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Ein Wintermärchen.

Die drei Schwestern befanden sich wieder einmal in arger Klemme. Sollten sie der Cousine Herta zu ihrer Verlobung gratulieren oder nicht?

»Nein,« wäre Frau Schwalbes Antwort ohne jeden Zweifel gewesen, wenn sie diese um Rat gebeten hätten; darum fragten sie lieber erst gar nicht.

Aber auf eigene Faust wieder gegen Onkel Heinrichs Willen zu handeln, das wagten sie auch nicht, und doch trieb sie ihr Herz dazu, der Cousine ein paar liebe Worte zu sagen.

Lotte fand den Ausweg.

»Wir treiben uns möglichst viel in der Nähe von Onkel Theodors Wohnung herum; vielleicht kommt uns ein gütiger Zufall zu Hilfe. Rudi hat auch gesagt, gegen ein zufälliges Treffen kann kein Mensch etwas haben.«

Marlene war besiegt; wenn Rudi es doch gesagt hatte!

Vier Wochen waren seit dem Lämmerhüpfen im Schwalbennest bereits verstrichen. Frau Tann war wieder da; alles kam in das alte Geleise. Marlenchen deklamierte jetzt dem Großonkel nichts mehr vor, sondern beugte den Blondkopf eifrig über die Nähmaschine. Nur Frau Holle wollte noch nicht ihre Betten schütteln. So eifrig auch die Backfische morgens zum Fenster eilten und hinausspähten, so emsig die Jünglinge Wetteranzeigen studierten, der ersehnte Schnee wollte eben nicht kommen.

Häßliches graues Regenwetter hatte den scharfen Neujahrsfrost davongespült; dichte Nebelschwaden zogen durch die Straßen. Manchmal wollte es überhaupt nicht Tag werden. Trotzdem fanden die Schwestern die feuchttrübe Witterung zum Spazierengehen ungemein geeignet. Jede nicht allzu eilige Besorgung wurde bis zu der Straße ausgedehnt, in der die Verwandten wohnten. Aber so oft sie auch, unbekümmert um die Regenpfützen, vor dem Hause auf und ab gingen, so selbstlos sie sich auch das kalte Himmelsnaß beim Hinaufstarren zu den betropften Fenstern auf die Näschen pladdern ließen, keine Gardine verschob sich, kein bekanntes Gesicht tauchte aus dem Nebelschleier auf.

Wieder einmal hatte Frau Tann die beiden Großen in die Markthalle geschickt. Es war ein tüchtiger Weg vom grauen Haus aus, aber man kaufte dort um einige Pfennige wohlfeiler. In der einen Hand die schwere Tasche mit zehn Pfund Kartoffeln, den anderen Arm mit allerlei Tüten beladen, schritt Lotte neben der Grünkohl, Weißkohl, Rotkohl, Blumenkohl und Kohlrüben schleppenden Marlene durch die Reihen.

»Du bist der reine wandelnde Kohlkopf, Marlenchen,« scherzte sie trotz der schweren Last; dann fragte sie einen dastehenden Jungen: »Willst du mir für einen Groschen tragen?« und hielt ihm die Kartoffeltasche hin.

Das Bürschchen machte ein pfiffiges Gesicht.

»Na immer, Freileinchen; Ihnen trag' ick bis nach Hause.« Der Junge breitete dazu lachend seine Arme gegen die große Lotte aus.

Die ließ ihn ärgerlich stehen. Diese Berliner Rangen wurden von Tag zu Tag frecher; lieber schleppte sie sich schon selbst ab. Doch trotzdem sie ihre Taschen alle zwanzig Schritt absetzen mußten, trotzdem sie in dem feinen Sprühregen keinen schützenden Schirm öffnen konnten und ihr Rock einen grauen Saum aufwies, der recht beträchtliche Umweg zu Onkel Theodors Wohnung wurde nicht gescheut. Darum hatten sie sich ja bloß so danach gerissen, zum Markt gehen zu dürfen.

Ihre Ausdauer wurde heute endlich von Erfolg gekrönt. In dem grauen Nebelgeriesel tauchte eine Männergestalt auf: Onkel Theodor. Wie glich er doch ihrem Väterchen! Noch ehe sie ihn erreicht hatten, stockte sein Fuß plötzlich. Marlenes Rotkohlkopf konnte den Augenblick des Wiedersehens nicht erwarten; er war dem Onkel entgegengerollt. Beide bückten sich danach, Onkel und Nichte, und stießen derb mit den Köpfen zusammen. Das war der Begrüßungskuß nach der langen Trennung.

Des Onkels schmalgeschnittenes Gesicht, in dem die Sorge mit ehernem Griffel ihre Zeichen gegraben hatte, war ganz durchleuchtet von der Freude, die Kinder seines Bruders wieder vor sich zu sehen. Aber vorläufig kam er noch nicht zu einem ruhigen Genuß ihrer Gegenwart. Denn all der übrige Kohl, den Marlene in den verschiedensten Farbentönen zusammengekauft, wurde nun auch erregt über diese plötzliche Begegnung und stürzte sich kopfüber in den Straßenschlamm.

»Marlenchen, Kind, was kohlst du zusammen,« scherzte der Onkel, um seine Rührung einigermaßen zu verbergen. »Was mache ich denn bloß mit euch?« Er zwinkerte mit dem Auge, gerade so wie Väterchen. »In unsere Wohnung darf ich euch nicht nehmen, in eine Konditorei ebensowenig, und hier im Regen ist's nicht gerade gemütlich. Dennoch möchte ich, da ein gütiges Geschick unsere Wege sich kreuzen ließ, wenigstens erfahren, wie es euch und Hanni ergeht.«

Lotte war nie um einen Ausweg verlegen. Das öffentliche Gebäude an der Ecke hatte einen vorspringenden Balkon; der gewährte Schutz. Sie stapelte ihre Tasche an der Hauswand auf und stellte sich dreist, da es »eklig« zog, in das schwarzweiß gestreifte Schilderhäuschen, denn von der Schildwache war weit und breit nichts zu sehen.

»Das gütige Geschick, das uns zusammengeführt hat, sind wir selbst, Onkel Theodor,« erklärte sie lachend. »Wir wollten euch so gern zu Hertas Verlobung beglückwünschen.«

Der Onkel, der eben noch dem »Blitzmädel« im Schilderhaus belustigt zugelächelt hatte, wurde ernst.

»Das ist nicht recht von euch; ihr nehmt mir dadurch die Freude an unserem Beisammensein. Vielleicht kommt noch einmal der Tag, an dem wir mit freiem Herzen einander sehen können.« Seine hellbraunen Augen irrten suchend auf zu den schweren Wolken. Die sahen grau und undurchdringlich auf ihn hernieder.

»Wie geht's Rudi?« wagte Marlene stockend zu fragen. Sie hatte die ganze Zeit über nichts von ihm gehört.

Onkel Theodors Gesicht verklärte sich.

»Der angehende Raffael – glänzend – schreibt begeisterte Briefe und scheint in Wonne und Farben zu schwimmen! Er will dieses Jahr schon ausstellen, der Blitzjunge. Sein Professor hat ihn selbst dazu ermutigt.«

Marlenchens Gesicht strahlte.

»Wir wollten zu Hertas Verlobung Glück wünschen.«

»Wann macht Herta Hochzeit?« Das Brautpaar war für Lotte entschieden interessanter als der kunstbeflissene Vetter.

»Zu Ostern; schade, daß ihr nicht dabei sein könnt! Aber zu deiner Hochzeit, Marlenchen, hoffe ich doch noch zu tanzen. Das heißt, wenn du mich einladen darfst,« setzte der Onkel ernsten Tones hinzu.

»Ich heirate nur, wenn du zu meiner Hochzeit dabei sein kannst, Onkel,« beteuerte Marlene.

»Na – na,« erwiderte der Onkel. »Schnell noch kurz von Hanni berichtet und dann marsch! Einen Schnupfen sollt ihr euch meinethalben nicht holen, und wenn die Wache dich ertappt, kommst du ins Loch, Lotte.« Er mochte das unerlaubte Zusammentreffen nicht länger ausdehnen.

Wieder trennte man sich schweren Herzens voneinander. Wer konnte sagen, auf wie lange?

In der Nacht sprang der Wind um, am nächsten Morgen hatte der Himmel sein tagelanges Weinen eingestellt. Man rutschte und fiel auf den Straßen; es war Glatteis.

Schwälbchen rieb ihre Schlittschuhe blitzblank; in der Selekta der Liesenschule wurde ebensoviel von Schellengeläut wie von Walzermenuett gesprochen. Acht Tage mußten sich die Mädchenherzen noch gedulden. Schon lief man wieder auf dem Neuen See, dessen stille Wasserstraßen die Schwestern einst an jenem wonnigen Maientag mit Vetter Heinz durchgondelt hatten, auf den blanken Eisen dahin.

Nach vielem, vielem Bitten gestattete der Großonkel endlich, daß sie ihre eingerosteten Schlittschuhe wieder vorkramen durften. Er murrte zwar über Zeit- und Geldverschwendung, aber die Kosten mußten sie von ihrem schmalen Taschengelde bestreiten, und für die aufgewendete Zeit – nur Sonntags gönnten sie sich das kostspielige Vergnügen – waren sie von geradezu rührender Aufmerksamkeit und Dienstbeflissenheit gegen den Onkel. Trotzdem hätte er sich wohl kaum mit solch einem anspruchsvollen Vergnügen einverstanden erklärt; doch der Herr Sanitätsrat, der ab und zu nach dem alten Herrn sah, machte ihn darauf aufmerksam, daß Marlene immer noch blaßschnäbelig aussah.

»Mädel im Wachstum brauchen Bewegung und frische Luft; fleißig spazierengehen und vielleicht einen Turnkursus nehmen!«

Das ging dem Großonkel nun gegen den Strich. Bewegung hatten die Mädchen ja in seinem Haushalt, soviel sie nur brauchten, und Spazierengehen, das heißt Besorgungen machen, mußten sie auch täglich. Allenfalls erklärte er sich noch gelegentlich mit dem »sinnlosen« Schlittschuhlaufen einverstanden.

So flogen Marlene und Lotte mit den Freundinnen und deren Tanzstundenbekannten jeden Sonntag, wenn Petrus sich nicht mit dem Großonkel gegen sie verbündete, über die spiegelglatte Fläche. Hanni, die nur mit dem linken Fuß ausstoßen konnte, blickte bewundernd mit Gerda Schwalbe, die meist mit dem rechten Fuß umknickte, den gewandt vorbeiholländernden Schwestern nach.

Lotte war hier in ihrem Element. Es schien, als ob sie mit den Schlittschuhen gleich zur Welt gekommen sei, so sicher bewegte sie sich auf dem blinkenden Spiegel. Sie tanzte mit Marlenchen einen Eistanz, daß sich am Ufer Publikum sammelte. Lotte strahlte darüber und hätte ihre Kunst gerne noch länger gezeigt. Aber Marlene lief schnell davon; alles Auffallende war ihrem bescheidenen Wesen ein Greuel.

Der kleine Teja, der Lotte gerade bis zur Schulter reichte, war stets ihr getreuer Partner. Lotte war zwar nicht sehr erbaut davon, denn er beeinträchtigte ihre eigene Erscheinung. Sie wäre lieber mit dem hochgewachsenen, breitschulterigen Totila gelaufen, aber der hatte sich das kleine Schwälbchen zur Eisjungfrau erkoren. Marlene lief am allerliebsten allein und genoß schweigend die märchenhaft schöne Winterlandschaft ringsum. Dabei träumte sie von jenem kleinen Nachen, der einst hier unter hängenden Silberweiden dahingeschaukelt war.

Zwischen den am Ufer Entlangspazierenden sah man manch bekanntes Gesicht mit sanft geröteter Nase. Auch die Schwalbeneltern schauten vom sicheren Stand aus den Flugversuchen ihres Nestkükens Gerda zu.

Marlene, Lotte und Ilse, Totila und Teja liefen »Omnibus«. Die drei Damen holländerten vorn, die beiden gotischen Feldherren dahinter; es sah höchst schneidig aus. Plötzlich riß das Vorderrad Lotte sich von dem Hinterrad Teja los und rollte wie besessen auf eine kleine Brücke zu. Teja blickte ihr mit erhobenem Arm nach, als ob sein Speer einen Römer zu durchbohren gedenke.

Dort an dem Brückengeländer stand ein hochgewachsener alter Mann, dessen Haar, Augenbrauen und Schnauzbart eisgrau wie das erstarrte Ufergebüsch waren, einem Recken aus längst vergangenen Zeiten gleichend. Es war der Großonkel; er hatte seinen Spaziergang heute bis hierher ausgedehnt.

Lotte nickte und winkte erfreut; eigentlich hatte sie doch Onkel Heinrich schon ein bißchen gern. Sie begann mit Marlene sofort ihren Eistanz, um dem Onkel ihre Kunst zu beweisen. Aber während der Lotte die Lust an der herrlichen Bewegung aus den Augen sprühte, warfen Marlenes Vergißmeinnichtaugen bei jeder Drehung ängstliche Blicke zu dem Brücklein hinauf, als ob sie Furcht habe, irgend etwas falsch zu machen.

Ilse hatte eine ehrerbietige Verbeugung zustande bringen wollen. Die polierten Schlittschuhe waren jedoch auf derartige »Politessen« doch nicht vorbereitet; sie schlugen nach hinten aus, und Schwälbchen begrüßte den Großonkel nach orientalischer Sitte, indem sie sich der Länge nach vor ihm niederwarf. Totila wollte sie stützen, doch auch er wurde vermöge seiner Schwerkraft zu Boden gerissen; der Feldherr war gefallen.

Lottes Fuß setzte plötzlich mitten im Überkreuzen aus. Von der Brücke klang wieder jenes Geräusch, das sie schon einmal gehört hatte. Der Großonkel lachte!

»So vergnügt, Herr Grimm? Das ist recht!« Herr und Frau Schwalbe betraten auf ihrem Ummarsche das Brücklein.

Der Großonkel lüftete grüßend den Hut und fuhr sich mit seinem Pelzhandschuh durch das immer noch volle Haar. Es war ihm ersichtlich peinlich, in einer so ausnahmsweisen Gemütsstimmung betroffen zu werden. Ilses Eltern nahmen den alten Herrn sogleich ins Schlepptau.

»Da wird man selbst wieder jung, wenn so viel Jugendlust einem entgegenlacht,« sagte Herr Schwalbe, auf die frisch geröteten Gesichter und die glänzenden Augen der Sportkünstler weisend.

Der Großonkel nickte stumm. Wirklich, es ging wie ein geheimer Strom der Kraft und des Frohsinns von all den jungen Menschen aus. Seine Augen folgten den biegsamen Gestalten der Nichten; zum erstenmal lag etwas wie freudiger Stolz in seinen Blicken. Prächtige Erscheinungen gaben sie auf dem Eise ab; selbst in den billigen Wintermänteln sahen sie schöner aus als die meisten in ihren Sportkostümen. Er fand das Schlittschuhlaufen jetzt nicht mehr ganz so sinnlos.

Hanni und Gerda kamen, sich krampfhaft an den Händen haltend, über die tückische Fläche gestrampelt, gehumpelt und gepurzelt; sie lagen mehr auf den Nasen, als daß sie vorwärts kamen. Herr und Frau Schwalbe lachten so herzlich über die täppischen Kleinen, daß auch Herr Grimm wieder mit einstimmen mußte.

Hannis Braunaugen blickten entsetzt zum Großonkel hinauf. Sicher war er böse, daß sie sich beim Fallen den von Marlene und Lotte ererbten Mantel verderben könnte, der viel zu lang und zu weit war.

Aber er fragte wohlwollend: »Na, ihr beiden Eiskünstler, wer von euch bekommt denn nun den Preis für Hinfallen?«

Hanni war so geknickt von dieser unverdienten Güte, daß auch ihre Beine sofort einknickten und sie dem Mittelpunkte der Erde zustrebte. Gerda setzte sich getreulich ihr zur Seite.

Als Frau Schwalbe bei der Verabschiedung auf dem Heimwege liebenswürdig den Großonkel fragte: »Herr Grimm, vielleicht treffen wir uns an einem schönen Sonntag mal wieder am Neuen See?« da bejahte der alte Mann mit einer Lebhaftigkeit, daß er sich selbst hinterher darüber wunderte.

»Kneift den Daumen, daß es Schnee gibt,« rief Schwälbchen den Freundinnen noch nach.

Sie mußten es wohl fleißig getan haben, denn drei Tage später stoben die flockigen Federn übermütig aus den Wolkenbetten. Im silberigen Wirbel drehten sie sich, kamen und sanken, tanzten auf und nieder in endlos sich erneuerndem Reigen. Tag und Nacht schneite es. Die winzigen schneeigen Sternchen wuchsen zu einer stattlichen Hügelkette längs des Straßendammes; jubelnde Mädchenstimmen klangen in der Selekta der Liesenschule.

»Sonntag machen wir eine Schlittenfahrt, hurra!« Liebevolle Blicke begleiteten während der Geometriestunde die draußen gegen das Schulfenster flatternden Schneeflöckchen. Das gab eine ausgezeichnete Bahn!

Das Großstadtbild war verändert. Die nüchternen hohen Mietkasernen sahen wie alabasterweiße Märchenschlösser drein; auch in dem schmutzigsten Gäßlein breitete sich ein weißer, weicher Samtteppich. Alle Kanten und Vorsprünge waren mit lichtem Hermelinpelz verbrämt; über alles Häßliche und Unschöne deckte der Schnee seinen glitzernden Zaubermantel. Die hastenden lauten Schritte der Fußgänger wurden leis, fast unhörbar; selbst die schweren holpernden Lastwagen trauten sich nicht, die märchenhafte Stille lärmend zu unterbrechen. Nur die Kleinen verstummten nicht in diesem andächtigen Frieden der sonst so laut pulsierenden Millionenstadt; die leben ja immer in einem Wunderreiche. Lautes Kinderjauchzen durchhallte Straßen und Plätze; kreuz und quer flogen die schimmernden weißen Bälle.

»Ob sie Sonntag ihre Schlittenfahrt machen?« fragte Lotte sinnend, während sie, statt Messer zu putzen, auf dem Küchenfensterbrett einen niedlichen Schneemann zur Erheiterung der kleinen Schwester zu formen begann.

Marlene zuckte die Achseln und starrte eine Weile stumm in das Schneetreiben hinaus. »Wir dürfen ja doch nicht mit,« antwortete sie dann schließlich.

Doch als der Schneemann mit seinen blanken Kohlenaugen dummdreist zum Küchenfenster hereinglotzte, erschien Schwälbchen auf der Schwelle.

»Also Sonntag,« sagte sie und kein Wort mehr. Aber die Freundinnen verstanden.

»Habt ihr schon beim Großonkel angebohrt?« erkundigte sich Ilse angelegentlich.

»Nee« – Lotte machte ein entsagungsvolles Gesicht – »es hätte ja doch keinen Zweck; so 'ne Schlittenfahrt kostet zu viel Geld.«

»Und der Großonkel hat uns erst vor sechs Wochen zu deinem Geburtstag das Tanzstundenkränzchen erlaubt; da können wir ihn heute nicht schon wieder um so was Großes bitten,« fügte Marlene hinzu.

»Na aber« – Ilse zeigte ein bestürztes Gesicht – »ohne euch macht es mir auch kein Vergnügen, und fragen kostet ja nichts. Eine Schlittenfahrt, das kommt alle hundert Jahre nur einmal vor; da lohnt es sich schon, etwas zu wagen.«

Sie blieb zum Abendessen, denn Frau Tann mochte Ilse gern und hatte durchaus nichts gegen ihre Besuche einzuwenden, wenn sie nicht allzusehr um den Letzten des Monats herum fielen.

Beim Butterbrot erst wagte Ilse einen kühnen Vorstoß.

»Sonntag machen wir eine Schlittenfahrt, Herr Grimm,« erzählte sie mit harmlosem Gesicht.

»Ihr werdet euch Nase und Ohren erfrieren,« stellte der Großonkel gemütvoll in Aussicht.

Ilse ging zum Seitenangriff über. »Ach wo! Es wird herrlich. Vater und Mutter fahren mit, als Ehrengarde; für Sie wäre auch noch im Schlitten Platz, wenn Sie vielleicht mit wollen, Herr Grimm.«

Der alte Herr sah das kleine Schwälbchen an, als ob es ihm den Vorschlag gemacht hätte, um Mitternacht auf den Rathausturm zu klettern.

»Ich muß ganz ergebenst für die ehrenvolle Aufforderung danken; aber ich sitze jetzt lieber in meiner warmen Stube. Früher mal, als ich jung war –«

»Na, sehen Sie, Herr Grimm,« fiel Ilse mit bewunderungswürdiger Logik ein, »früher haben Sie auch Schlittenfahrten gemacht, und Marlene, Lotte und Hanni sind noch jung; da dürfen sie doch mit, nicht wahr?«

Marlene wagte nicht die Augen vom Teller zu heben, Lotte blinzelte Ilse anerkennend zu. Eine endlose Pause folgte.

»Habt ihr denn Lust zu so einem mehr als zweifelhaften Vergnügen?«

Onkel Heinrich fragte es in so verneinendem Tone, daß Marlene plötzlich gar keine Neigung mehr verspürte und auch Hanni stumm blieb. Nur Lotte sagte klar und deutlich: »Aber mächtig!«

»Es wird wohl auch zu teuer sein,« begann Marlene stockend.

Jedoch Ilse, die das schon eroberte Gelände unter ihren Füßen wieder schwinden fühlte, fiel flink ein: »Teuer? Schrecklich billig ist es! Die Schlitten werden aus der Tanzstundenkasse bestritten; nur zum Mittagbrot, Kaffee und zur Bahnrückfahrt braucht ihr Geld, weil wir auf Schlittschuhen über den Wannsee nach Potsdam wollen.«

»Fein!« Lottes Augen blitzten.

»Was kann die Geschichte kosten?« fragte der Onkel, von der Billigkeit nicht sehr überzeugt.

»Für jede zwei Mark, das ist doch spottbillig,« frohlockte Schwälbchen.

»Also sechs,« sagte der Onkel.

Dagegen ließ sich nichts einwenden. Die Schwestern und Frau Tann machten entsetzte Gesichter über solch eine Riesenforderung.

Als aber Ilse sich zum Heimweg rüstete, hatte sie doch wieder mal ihren Willen durchgesetzt. Herr Grimm mochte vor ihren Eltern nicht als Geizkragen dastehen; darum hatte er sich, als alle Krankheiten nicht abschreckten, die man sich bei solcher Schlittenfahrt naturgemäß holen mußte, schließlich mit Würde ins Unvermeidliche gefügt.

In der »Zelle« brachte Lotte beim Zubettgehen ein Hoch auf den Großonkel aus, bis Frau Tanns gegen die Wand pochender Finger dem Jubel ein Ende machte.

Punkt halb elf Uhr fuhren am nächsten Sonntag sechs Schlitten vor dem Brandenburger Tor vor. Ein strahlend blauer Winterhimmel blickte auf die frischen, von der Kälte geröteten Gesichter. Fritz und Ernst Schwalbe, die »Vergnügungsdirektoren«, hatten Ordnung gemacht; jeder Schlitten beherbergte zwei »Damen« und zwei »Kavaliere«.

Klinglinglinglingling! Da zogen die phantastisch mit bunten Federbüschen und Schellennetzen behangenen Pferdchen an, und dahin ging es in sausendem Trab.

Durch den Tiergarten, wo die Fußgänger stehen blieben, um dem anmutfrohen Bilde nachzuschauen, hinein in den schweigenden Grunewald. Meister Rauhreif war die ganze Nacht über fleißig an der Arbeit gewesen; jedes Zweiglein, jedes Hälmchen, auch das winzigste Gräslein zeugte von seiner zierlichen Kunst. Über die träumenden märkischen Kiefern hatte er ein feinmaschiges Silbernetz gestrickt; wie verwunschene Jungfrauen hüllten sie sich in die flimmernden Spitzenschleier. Von tausend und aber tausend Millionen Brillanten sprühte das Erdreich; bläuliche Schneemassen wölbten sich zu Wunderhöhlen. Kein Laut – schweigend stand der Wald; er hielt den Atem an und lauschte dem näherkommenden lustigen Schellengeläut.

Klinglinglinglingling! Die kohlschwarzen Krähen, die gleich bösen Zaubergeistern ernst und drohend den Märchenwald bewachten, flogen krächzend empor, wild mit den Flügeln schlagend. Zog da nicht schon der lachende Frühling durch das Land?

Klinglinglinglingling! Graubraun schimmerte es zwischen den weißglitzernden Büschen, ein Rudel Rehe! Da – dort – in langen Sätzen waren sie waldein.

Klinglinglinglingling! Das schlummernde Vöglein spitzte das Ohr; war das nicht fröhliches Schwalbengezwitscher? Schon vorüber! Schnell wie der Wind, so flog der lustige Spuk durch den verschlafenen Winterwald.

Marlene sprach keinen Ton. Sie lehnte in ihrer Ecke und träumte still mit den stillen Kiefern um die Wette. Elsas und Fritz Schwalbes lustiges Wortgeplänkel erreichte nicht ihr Ohr. Um so lebhafter ging es in dem folgenden Schlitten zu.

»Ilse, sitz still, du fliegst noch in den Schnee – ei nei, Mariellchen, jetzt jibt's aber jleich Mutzköpp; man wird ja janz dreherig in sei'm Kopf!«

Totila und Teja, die beiden Vettern, hatten heute mit der quirligen Ilse einen schweren Stand. Nicht einen Augenblick saß sie still auf ihrem Platz; bald telegraphierte sie mit dem Vorspann, bald mit dem Nachtrab. Hier ließ sie sich aus einem Schlitten etwas hinüberwerfen, dort schleuderte sie Ahnungslosen Bonbons an den Kopf. Dazwischen tauchten ihre Augen in den eisfunkelnden Wald. »Kinder, redet doch nicht in einem fort; es ist ja so unsagbar schön!« Dabei war sie die erste, die das sekundenlange Schweigen wieder brach.

Lotte hatte den Arm um die Freundin geschlungen und kniff sie hin und wieder vor innerer Seligkeit in den Arm. Ab und zu näherten sich die beiden Mädchenköpfe auch im heimlichen Tuscheln; aber dann trieben Totila und Teja sie kriegerisch auseinander, als ob sie Belisar und Narses vor sich hätten.

Valli und Käthe thronten in dem dritten Schlitten. Erstere hielt ein Spiegelchen in ihrem Muff und studierte an jedem Kilometerstein eifrig, ob sie auch noch keine rote Nase habe. Käthe tat, als ob der Mutter kostbarer Pelzmantel, den sie sich für heute erbettelt hatte, ihr gehöre.

»Der Große Kurfürst – der Große Kurfürst, wie er im Schlitten über das Kurische Haff jagt,« jubelte Schwälbchen plötzlich, nach rückwärts weisend.

Da stand Käthe Möller in der Mutter Pelz und mit wallenden Locken, die der Wind gelöst hatte, aufrecht im Schlitten und spähte nach den vorausfliegenden Freundinnen, wie weiland der Große Kurfürst nach den fliehenden Schweden. Seit diesem Tage hatte sie ihren Spitznamen weg; sie hieß nur noch »der Große Kurfürst«.

Den Schluß der stattlichen Schlittenreihe machten Herr und Frau Schwalbe mit Hanni und Gerda. »Wir vier sind die Ehrendamen,« scherzte Ilses Vater.

So fuhr man an dem verschneiten Wirtshaus in Wannsee vor.

Endlich hatte man sich glücklich aus all den Decken und Pelzen herausgeschält; aber die übermütigen jungen Leutchen dachten gar nicht daran, den wohldurchwärmten Raum aufzusuchen. Eine ausgelassene Schneeballschlacht entspann sich erst noch; wie die Zehnjährigen tummelten sich die fast erwachsenen Mädel und die jungen Herren in der weißen Landschaft.

Hui – da flog eine Kugel; das war Tejas Geschoß. Aber schon hatten Lotte und Ilse, die beiden Verbündeten, dem »astpreißischen Kreet« sein Handwerk gelegt.

»Meine Locken – meine Locken,« jammerte der »Große Kurfürst«, denn der feuchte Schnee zerstörte unbarmherzig die prächtige Frisur.

Der Rachegott führte Lottes Hand. »So, mein Kind, das ist für meine ›zierlichen Tanzschuhe‹ neulich!« Wieder war eine von Käthes Locken dahin. Aber jetzt ging es Lotte an den Kragen, denn ein Leutnant kämpfte tollkühn unter der Fahne des »Großen Kurfürsten«.

»Au – nicht so grob!« Valli hielt sich jammernd ihre Nase.

Aber Lotte lachte. »Siehst du, nun ist deine Nase fast so rot, wie du neulich meine Finger fandest!« Es war himmlisch; jedem konnte man seine Bosheit heimzahlen, und er durfte nichts übelnehmen.

»Kinder, die Suppe wird kalt,« rief Herr Schwalbe nun wohl schon zum drittenmal. Da erst wurde Friede geschlossen und Urfehde geschworen.

In heiterster Stimmung setzte man sich zu Tisch. Die großen Holzscheite im Ofen prasselten, und der bleichsüchtige Kalbsbraten mundete vorzüglich. Reden wurden geschwungen, kein einziger der Teilnehmer verschont; selbst die mageren Schlittenpferdchen mußten sich ein Hoch gefallen lassen.

Zuletzt kam Ilse mit einer Überraschung. Sie hatte heimlich ein Schlittenlied verfaßt; das begann:

»Hei, fliegen durch den Schnee
Gar lustig nach Wannsee
Die allerhübschsten Mädel
Vom grünen Strand der Spree.«

Sie war ungemein stolz auf ihr Machwerk, trotzdem Ernst sofort einige hinkende Versfüße darin entdeckte.

»Die drei Fräulein Elmert sind heute mittag meine Gäste,« hatte Herr Schwalbe schon vor Tisch zu Marlene gesagt. Das war gut, sonst hätte Marlenchens Herz bei jedem neuen Gang gezittert und gebangt, ob die vom Onkel bewilligten fünf Mark – eine Mark war ihnen, wie Lotte sich ausdrückte, doch noch »abgeknöpft« worden – auch reichen würden.

Nach dem Essen wurden im Umsehen Tische und Stühle zur Seite geschoben, und nun ging das Tanzen los. Das Klavier, das nur noch wenig richtige Töne hatte, schrie sich seine heisere Stimme vollends aus. Himmlisch war es! Aber allzulange durfte man nicht das Tanzbein schwingen, denn die flotten Schlittschuhläufer der Gesellschaft mußten sich ihre Kräfte für den Rückweg über den Wannsee schonen.

Nachdem man den Kaffee mit den Riesenbergen des mitgebrachten Kuchens verzehrt, und der biedere Wirt Frau Schwalbes besorgtes Mutterherz durchaus beruhigt hatte wegen der sicheren Tragfähigkeit des Sees, trennten sich die Parteien. Der weitaus größere Teil schnallte die Schlittschuhe an und schoß pfeilgleich über die weite Fläche, während Ilses Eltern mit Hanni, Gerda und einigen Nichtläufern wieder die Schlitten bestiegen.

Blutrot, mit gelben und kupfernen Strahlenkränzen stand die Wintersonne über dem See und warf auf das vereiste Ufergebüsch ihre feurigen Funken. Der weiße Wald brannte und lohte. Die jungen Gesichter erglühten. Vorwärts ging es im scharfen Lauf, denn man mußte vor beginnender Dunkelheit Potsdam erreichen.

»Wir wollen eine Schlange bilden,« schlug Lotte vor, »dabei kommt man fein vorwärts.«

Alles war dabei. Lotte wurde als beste Läuferin einstimmig zum Kopf gewählt; in bunter Reihe schlossen sich die übrigen an. Eine lebendige Blütenkette, die sich durch die verschneite Landschaft zog! Jubelnd rasten sie dahin; der vielgegliederte Schlangenkörper konnte kaum seinem Kopf folgen. Käthe Möller mogelte ein bißchen und ließ sich einfach ziehen.

Da – ein Schreckensschrei – die Schlange hatte ihren Kopf verloren! In seiner ganzen stattlichen Länge lag er auf dem Wannsee, und ein Ende weiter der flüchtig gewordene Schlittschuh mit dem losgegangenen Stiefelabsatz.

Die enthauptete Schlange sammelte sich um Lotte. Das war eine nette Bescherung! Was nun? Lotte konnte nicht weiter. Sie machte ein geradezu jämmerliches Gesicht.

»Ei, wir jehen alle zu Fuß, Freileinchen,« erklärte Teja und schickte sich an, seine Schlittschuhe abzuschnallen.

»Ausgeschlossen! In eineinhalb Stunden ist es Nacht; man kommt ja auf der Landstraße nicht halb so schnell vorwärts. Ist denn kein Dorf in der Nähe, wo ein Schuster wohnt?« Aber so angelegentlich die Herren auch Umschau hielten, nichts war im ganzen Umkreis zu sehen, als Eis und Schnee.

Lotte war unglücklich, daß sie solche Schwierigkeiten verursachte und die ganze Gesellschaft aufhielt. »Wenn's dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis,« jammerte sie.

»Wir werden dich ziehen,« schlug Ilse vor. Ein paar Meter ging es, aber dann fand man wieder »schieben« sei besser. Ernst Schwalbe schob also Lotte wie einen Kinderwagen vor sich her. Doch bald sah diese ein, daß es auch bei der größten Selbstüberwindung unmöglich sei, die weite Strecke, auf einem Bein stehend, zu durchmessen. Sie war doch kein Storch.

»Ich gehe allein zu Fuß,« verkündete sie entschlossen, »niemand, auch Marlene nicht, darf sich durch mich stören lassen.« Sie schnallte ab und humpelte an das Ufer.

»Ei nei – wir werden das Mariellchen doch nicht allein jehen lassen! Ech jeh' janz jern mit.« Teja wollte hinterher.

Horch – Peitschenknall! Der tiefe Schnee verschlang den Hufschlag des näherkommenden Pferdes; alles lauschte gespannt.

Es war ein Bauernschlitten, auf dem gewöhnlich Schweine zur Stadt geliefert wurden. Er fuhr leer.

»Holla!« – Fritz Schwalbe brüllte das vor sich hindösende Bäuerlein so gewaltig an, daß es vor Schreck fast vom Bock purzelte – »können Sie eine junge Dame mit nach Potsdam nehmen?«

So hielt Lotte auf dem Schlitten stolz ihren Einzug in die alte Soldatenstadt.

Der Bauer kratzte sich mit blödem Grinsen den Kopf.

»Det wird jehn,« erklärte er schließlich nach angestrengter Überlegung, »ick hab' ja schon so manchet Stück Vieh nach Potsdam verladen.«

Unter schallendem Gelächter wurde Lotte, in der einen Hand ihre Schlittschuhe, in der anderen das Korpus Delikti, den abgegangenen Stiefelabsatz, »verladen«.

So hielt sie, warm in eine Pferdedecke verpackt, auf dem Schlitten bei Sonnenuntergang von den andern jubelnd empfangen stolz ihren Einzug in die alte Soldatenstadt.


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