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Abendunterhaltung.

In der Liesenschule herrschte große Aufregung. Die alljährliche Abendunterhaltung, zu der Eintrittskarten verkauft wurden, um die Lehrerwaisenkasse zu füllen, rückte heran. In allen Klassen, bis zu den Abcschützen hinunter, in allen Unterrichtstunden spukten ihre lustigen kleinen Geister im voraus. Sie sprühten aus schalkhaften Mädchenaugen, sprangen den vortragenden Lehrern als Scherzwort von der Lippe, lösten sogar die strengen Züge der Oberlehrerin zu einem schwachen Lächeln, bliesen beinahe jegliche Disziplin aus den ernsthaften Räumen und flatterten hin und wieder auch als schwarzer Tadel in das harmlos auf dem Katheder liegende Klassenbuch. Nirgends war richtiger Ernst mehr; der englische Unterricht bei Professor Hartmann verwandelte sich in eine Deklamationsstunde, und aus der Physikstunde wurde plötzlich eine Gesangsprobe.

Keines von all den tausend Kinder- und Mädchenherzen der Liesenschule schlug indessen so bange dem 25. Februar, dem Tage der Abendunterhaltung – und gleichzeitig des sechzehnten Geburtstages! – entgegen, wie das Marlenes. Seit Olims Zeiten war es in der Anstalt Sitte, daß die Prima omnium, die Erste aus der ganzen Schule, den Festprolog sprach, den Professor Hartmann jedes Jahr dichtete. Eher hätten die Mauern des roten Ziegelsteingebäudes gewankt, als daß von dieser Überlieferung abgegangen wurde. So blieb auch Marlenes bescheidenes Bitten beim Direktor, doch die Zweite aus der Selekta jener Ehre teilhaftig werden zu lassen, gänzlich erfolglos. Das dunkle Trauergewand hielt der Direktor für keinen Hinderungsgrund, einen ernsten, feierlichen Prolog vorzutragen, und die als Ersatztruppe ins Feld geführte Schüchternheit erst recht nicht. Marlene Elmert war die Erste der Schule, die fleißigste und bravste Schülerin der ganzen Anstalt; also sprach sie den Prolog.

Das Backfischchen war nur noch ein halber Mensch in diesen vierzehn Tagen. So viel Rüffel von dem Großonkel hatte es nie zuvor gesetzt; einfach alles machte sie verkehrt, selbst Frau Tann, die Marlene gegenüber von geradezu beängstigender Freundlichkeit war, wie die böse Lotte behauptete, riß jetzt manchmal der Geduldsfaden. Das Mädel war vollständig »verdöst«, zu nichts mehr zu gebrauchen. Wo es ging und stand, summte es vor sich hin:

»Wohlan ihr werten Gäste,
Mag Spiel und Sang beginnen!
Willkommen seid zum Feste
Der Liesenschülerinnen!«

Wenn Marlene abends im Bette die Augen schloß, dann sah sie die erleuchtete Aula vor sich, schwarz von Menschen, die alle zu dem Podium heraufblickten, auf das sie treten sollte. Das Herz der Zaghaften krampfte sich bei diesem Gedanken zusammen; es schien ihr todsicher, daß sie stecken bleiben würde.

Lotte litt innerlich mit der Schwester, wenn sie es auch nicht merken ließ und ihre geheime Angst unter Neckerei und Aufmunterungsworten verbarg.

»Es wäre mir ganz gleich, ob da Stühle stehen oder Menschen sitzen; ich würde meine Naht abrasseln, ohne mich um jemand nur im mindesten zu kümmern,« war ihre stehende Redensart.

Weit mehr aber als die träumerische Marlene, die nur halb in der Wirklichkeit lebte, schmerzte es Lotte, daß die Schwester kein passendes Kleid zu der bevorstehenden Feier hatte. Sie besaßen außer dem Schulkleide bloß noch derbe Hausblusen, damit sie ja nicht verwöhnt und elegant wurden, wie ihre Mama es einst gewesen war; so wollte es der Großonkel. An das geringschätzige Lächeln Käthes, wenn die Schwestern stets in ihren Schulblusen zum Kränzchen erschienen, hatte sie sich allmählich gewohnt; aber zur Abendunterhaltung das alte Kleid, das schon ein Flicken unter dem Ärmel schmückte – Lotte konnte das »Fürchterliche« gar nicht ausdenken. Für sich selbst verlangte sie nichts Besseres. Aber Marlenchen, die doch die ganze Liesenschule würdig vertreten mußte?!

Lotte zerbrach sich ihren hübschen Kopf, wie Abhilfe zu schaffen sei, und kam auf die abenteuerlichsten Gedanken. Das natürlichste wäre gewesen, den Großonkel zu bitten, Marlene zu Ehren ihres Wiegenfestes eine anständige Bluse zu schenken. Aber als Lotte nur mal etwas nachdrücklich andeutete, daß Marlene nächstens Geburtstag habe, nahm der Großonkel die Mitteilung fast als eine persönliche Beleidigung entgegen.

»Ich halte nichts von dem Feiern solcher unwichtigen Tage,« brummte er sichtlich geärgert, so daß Lotte jetzt höchstens noch auf einen Fünfzigpfennignapfkuchen zum Kaffee rechnete, Marlene aber ganz und gar von der Unwichtigkeit ihres Daseins überzeugt war.

Sollte sie von Ilse Geld borgen? Lotte dachte allen Ernstes daran.

Frau Tann kam gar nicht in Betracht, denn die gab es ihnen täglich zu verstehen, wie sie sich der Mädchen wegen mit dem knappen Wirtschaftsgeld einrichten mußte. Es blieb nur noch einer, der helfen konnte und sicher auch gewollt hätte – Onkel Theodor. Der hatte, als der Vermögenszusammenbruch ihn sowohl wie den Vater der drei Kinder aller Mittel beraubte, die Vertretung für eine große Blusenfabrik übernommen; es wäre ihm ein leichtes gewesen, Lottes Wunsch zu erfüllen. Aber es widerstrebte des jungen Mädchens anständiger Denkungsweise, bei dem Onkel Theodor zu »betteln«, und außerdem – was hatten sie Frau Schwalbe versprochen?

Es half nichts; Marlene mußte mit der geflickten Bluse zur Abendunterhaltung gehen! Wie die Mädel alle schauen würden! Ach, und erst die Lehrer!

Der 25. Februar rückte heran, aber am Tage vorher forderte er noch seine Opfer in der I B.

In der Geographiestunde zwischen elf und zwölf bei Doktor Lausitzer, als er gerade anfing: »In wieviel Teile zerfallen die Alpen?« klopfte es. Es war Schuldirektor Schnutke, der den jubelnden Mädchen eröffnete, daß die 1 B heute um zwölf Uhr schließe, da Doktor Wenzel für die morgige Abendunterhaltung in Anspruch genommen sei. Nur Ilse stimmte nicht in die allgemeine Freude mit ein.

»Zu dumm! Ich muß auf Gerda warten; die Kleine darf nicht allein nach Hause gehen. Was mache ich denn bloß die ganze Stunde?« flüsterte sie der vor ihr sitzenden Lotte zu.

»Du, ich habe eine feine Idee,« antwortete diese. »Wir hospitieren bei Professor Hartmann; der trägt von zwölf bis eins in der Selekta Literatur vor.«

»Großartig!« Ilse machte einen kleinen Luftsprung auf ihrem Platz.

Endlich läutete es. Ilse und Lotte wollten gleich davonstürmen, um die Erlaubnis des Direktors einzuholen, denn ohne diese war das Zuhören in einer fremden Klasse untersagt.

»Wo wollt ihr hin?« fragte da Elsa, die neben Ilse saß.

»Wir wollen bei Professor Hartmann hospitieren; Gerda kann nicht allein nach Hause gehen.« Ilse war bereits in der Tür.

Nun erinnerte sich Elsa plötzlich daran, daß sie ja auch eine jüngere Schwester in der Schule hatte, obwohl sie sonst niemals mittags auf diese wartete.

Nach langem Suchen fand man endlich das Schuloberhaupt. Elsa, als Klassenerste, war die Sprecherin.

»Herr Direktor, wir müssen auf unsere kleinen Schwestern warten; dürfen wir wohl in der Selekta bei Herrn Professor Hartmann zuhören?«

Der Herr Direktor runzelte sogleich die Stirn.

»Nein,« sagte er dann sehr bestimmt, »in der Selekta ist kein Platz. Bleiben Sie in Ihrer Klasse; ich werde Ihnen eine Dame zur Aufsicht schicken.«

Das Schlüsselbund, der stete Begleiter des Direktors, rasselte davon, und mit langen Gesichtern standen die Backfische da.

Als Schnutkes Glocke das Ende der Zwischenpause meldete, wollte Elsa schweren Herzens in die I B-Klasse zurück.

»Sei doch kein Frosch! Wir fragen einfach Professor Hartmann, ob wir zuhören dürfen; wenn er es erlaubt, das genügt ja.« Schwälbchen machte diesen Vorschlag.

»Aber die Lehrerin, die der Direktor schicken wollte,« gab Elsa noch zu bedenken.

»Die mag sich in der leeren I B allein unterhallen – attention – Hartmann in Sicht,« verkündete Lotte. Diesmal führte die kleine Ilse das große Wort. Aber soviel sie auch bat, es nützte ihr nichts, Professor Hartmann strich seinen schwarzen Bart und erklärte, daß er ohne Erlaubnis des Direktors die jungen Damen nicht zuhören lassen dürfe.

Danach ging es in der I B nicht besonders leise zu. Ilse und Lotte wollten sich dafür rächen, daß ihnen ein Strich durch die Rechnung gemacht worden war, und Elsa wurde mitgerissen. Die angekündigte Lehrerin kam nicht; so belustigte man sich eben auf eigene Kosten, und zwar sehr laut.

»Na, sagt mal, seid ihr denn ganz und gar verdreht, Mädchen?« rief mit einem Male die Stimme der Oberlehrerin zur Tür herein. »Der Unfug hier übersteigt ja wirklich das Maß des Erlaubten. Was habt ihr denn überhaupt noch in der Schule zu suchen?«

Elsa gab Auskunft, denn Ilse fand vor Schrecken keine Worte, und Lotte hielt es für besser, sich im Hintergrund zu halten.

»Macht, daß ihr nach Hause kommt, marsch!«

Die Mädchen wagten keine Erwiderung mehr. Stumm griffen sie nach ihren Sachen, und mit scheuer Verbeugung eilten sie an der zürnenden Dame vorüber und schnell auf den Zehenspitzen an all den Klassentüren vorbei, hinter denen laute Kinderstimmen erschallten.

Da – o Bosheit des Schicksals – rasselte ein Schlüsselbund! Gleich darauf bog der Herr Direktor um die Ecke. Sein Blick überflog die drei erglühenden Mädchen.

»Sie wollen nach Hause?«

»Die Lehrerin zur Vertretung ist nicht gekommen,« stieß Ilse hervor, die das schlechteste Gewissen hatte.

»Und Herr Professor Hartmann wollte uns nicht ohne Erlaubnis mitnehmen,« fügte Elsa hinzu.

Nur mit Mühe verschluckte Lotte eine derbe Schmeichelei für Elsa, denn schon legte der Direktor los. Seine Stirnader verdickte sich; das war ein böses Zeichen.

»Was – Sie haben sich unterstanden, trotz meines ausdrücklichen Verbotes, noch Professor Hartmann um Erlaubnis zu fragen? Sie wagen es, mir offenbaren Ungehorsam zu bieten?« So hallte es durch die stillen Gänge, daß das Sprechen in den Klassen plötzlich jäh verstummte.

»Eine wahre Schande – die beiden Ersten der Klasse! Aber heute werde ich ein Exempel statuieren! Ich schreibe Sie alle drei ein – wegen Ungehorsam! Sie erhalten ›im ganzen befriedigend‹ im Betragen auf der Osterzensur, und das sage ich Ihnen: kommt mir so was noch einmal vor, sollen Sie meine ganze Strenge kennen lernen. Solche Elemente dulde ich nicht in meiner Anstalt!«

Diesmal lachte keines der Mädchen über den oft gehörten Schlußsatz des Herrn Direktors. Dreistimmiges Schluchzen gab ihm im Davongehen bis in das Konferenzzimmer das Geleit.

Plötzlich tauchte Doktor Wenzel auf. Er klemmte den Kneifer auf die Nase und sah erstaunt auf die verweinten Mädchengesichter.

»Herr Doktor, lieber Herr Doktor, helfen Sie uns!« Flehende Hände mit nassen Taschentüchern streckten sich ihm entgegen.

»Oh – oh – oh« – das freundliche Männlein wiegte bedauernd seinen Kopf, als er den Sachverhalt vernommen – »regen Sie sich nur nicht so auf! Der Herr Direktor wird noch mit sich sprechen lassen; ich will mich gern für Sie verwenden.« Damit trippelte er vorsichtig über den gefrorenen Hof.

Lotte ließ mit plötzlichem Entschluß das Taschentuch sinken. »Also vorläufig sage ich dem Onkel noch nichts; vielleicht läßt sich der Direktor erbitten, und dann habe ich unnötig meinen Trara weg.«

Ja, Lotte, hättest du nur wenigstens »nachläufig« dein Unrecht eingestanden! Aber wenn man erst einmal anfängt, etwas zu verschweigen, dann ist es nachher um so schwerer, die Wahrheit siegen zu lassen. Lotte verschob es von Tag zu Tag, denn der Direktor blieb diesmal unerbittlich.

Die anderen jedoch ließen das elterliche Strafgericht, Elsa in Gestalt einer vierzehntägigen Verbannung vom Familientisch, und Ilse, in einem Vierteldutzend mütterlicher Ohrfeigen, duldend über sich ergehen. Die Schwärmerei für Professor Hartmann aber war durch die kalte Dusche des Direktors ziemlich abgekühlt.

So wurde der vorher so vielfach besprochene Tag der Abendunterhaltung mit gemischten Empfindungen begrüßt. Aber der 25. Februar machte schließlich seine Rechte doch geltend.

Marlene war schon seit fünf Uhr munter; die Angst vor dem öffentlichen Auftreten ließ sie nicht schlafen. Blinzelnd sah sie, wie Lotte sich schlaftrunken von ihrem Lager erhob, eine weiße Serviette über den Tisch breitete, ein winziges Krokustöpfchen darauf setzte, daneben zwei kleine Gegenstände legte und dann wieder gähnend ins Bett ging. Lotte hatte in der frühen Morgenstunde den Geburtstagtisch für ihr Marlenchen gedeckt!

Der war freilich nur sehr bescheiden ausgefallen. Denn woher nehmen und nicht stehlen? Einen schwarzen Lackgürtel hatte Lotte zusammengespart, denn der alte Gurt sah aus wie eine »Pferdeleine«. Zu dem Blumentöpfchen und einer schwarzen Samtschleife für Marlenes Blondhaar hatte es auch noch gereicht; aber fünf Pfennige hatte sie dazu von Marlenchen selbst leihen müssen. Hanni hatte für einen Groschen – ihr ganzes Besitztum – Haarnadeln geschenkt, da Marlene die herunterhängenden Zöpfe mit ihrer nun sechzehnjährigen Würde nicht mehr im Einklang fand.

Als dann die Schwestern gerade innig umschlungen so manches früheren Geburtstages im Elternhaus gedachten, da öffnete sich die Tür, und Frau Tann gratulierte Marlene so herzlich, als es ihr zu dieser frühen Morgenstunde nur möglich war. Sie brachte ihr ein Paar wollene Strümpfe, die sie selbst gestrickt hatte. Das versöhnte Lotte mit vielem an Frau Tann; sie gab sich selbst das Wort, sie dafür eine ganze Woche nicht zu ärgern.

Der Großonkel aber nahm keinerlei Notiz von dem unwichtigen Tage, da Marlenchen das Licht der Welt erblickt hatte. Seine Augenbrauen sahen heute so finster und buschig aus, daß Lotte wohlweislich jede Anspielung unterließ und schweren Herzens auch von dem erträumten Fünfzigpfennignapfkuchen Abschied nahm. Marlene aber grämte sich, daß der Onkel nicht einmal einen Glückwunsch für sie hatte.

In der Schule gingen die drei Sünderinnen des gestrigen Tages dem Direktor und der Oberlehrerin möglichst aus dem Wege; ihre Namen prangten ja im Klassenbuch mit dem Bemerken »ungehorsam«.

Als die Mädchen heimkamen, trat ihnen Frau Tann mit geheimnisvoller Miene entgegen.

»Es ist ein Postpaket für dich angekommen, Marlene,« verkündete sie.

Der ungeduldigen Lotte ging das Aufknoten der Schnur viel zu langsam; wäre Frau Tann nicht dabeigestanden, hätte sie sicher die Schere genommen. Endlich löste sich der Bogen – eine schwarze, in Falten gebrannte Bluse aus leichter Seide lag in der Schachtel!

Die Mädchen glaubten ihren Augen nicht zu trauen. Lotte und Hanni sprangen jubelnd im Zimmer umher; Marlene stand wie vor einem Märchenzauber, der plötzlich wieder schwinden mußte. Kein Wort dabei, kein Name auf dem Postabschnitt, aus dem man den heimlichen Geber hätte erraten können!

Sollte der Großonkel ...? Aber der machte ein so griesgrämiges Gesicht, daß die Schwestern diesen Gedanken sofort verwarfen.

Inzwischen war es Nachmittag geworden; man mußte sich ankleiden. Fiebernd vor Aufregung schmückte sich Marlene wie ein Opferlamm. Die neue Bluse, die den zarten Hals frei ließ, stand ihr nach Lottes Urteil »süß«; die lichten Zöpfe waren kunstlos am Hinterkopf aufgesteckt, und die schwarze Samtschleife schmiegte sich zierlich in die goldene Haarflut. Lotte ließ nicht nach, ihr Marlenchen zu bewundern, und dabei sah auch sie selber, trotz der Schulbluse, wie ein Bild blühender Jugend aus.

Im Triumph führte Lotte die Schwester zum Großonkel. Der sah aber nicht einmal, daß Marlene eine neue Bluse trug.

»Na ja, hm – bleibe nicht stecken!« Damit waren die Mädel entlassen, denn weder der Onkel noch Frau Tann hatten sich eine Eintrittskarte zur Abendunterhaltung geleistet.

»Bleibe nicht stecken!« Wie ein Schreckgespenst stand es wieder vor Marlene; sie wurde bald blaß, bald rot vor Lampenfieber.

Die Liesenschule sah mit hellen Lichteraugen in den dunklen Hof hinab; sie hatte ihre Pforten weit geöffnet und machte in der ungewohnten Abendbeleuchtung einen feierlichen Eindruck. Und feierlich sahen sie alle aus: die Kleinen in ihren weißen Kleidchen mit bunten Schärpen, die sich da so ängstlich um die Klassenlehrerin scharten wie die Küchlein um die Henne; die Großen in ihren lichten Festgewändern; die Lehrerinnen, meist in einem Schwarzseidenen; die Lehrer in dem hier und da etwas eng gewordenen Frack. Selbst der kleine dicke Schnutke prangte im schwarzen Gehrock. Er nahm die Garderobe in Empfang.

Auf dem erhöhten Podium thronten die Sängerinnen. Herr Bauer, ihr Gesanglehrer, mit dem weißen wallenden Barte, machte seinen Chor noch auf verschiedene Stellen aufmerksam, für die niemand mehr rechtes Interesse empfand. Die Mädel hatten genug damit zu tun, sich gegenseitig zu bewundern, ihre Kleider heimlich miteinander zu vergleichen, und den Müttern, Tanten und Vettern, auch hin und wieder einem Tanzstundenjüngling im Publikum zuzunicken. Das war ein Flüstern, ein Tuscheln und ein Kichern, ein Knistern von umfangreichen Tüten! Denn Bonbonlutschen, das blieb die Hauptbeschäftigung bei der Abendunterhaltung.

Lotte und Ilse saßen als Solistinnen in der ersten Reihe. Marlene sah mit sehnsüchtigen Blicken zu den beiden hinüber. Ach, hätte sie doch auch bei ihnen sitzen können, und nicht unter den »Opfertieren« in der Querreihe, allen Blicken preisgegeben! Ihr Gesicht war schneebleich; mit großen, angstvollen Augen starrte sie auf die immer noch herein strömenden Leute. Die Bänke waren bereits dicht besetzt; man stand schon längs den Wänden.

Da tönte ihr schrill wie das Armsünderglöcklein das Klingelzeichen ans Ohr. Sie fühlte sich von irgendwelchen Händen geschoben und stand plötzlich auf dem Podium. Vor ihren Blicken wogte eine schwarze, vielköpfige Menschenmenge.

Tiefe Verbeugung.

»Mit hellem Lichtgewande
Schmückt sich das ernste Haus ...«

Leise und zaghaft lösten sich die ersten Worte von Marlenes Lippen. Dann aber war es, als ob plötzlich ein Nebelvorhang vor ihrem Denken zerrisse; jede Zeile war ihr mit einem Male wieder gegenwärtig. Mit klarer, weicher Stimme sprach sie Vers auf Vers.

Wie der verkörperte Liebreiz stand das junge Mädchen dort oben. Das schmale Gesicht war jetzt leicht gerötet; der blonde Kopf über dem schwarzen Trauergewand hatte etwas unsagbar Rührendes. Fand das auch der junge Mann ganz hinten in der Pfeilernische, der den Blick nicht von der zarten Gestalt zu lösen vermochte?

Wie unter einem geheimen Zwange hob Marlene plötzlich das Auge in jene Richtung und – stockte. Sie hatte den Faden verloren!

Eine Sekunde nur! Denn schon hatte Professor Hartmann

»Mag Spiel und Tanz beginnen«

ihr zugeflüstert.

Das Publikum merkte es wohl gar nicht. Nur die braunen Augen da hinten, die Marlene um ihre Geistesgegenwart gebracht hatten, sahen mitleidig zu dem jungen Mädchen hin, das jetzt, wie befreit von einer geheimen Last, die Schlußzeilen ins Publikum rief:

»Willkommen seid zum Feste
Der Liesenschülerinnen!«

Brausender Beifall lohnte den Vortrag. Lotte kniff Marlene im Vorbeigehen glückstrahlend in den Arm; Professor Hartmann reichte ihr anerkennend die Hand, und dann ging es weiter.

Marlene aber sah und hörte nichts von all dem folgenden. Sie hatte keinen Blick für die süßen Kleinen aus der untersten Klasse, die im Parademarsch an ihr vorbeizogen, und nachdem die Lehrerin hörbar bis drei gezählt, in tiefem Knicks von der Bildfläche verschwanden. Das Publikum mußte stehen, um die winzigen Dinger überhaupt zu sehen, die da so drollig mit begleitendem Kopfnicken und Betonung eines jeden Wortes »Der Spitz und die Gänse« deklamierten. Sie sah nicht, wie die verschiedenen Mütter im Zuschauerraum unbewußt die Worte ihrer Lieblinge mitsprachen. Nicht einmal Gerda Schwalbe, die als »Frau Maikäfer« Lachstürme entfesselte, hatte Interesse für sie. Ihr Denken gipfelte in dem einen: »Wie kommt Rudi hierher?«

»Ich habe zufällig von der heutigen Schulfeier gehört.«

Durch eine Lücke zwischen zwei großen Damenhüten konnte sie ihn ab und zu sehen, das kurze, dunkelblonde Haar, sein blasses, unregelmäßiges Gesicht, das durchaus nichts Hübsches hatte, nur durch die Augen beseelt wurde. Es war etwas Merkwürdiges um Rudis Augen; sie konnten lächeln, wenn auch das Gesicht ganz ernst blieb, und wenn sie einem zulächelten, so wie eben ihr.

Da machte der eine große Federhut eine Bewegung. Marlene konnte ihre Studien über Vetter Rudis Augen nicht vollenden. Erst in der Pause verschwand der boshafte Hut der Dame, und da stand auch wieder Vetter Rudi an seinem Pfeiler. Auf einmal winkte er ihr auf den Gang hinaus.

Marlene zögerte. Der Großonkel – Frau Schwalbe, die ihr schon vorhin aus der zweiten Bank so herzlich zugenickt – wenigstens sollte Lotte mitkommen; aber die war verschwunden.

Ehe Marlene noch zum Entschluß gelangte, hatten sie ihre Füße ohne bewußten Willen zum Korridor hinausgetragen. Es war eine solche Fülle dort draußen, daß Marlene vergebens nach dem langen, schmalschulterigen jungen Manne umherspähte. Lauter fremde Gesichter waren es. Schon wollte sie zögernd wieder in die Aula zurückkehren, denn die Pause neigte sich ihrem Ende zu, da fühlte sie plötzlich etwas Weiches, Duftiges in der Hand. Sie hielt ein Veilchensträußchen zwischen den Fingern; der Geber stand hinter ihr.

»Rudi – du?«

»Ich habe zufällig durch ein kleines Mädchen im Hause von der heutigen Schulfeier gehört; da wollte ich mir doch mal ansehen, wie solch sechzehnjähriger Backfisch eigentlich aussieht.«

In Marlenes Gesicht zuckte es. Eben hatte sie sich noch so über sein Kommen gefreut, und gleich verletzte er sie! Die Finger, die er einst geschlagen hatte, drückten ihm ungestüm die zarten Blüten wieder in die Hand.

»Da nimm deine Veilchen – ich mag sie nicht« – die blauen Blümchen sanken zu Boden.

»Marlenchen, ich wollte dir Glück wünschen« – vorwurfsvoll blickte er sie an – »und sehen, ob die neue Bluse auch paßt,« setzte er schnell hinzu, da sie sich zum Gehen wandte.

Sie hemmte den Schritt.

»Von euch – von euch, Rudi – der liebe Onkel Theodor!« Sie streckte ihm nun doch dankbar die Hand hin.

»Kindskopf,« schalt er mit warmem Blick, der sein ganzes Gesicht verschönte, »müssen wir uns denn immer erst zanken?«

»Die Schülerinnen nicht auf dem Korridor stehen bleiben,« erschallte da die gehobene Stimme der Oberlehrerin dicht neben Marlene. Mit erstauntem Blick musterte sie die beiden.

Rudi verschwand im Gewühl, Marlenchen aber bückte sich und hob schnell die zurückgewiesenen Veilchen auf.

Die Abendunterhaltung ging zu Ende. Mädchenscharen drängten hinaus.

Marlene schritt einsilbig zwischen den Schwestern einher. Lotte plauderte unausgesetzt, von Vetter Rudi, den sie auch noch einen Augenblick am Ausgang gesprochen hatte, und wie nett es von ihm gewesen sei, zur Schule zu kommen, von Onkel Theodor, welcher der aller-allerbeste Onkel von der Welt wäre, und daß man Frau Tann dabei lassen müsse, daß die Bluse von Frau Schwalbe sei.

Marlene schwieg zu allen diesen Vorgängen. Sie starrte auf die lieblichen Blauveilchen in ihrer Hand. Die sandten süße Duftwellen zu ihr empor, die flüsterten von kommenden Sonnentagen, holde Vorboten des jungen Lenzes.


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