jungfer Karline, Onkel Heinz – du weißt schon warum,« gab Lotte, die selten um eine Antwort verlegen war, schlagfertig zurück und zeigte ihre derben roten Hände, aber nur ganz wenig; schnell verschwanden sie wieder unter der Serviette.

Dann nannten sich die beiden nur noch »Onkel Heinz« und »Karline«.

Marlene warf ängstliche Seitenblicke zum Großonkel hin, was für ein Gesicht der wohl zu der ungehörigen Lustigkeit machte. Aber es war aus seiner Miene nicht recht klug zu werden. Die grauen Augenbrauen hatte er zwar drohend zusammengezogen; sie standen wie Stoppeln auf einem Felde. Aber der Mund unter dem grauen Schnauzbart ließ hin und wieder ein nicht unfreundliches »Hm« hören. Denn sprechen mochte der Großonkel bei Tisch nicht einmal, wenn er Besuch hatte.

Heinz tat, als bemerke er die zugeknöpfte Art des Onkels und die heimliche Scheu der drei Schwestern vor ihm ganz und gar nicht. Seine Lebhaftigkeit überbrückte jede schwüle Gesprächspause. Als man sich schließlich die Hände zur »gesegneten Mahlzeit« schüttelte, waren alle vier Damen, Frau Tann und Hanni eingeschlossen, von dem Vetter ganz bezaubert. Klein Hanni nicht am wenigsten wegen der außergewöhnlichen süßen Speise.

»So, Onkel, jetzt legst du dich ein bisserl nieder! Das leid' ich net, daß du dich für mich opferst; deine drei Mädel werden mich schon unterhalten,« sagte Heinz Grimm nach Tisch, dem gestrengen Onkel gemütlich auf die Schulter klopfend. Lotte winkte ihm erschreckt ab; nun würde der alte Herr sicher auffahren.

Aber der Onkel, der gar nicht daran gedacht hatte, seinen täglichen Mittagschlaf zu opfern, brummte nur: »Halte mir die Mädchen nicht von der Arbeit ab, Junge,« und zog sich in seine Gemächer zurück.

»Ha – puh –« machte Heinz mit komischer Grimasse und wischte sich aufatmend den Schweiß von der Stirn, »kommt Kinderl, jetzt wollen wir uns a bisserl was erzählen.«

Lottes lustiges Gesicht zeigte eine trostlose Jammermiene.

»Es geht nicht! Ich muß Geschirr aufwaschen, Hanni abtrocknen und Marlenchen Kaffee kochen – weil wir nicht mal ein Mädchen haben,« setzte sie noch entrüstet hinzu.

Heinz lachte, daß auch Lotte unwillkürlich einstimmen mußte.

»Na, Jungfer Karline, dann setz' ich mich halt zu euch in die Küche, wenn mich eure Gnädige net 'nausjagt,« scherzte der Vetter, mit fragendem Blick auf Frau Tann.

Die erhob allerdings Einsprache. Der junge Herr mit dem feinen hellen Anzug würde sich doch nicht in die unaufgeräumte enge Küche setzen! Die Mädchen würden ja bald mit ihrem bißchen Arbeit fertig sein; inzwischen wollte sie, Frau Tann, ihn schon unterhalten.

Aber dagegen sträubte sich wieder der Vetter, und ehe Frau Tann wußte, wie ihr geschah, hatte er sie zur Küche hinauskomplimentiert, weil ihr so ein kleines Nickerchen nach Tisch doch sicher auch ganz gut tue.

Ja, das war heute ein anderes Arbeiten als sonst! Der lustige Vetter thronte mit hochgezogenen Beinen auf dem Deckel des Kohlenkastens, auf den Lotte vorher Zeitungsbogen gebreitet hatte. Der flog die Arbeit nur so von der Hand; es machte ihr einen Heidenspaß, den »Onkel Heinz« mit seinem hellen Anzug in Angst zu setzen, daß sie ihn bespritzen würde.

Hanni sprang wie ein Irrwisch in der engen Küche umher und hatte bereits einen Teller beim Abtrocknen zerschlagen.

»Aber das bringt Glück,« tröstete Heinz und drückte der erschreckten Kleinen ein Geldstück in die Hand.

»Es tut auch not, ein bißchen Glück,« seufzte Lotte mit einem nachdenklichen Ausdruck im Gesicht, der gar nicht zu ihren strahlenden Augen paßte.

Heinz wurde ernst. Er sah auf die drei blühenden Mädchen, die ganz zu Freude und Frohsinn geschaffen schienen und hier in den düsteren alten Mauern bei dem düsteren alten Manne um ihr bißchen Jugend kamen. Sein gutes Herz tat ihm weh.

»Fühlt ihr euch wohl in eurer neuen Heimat?« fragte er, warme Teilnahme im Ton.

Die drei schwiegen, Lotte biß die Lippen zusammen, um nur ja kein unbedachtes Wort entschlüpfen zu lassen, und rieb auf ihren Töpfen drauf los, als ob sie damit all das Schwere von ihrer jungen Seele waschen könnte. Hanni schüttelte den braunen Kopf, nur Marlene gab sich einen Ruck.

»Der Großonkel hat uns eine Zuflucht geboten, und wir sind ihm dankbar dafür,« antwortete sie, als ob sie etwas Auswendiggelerntes hersagte.

»Du auch, Lotte?«

»Nein,« legte Lotte jetzt los, trotz Marlenes beschwörenden Blicken, »ich wollte, ich stände erst auf eigenen Füßen – je eher, desto besser!«

Heinz mußte unwillkürlich über ihren Ausruf lächeln.

»Dazu kann Rat g'schaffen werden! Hast du Lust, beim ›Onkel Heinz‹ als Schreibmaschinendame einzutreten? Ich hab' ein großes Geschäft in München, und hier in meiner Filiale beschäftige ich acht junge Mädchen im Bureau,« erklärte er scherzhaft.

Aber Lotte nahm den Scherz für Ernst, und seit diesem Augenblick stand ihr Lebensziel fest: sie wollte Schreibmaschinendame bei Heinz werden.

»Vorläufig putz nur ruhig deine Töpf' und versuch halt a bisserl Frohsinn ins Leben des Großonkels zu bringen! Er ist trotz seiner Brummerei net unempfänglich dagegen,« unterbrach der Vetter Lottes Zukunftsträume. »Ich red' aus Erfahrung.«

»Na, wenn wir so mit ihm umspringen wollten, wie du es tust, Onkel Heinz, da möchte er uns schön ansäuseln!«

Lotte hatte jetzt jede Scheu vor dem neuen Vetter verloren. Als Marlene später in der »Zelle« ihr heimlich zuflüsterte: »Lotte, du hättest nichts über den Onkel sagen sollen! Heinz ist sein Lieblingsneffe; denk nur, wenn er ihm das wiedererzählt,« da wurde Lotte ordentlich ärgerlich gegen ihr Marlenchen. »Heinz und klatschen? Du hast wohl 'nen kleinen Lüttiti,« fuhr sie auf.

»Was macht ihr heut abend?« fragte der Vetter, als man beim Kaffee saß.

Die drei Mädchen sahen einander ganz verdutzt an. Strümpfe stopfen, das taten sie jeden Abend, und zur Abwechslung besserten sie auch mal Wäsche aus. Der Großonkel las die Zeitung, oder er brummelte, je nachdem.

»Strümpfe stopfen mag ja eine recht unterhaltende und auch nützliche Beschäftigung sein,« fuhr Heinz fort, nachdem Lotte Auskunft gegeben hatte, »aber für einen so wonnigen Maiabend, wie der heutige, doch wohl net das Geeignete. Ich schlag' erst einen Spaziergang im Tiergarten vor, und nachher essen wir irgendwo im Freien, wo man a Maß Münchener kriegt. Einverstanden?«

Sechs Mädchenaugen leuchteten ihm dankbar entgegen.

»Du bist wohl nicht gescheit, Junge,« ließ der Großonkel sich da hören. »Im Restaurant essen? Das stimmt in keiner Weise mit den Erziehungsgrundsätzen überein, die ich mir für die Mädchen vorgenommen habe.«

»Und mit dem Geldbeutel noch viel weniger,« dachte Lotte in aufwallender Entrüstung, daß nun aus den herrlichen Plänen nichts werden sollte.

»Onkel Heinrich, den Mädeln tut's gut, mal a bisserl 'nauszukommen; Marlene schaut blaß genug aus, und Lotte –« Aber beim besten Willen konnte Vetter Heinz das blühende Gesicht Lottes nicht bemitleidenswert finden.

»Fix, zieht euch an, Kinderl,« fuhr er deshalb fort.

Nur mit Mühe unterdrückten die drei Schwestern ein Jubelgeschrei.

Der Großonkel war zunächst wortlos darüber, daß jemand es wagte, ihm die Entscheidung so vornweg zu nehmen. Aber da dieser Jemand Heinz Grimm war, der einzige Mensch, für den er überhaupt noch irgendwelches Interesse hatte, so ergab er sich brummend.

Die kahlen Wände der »Zelle« hallten wider von dem Lobe des neuen Vetters, während die jungen Mädchen mit fliegender Hand Toilette machten.

Keine ihrer drei Blusen erschien Lotte würdig genug, um von dem Vetter spazieren geführt zu werden. »Wenn er sich nur nicht unserer schämt,« dachte sie sorgenvoll.

Marlene hatte Onkel Theodors Bluse angelegt; leiser Duft von verwelkten Veilchen entströmte ihr. Da strich Marlenchen mit weicher Hand, wie um Entschuldigung bittend, über die seidenen Falten. »So nett wie Vetter Rudi ist er trotz alledem nicht,« dachte sie sinnend, und dann wunderte sie sich selbst darüber. Der neue Vetter war doch eigentlich viel liebenswürdiger und lustiger als Rudi; der hatte sie noch kein einzigesmal gekränkt.

Sie hatte keine Zeit zu langen Betrachtungen, denn Lotte schob ihr den schwarzen Hut flotter aus dem Gesicht und zog ihr ein paar blonde Löckchen in die Stirn.

»Mit solchem Mondscheinscheitel kannst du nicht mit Heinz spazieren gehen, Marlenchen. Ach, und nun schau mich an! Sehe ich so einigermaßen anständig aus? Der Rock ist schon wieder viel zu kurz, und der Hut ist ein olles Ungetüm.« Sie zupfte beständig an ihrem billigen Strohhut herum.

Selbst die kleine Hanni wurde von dem allgemeinen Eitelkeitsfieber angesteckt. Sie jammerte, daß sie keine Handschuhe habe.

Aber Herrn Heinz Grimm mußten seine Begleiterinnen wohl trotz alledem gefallen. Er war ordentlich stolz darauf, drei so anmutige junge Tanten auszuführen. »Seine drei Grazien« nannte er sie scherzend.

Lotte bemerkte mit Genugtuung, daß der helle Anzug von Heinz und sein feiner Panamahut sie alle miteinander herausriß; auch auf ihre einfache Kleidung fielen ein paar Strahlen von seiner Eleganz.

Aber als sie dann im Tiergarten waren, da dachte selbst Lotte nicht mehr an dergleichen äußerliche Dinge. Mit durstigen Augen tranken sie das zarte Lichtgrün der jungen Maienpracht, das Baum und Strauch schmückte, und mit durstigen Lippen atmeten sie das linde Mailüftchen, das sie umkoste.

Ach, dort in dem grauen Hause, da wußte man gar nichts davon, wie schön es draußen in Gottes Natur war, daß es frohe lachende Menschen gab, jubilierende Vöglein und sprießendes junges Grün! Es war, als ob von den drei Mädchenherzen eine Fessel sprang, die sie eingeengt hatte; das waren wieder glückselige Kinder, die dem Lenze zujubelten. Mit inniger Befriedigung sah Heinz Grimm die glänzenden dankbaren Augen und lachenden Lippen.

»Ich wollt', ich könnt' euch mehr als einen solchen Sonnentag machen, ihr armen Dinger; ich möcht' in euer Leben den Frühling hineintragen!« So dachte er, und sein Blick irrte nachdenklich über die drei schwarzen Gestalten, bis er schließlich auf Lottes rosigem Antlitz haften blieb.

Sie standen am Neuen See, dessen blinkende Wasser kleine grüne Eilande umspülen. Silberweiden und goldgelber Ginster spiegelten ihr Antlitz in den klaren Fluten. Schifflein mit hellgekleideten Menschen zogen still ihre Bahn. Schneeige Schwäne und buntgefiederte Enten kamen bis dicht an das Ufer und schnappten nach den Brotkrumen, die Kinderhände ihnen streuten.

Lotte steuerte; sie zog bald rechts, bald links, aber meistens falsch.

»Wollen wir rudern?« fragte Vetter Heinz.

Die Mädel faßten seinen Arm so ungestüm, daß er fast das Gleichgewicht verlor.

»Werft mich nur net vor lauter Freud' ins Wasser!« Er lachte und schritt dem kleinen Bootshaus zu.

Bald plätscherten die Ruder, von des Vetters kräftigen Armen bewegt, durch die friedlichen Wasserstraßen. Lotte war der Steuermann; sie zog bald rechts, bald links, aber meistens falsch, wie »Onkel Heinz« behauptete. Dreimal waren sie schon gegen das Ufer angefahren, und wenn der Neue See nicht so flaches Wasser hätte, daß das Ertrinken darin ein Kunststück ist, wären sie sicherlich nicht lebendig wieder ans Land gekommen.

Hanni unterhielt sich mit den ihrem Nachen folgenden Schwänen, und Marlene träumte. Sie hielt die Hand in das kühle Naß und sah bald in die flimmernden Wasser, bald in die nickenden Baumwipfel.

Ein starker Stoß ließ sie auffahren. Ein anderes Boot, das ihnen schon eine Weile folgte, war gegen sie angeprallt.

»Holla – vorsehen!« rief Heinz dem Insassen, einem schmächtigen jungen Manne zu.

Der zog mit einer Entschuldigung den Hut.

»Rudi!« riefen Lotte und Hanni wie aus einem Munde. Marlene saß starr; nur das kommende und gehende Blut in ihrem zarten Gesicht zeugte von ihrer Gemütsbewegung.

Des Großonkels Neffe – was würde er zu dieser Begegnung sagen? Mit gefurchter Stirn sah Rudi auf den feinen jungen Herrn im Boote seiner Cousinen. Dann griff er, einer plötzlichen Eingebung folgend, nach Marlenes immer noch im Wasser ruhenden Rechten und drückte sie stumm und fest. Im nächsten Augenblick verschwand sein Nachen mit kurzen, hastigen Ruderschlägen unter einer der kleinen Brücken.

»Wohl ein Tanzstundenverehrer, Marlene, net wahr?« neckte Vetter Heinz, dem Marlenes Verlegenheit nicht entging, und drohte mit dem Finger.

Das junge Mädchen neigte schweigend den Kopf. Es war sicher das beste so, daß Heinz den Vetter dafür hielt; Onkel Heinrichs Lieblingsneffe durfte die Wahrheit nicht erfahren.

Aber Lotte widerstrebte es, den netten »Onkel Heinz« zu beschwindeln. Sie hatte unbegrenztes Zutrauen zu seiner Verschwiegenheit.

»Das ist Rudi Elmert, unser Vetter, den wir jetzt nicht mehr kennen dürfen,« sagte sie mit lauter Stimme, trotzdem Marlene ihr ins Wort fallen wollte.

»Aber wir haben uns ganz zufällig getroffen; dafür können wir doch nichts. Sonst sind wir dem Großonkel nicht ungehorsam,« beteuerte Marlene in ihrer Seelenangst.

Heinz starrte nachdenklich ins Wasser.

Er kannte die Geschichte der Schwestern; er wußte, daß der Großonkel einen Teil seines Vermögens im Geschäft der Gebrüder Elmert eingebüßt hatte, und daß er sie einer Veruntreuung zieh. Aber durfte er die Kinder von ihren nächsten Angehörigen trennen? War es nicht seine, Heinz Grimms, Pflicht, Onkel Heinrich das Unnatürliche seines Verbotes klarzumachen?

»Nichts dem Großonkel sagen – bitte, nichts sagen,« bat Marlene verängstigt, als ob sie ihm die Gedanken von der Stirn gelesen hätte. Selbst Hannis braune Kinderaugen sahen den Vetter flehentlich an.

»Sag, Lotte, hast du auch Angst, daß ich den Angeber spielen könnt'?«

»Nein,« rief Lotte eifrig und warf zur Bekräftigung den goldbraunen Kopf zurück. »Klatschen ist gemein, und ich halte dich für den anständigsten Menschen der Welt, lieber Onkel Heinz.«

Der Vetter schien mit ihrer Antwort zufrieden zu sein. Er lachte und lenkte das Schifflein zur Bootsstelle zurück, denn Marlenes Blauaugen spähten noch immer ängstlich um jede Biegung, ob der fremde kleine Nachen nicht wieder auftauche.

Erst beim Weitermarsche, als der Vetter lustige Schnurren aus der Münchner Karnevalszeit zum besten gab und die Schwestern zum nächsten Fasching nach München einlud, kam ihnen die unbefangene Heiterkeit zurück.

Nur einmal wurde sie noch getrübt, als Hanni in der Tiergartenstraße vor einer säulengeschmückten Villa stehen blieb, die von blühenden Magnolienbäumen umgeben war. »Hier haben wir mal gewohnt, nicht wahr?« sagte sie in kindlichem Stolz, während die beiden Großen mit abgewendetem Kopf hastig vorüberschritten.

Heinz warf einen schnellen Blick auf das blumenumrankte Heim. Freilich, das war anders als das graue Haus!

Er zog die Uhr.

»Fix, wir dürfen den Onkel net warten lassen! Heda – Kutscher!« Er winkte dem Lenker einer vorüberrollenden Droschke.

»Erster Güte,« flüsterte Lotte ihrer Marlene beseligt zu und entwickelte mit dem »Onkel Heinz« einen edlen Wettstreit, wer von ihnen beiden auf dem Rücksitz des Wagens Platz nehmen sollte.

»Schau, Jungfer Karline, so a alter Herr bin ich doch wirklich noch net!« Heinz drückte das widerstrebende Backfischchen neben Marlenchen in den Fond und setzte sich zu Hanni.

»Wie richtige Damen sitzen wir hier,« dachte Lotte frohlockend und lehnte sich mit möglichster Grandezza in die Polster zurück.

Und da – o Glück! – am Brandenburger Tor ging Käthe Möller mit ihrer Miß vorüber und grüßte die Schwestern ebenso erstaunt wie neugierig. Das war eigentlich das Allerschönste von dem schönen Tage, wenn Lotte ganz ehrlich gegen sich selbst sein wollte!

Die jungen Mädchen waren ordentlich erleichtert, daß der Großonkel sie noch nicht in dem vornehmen Gartenrestaurant erwartete. Was hätte der wohl dazu gesagt, wenn sie in einer Droschke vorgefahren wären!

Doch bald tauchte er neben Frau Tanns »Grauseidenem« auf.

»Hier draußen ist es mir zu kühl; die Mädchen denken nur an sich,« war das erste, was er auszusetzen hatte; man zog also trotz des milden Abends in die geschützte Veranda.

Wie ein Alb lag es sofort wieder auf der übermütigen Fröhlichkeit der jungen Mädchen. Heinz Grimm schüttelte den Kopf. Es stand jetzt fest bei ihm, er mußte den Onkel darauf aufmerksam machen, daß er seine Nichten um das Beste brachte, was das Leben dem Menschen beschert – um den unbefangenen Jugendfrohsinn.

Er hatte den Schwestern die Speisekarte hingereicht, aber sie wagten nicht zu wählen. Marlene sah nur die Rubrik, in der die Preise aufgeschrieben waren, und zwar hatten nur die Zahlen unter einer Mark für sie Interesse. Lotte, das Leckermäulchen, studierte freilich die feinen Gerichte, aber sobald sie sich für eines entschließen wollte, kam es ihr wieder unverschämt vor.

»Bitte, Rollmops,« sagte Marlene schließlich mit scheuem Blick zu dem Onkel hin; es war wirklich das Billigste, was sie herausfinden konnte.

»›Sauren Mann‹ kannst du doch zu Hause essen,« flüsterte Lotte ihr mit einem Rippenstoß zu.

Heinz hatte das kleine schwesterliche Intermezzo lächelnd beobachtet. Jetzt deckte er die Hand auf die Preisrubrik.

»So, nun wird was Vernünftiges gewählt! Die Zahlen gehen euch nix an!« Er ruhte nicht eher, bis jede ihm ihr Leibgericht bezeichnet hatte. Sogar Maibowle und Eis spendete der gute Vetter, trotzdem Onkel Heinrich bald über die Verschwendung des Jungen, bald über die Verwöhnung der Mädchen brummte. Aber schließlich kam auch er durch die duftende Waldmeisterbowle in eine menschenfreundlichere Stimmung.

Heinz benutzte diese beim Heimweg. Aber in seine Erziehungsgrundsätze ließ sich der Onkel trotz alledem von »solchem Grünschnabel«, wie er Heinz bezeichnete, nicht dreinreden.

»Die Mädchen können nicht früh genug den Ernst des Lebens kennen lernen; sie sollen nur dankbar sein, daß ich sie durch verständige Arbeit vor dem ererbten Leichtsinn rette,« sagte er kurz. Damit war für ihn das Gespräch erledigt.

Aber Heinz ließ nicht locker; wenigstens das Scheuern der Treppe wollte er Lotte ersparen. Seine Vorhaltungen, daß derartige Verwechslungen noch öfters vorkommen konnten, und was wohl die Leute im Hause dazu sagten, verfingen schließlich. Denn wenn der Großonkel auch so tat, im Grunde war es ihm doch nicht ganz gleichgültig, was die anderen von ihm dachten. Mit unverständlichem Knurren entschloß er sich endlich dazu, das Treppenscheuern künftig vom Portier besorgen zu lassen. Dafür war Lotte dem »Onkel Heinz« ewig dankbar.

»Gut, daß du nur alle Jahre einmal kommst,« sagte der Onkel schließlich mit grimmigem Lächeln beim Abschied.

»Jetzt, wo du drei so nette Mädel im Haus hast, werd' ich net mehr so lang fortbleiben,« versprach der Neffe treuherzig.

Das gab ein Händeschütteln und Danken der Schwestern ohne Ende!

»Denk auch mal an den alten Onkel, Jungfer Karline,« rief Heinz, den Kopf noch einmal wendend, der ihm mit großen Augen nachschauenden Lotte lachend zu.

»Na und ob!« Lotte legte beteuernd die Hand aufs Herz.

Sie hatte nicht zu viel verheißen, denn es verging wohl kaum ein Tag, an dem die Schwestern nicht von dem Vetter sprachen. Der goldene Maientag, den sie zusammen verlebt hatten, machte ihnen Vetter Heinz zu einer förmlichen Lichtgestalt. Wenn es mal gar zu finster im grauen Haus ausschaute, oder den dreien wieder mal etwas ganz besonders schwer erschien, dann sprachen sie flüsternd davon, wie es wohl sein würde, wenn der Vetter wieder käme.

»Ach, dürfte ich doch Schreibmaschine lernen!« Das war der Wunsch, mit dem Lotte sich abends zu Bette legte, und mit dem sie morgens wieder aufstand.

Aber sie mußte sich vorderhand ihre Wünsche vergehen lassen. Die Schreibmaschine war noch nicht allgemein eingeführt; der Großonkel, der aus der guten alten Zeit stammte, hielt eine derartige Tätigkeit für unweiblich und Lotte für übergeschnappt.

Ehe er aber für mehrere Monate auf die Sommerreise ging, meldete er noch Marlene in einer Schneiderstube an.

»Da lernt sie wenigstens was Vernünftiges, und es genügt vorläufig, wenn eins der Mädel in der Wirtschaft herumlungert.«

Der Tag der Abreise kam heran und mit einem tiefen, befreienden Atemzug sahen die drei Schwestern dem Wiesbadener Schnellzug nach, der den strengen Großonkel entführte.


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