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Schulabschied.

Ja – der Frühling kam.

Der Lenzwind sprang ungestüm wie ein übermütiger Knabe durch die Straßen und Gassen der Großstadt und blies die schmutziggrauen Schnee- und Regenlachen im Umsehen fort. Auf dem Platz boten Blumenmädchen ihre farbenfreudigen Frühlingssträußchen feil, und weicher goldener Sonnenglanz kam täglich ein Stückchen weiter über die rissige, bröckelnde Hofmauer gekrochen. Nur das graue Haus schaute nach wie vor griesgrämig in das holde Lenzesweben, und die jungen Mädchenblüten, die es beherbergte, ließen die Köpfchen hängen.

Ostern war herangekommen. Morgen sollten Marlene und Lotte von der Schule abgehen – alle beide! Frau Tann kämpfte nach wie vor um Erhöhung des Wirtschaftsgeldes; da hatte sich der Großonkel kurz entschlossen, auch gleich Lotte von der Schule mit abzumelden. Irgendwie mußten die erhöhten Haushaltungskosten doch eingebracht werden.

Unfreundliches Aprilwetter brachte der letzte Schultag mit. Der frühlingshelle Sonnenglanz schien wieder erloschen; schwarzes schweres Gewölk ballte sich am Himmel und umwogte die höchsten Kirchturmspitzen.

»Wenn man abergläubig wäre, könnte man an der Zukunft verzweifeln.« Marlene blickte in den Regenhimmel und dann wieder zu dem grauen Hause zurück, das heute noch trostloser erschien als sonst.

»Marlenchen, du alte Sibylle, liest du schon wieder mal die Zukunft aus dem Kaffeesatz! Sieh, da blinzelt die Sonne aus den Wolkenbetten heraus – ein bißchen müde zwar noch, aber sie wird noch munterer werden.« Lottes glücklicheres Temperament ließ sich nicht so leicht unterjochen.

Nicht einmal, als der Direktor in der Aula die Namen der abgehenden Schülerinnen vorzutragen begann, und Marlene in Tränen zerfloß, obwohl sie doch gar keinen Grund zur Traurigkeit hatte! Eine feine Prämie bekam sie – die allergrößte war es, wie die praktische Lotte gleich herausfand – und ihr Abgangszeugnis zeigte lauter »sehr gut«, während Lotte mehr »genügend« als »gut« aufzuweisen hatte, und dann vor allem »im ganzen befriedigend« im Betragen!

»Tadel 1.« Da prangte er auf der Zensur! Lotte hätte das Papier am liebsten zerknüllt.

»Wir haben ja dieselbe erfreuliche Soße auf dem Zeugnis, und sind noch dazu die beiden Ersten, Elsa und ich,« sagte Ilse mit einer an ihr ungewohnten Schwermut. War die Standrede, die der Ordinarius, Professor Etel, ihnen vorhin bei der Zeugnisverteilung gehalten hatte, daran schuld, oder war es Lottes Schulabgang? Schwälbchen blickte heute auch trübselig in die Welt.

»Ja – aber eure Eltern wissen wenigstens schon von dem Tadel.« Lotte dachte mit stillem Grauen an des Großonkels Überraschung. Warum hatte sie es auch bis heute verheimlicht! Am Ende zog der Onkel noch im letzten Augenblick seine schwer errungene Erlaubnis zu dem Kränzchen am Nachmittag zurück!

Nun kam das Lebewohl von all den Lehrern und Lehrerinnen. Hand in Hand schritten die Schwestern von einem zum anderen. Von dem guten Doktor Wenzel, den sie so gerne hatten, von Fräulein Pietsch mit den Hängelöckchen, vom Direktor, wenn er Lotten auch das Abgangszeugnis verdorben hatte, selbst von der Oberlehrerin wurde ihnen der Abschied schwer. Sie hatten es doch alle gut mit ihnen gemeint! Ach, und nun erst von Professor Hartmann! Ja, und dann war niemand mehr da, vor dem man noch knicksen und halb traurig, halb stolz sagen konnte: »Ich gehe heute ab – vielen, vielen Dank!« Selbst den kleinen »Schnutekens«, den Schuldienerkindern, war schon wohlwollend über die Blondköpfe gestrichen, und doch zögerten die Schwestern immer noch zu gehen.

Sie standen im Schulhof und schauten wehmütig abschiednehmend auf die noch kahlen Zweige des großen Fliederbusches, der mit seinen blauen Blütenaugen Jahr um Jahr zugesehen hatte, wie aus den winzigen Mädelchen die großen stattlichen Mädchen heranwuchsen.

Scheu und ängstlich setzen die Kleinen den ersten Schritt hinein in die ihnen fremde Schule; scheu und ängstlich machen sie nach zehn Jahren den letzten Schritt hinaus, der sie hinwegführt von der treuen Führerin und Beschützerin ihrer Jugend in die unbekannte Welt.

Als das Tor der Liesenschule hinter den Schwestern laut krachend ins Schloß flog, sahen sich Marlene und Lotte ernst an. Dann reichten sie sich stumm die Hände. Es war wie ein stilles Gelübde zwischen ihnen: von heute an mußten sie sich noch viel inniger aneinander schließen als früher!

An der nächsten Ecke warteten die Kränzchenschwestern auf sie.

»Also um fünf – und besonders anständig benehmen, wird versprochen – ach du, Lotte, sag doch, dein alter Herr soll lieber gar nicht erst 'reinkommen!« Käthe Möller war der strenge Großonkel recht unbehaglich.

»Bitte, Käthe, sprich in einem anderen Ton von unserem Onkel; das mag ich nicht hören,« begehrte Lotte auf. Sie schämte sich plötzlich, daß sie vielleicht selbst bisweilen den Freundinnen Grund zu dieser geringschätzigen Ausdrucksweise gegeben hatte.

»Na – na – Lotte hat schon wieder ihren Tropenkoller,« neckte die Freundin.

Lotte war gleich wieder besänftigt.

»Es ist doch unser Großonkel,« entschuldigte sie sich, »wenn er auch so streng ist,« setzte sie in Gedanken noch hinzu.

»Also auf Wiedersehen, Kinder – ja, und noch eins! Der Tadel auf meiner Zensur, der muß ein Klassentadel sein – verpetzt mich bloß nicht,« rief Lotte den Freundinnen noch nach.

»Onkel Heinrich, Marlenchen hat eine Prämie bekommen!« Mit diesen Worten zog Lotte daheim die errötende Marlene in das Zimmer des Großonkels. Mit ihrer eigenen tadelbehafteten Zensur hielt sie wohlweislich möglichst lange zurück.

»Das wird sich wohl so gehören für das viele Schulgeld, das ich noch für sie drangewendet habe,« brummte der Onkel. Er setzte die Brille auf die Nase und studierte mit »Hm – hm«, das sich viel mehr wie Unzufriedenheit als wie Beifall anhörte, all die Einsen.

»Na ja!« Er legte die Zensur Marlene, die mit klopfendem Herzen auf das kleinste Zeichen der Anerkennung von seiten des Großonkels wartete, in die Hände zurück.

»Nicht mal ein paar Groschen schenkt er ihr zur Belohnung,« zankte Lotte innerlich; doch da hatte sie bereite das Verderben ereilt.

»Na und du – wo ist dein Zeugnis?«

»Das habe ich hinten gelassen, Onkel – weißt du, Marlenes ist viel schöner, und dann habe ich einen Tadel darauf – aber bloß einen Klassentadel, den haben alle!« Flammend rot wurde sie bei der Lüge. Des Onkels Stirnfalte weissagte nichts Gutes.

»Hole, es!« gebot er kurz. »Johanna soll das ihrige auch bringen.«

Es dauerte lange, bis die beiden wieder zum Vorschein kamen. Hanni hatte im Turnen »ungenügend« und wollte durchaus nicht in das Zimmer.

»Onkel sperrt mich wieder in die dunkle Kammer – du sollst es sehen,« heulte sie schon im voraus.

Lotte sah mit gezwungenem Lächeln dem Großonkel bei der Lektüre zu; das Herz schlug ihr zum Zerspringen.

»Pfui!« Damit flog ihr das Zeugnis vor die Füße. »Betragen – im ganzen befriedigend – natürlich! Wie man zu Hause ist, so benimmt man sich auch in der Schule! Und ein Tadel noch obendrein! Was für eine Bewandtnis hat es damit, he?«

»Es ist ja nur ein Klassentadel,« wollte Lotte aufs neue beteuern, aber – es war dem Backfischchen jetzt nicht mehr möglich, die durchdringenden Augen des Onkels zu belügen, die ihm bis auf den Grund des Herzens zu blicken schienen.

»Ilse, Elsa und ich haben ihn bekommen, weil wir bei Professor Hartmann hospitieren wollten, und der Herr Direktor hatte es verboten.« Lotte senkte tief den hübschen Kopf. Bekam sie jetzt eine Strafpredigt?

»Erbärmlich – ganz erbärmlich – nicht mal den Mut zur Wahrheit hat das Mädel – pfui!«

Da er ganz in die Erbärmlichkeit seiner Nichte versunken zu sein schien, benutzte Lotte die gute Gelegenheit, um schnell aus dem Zimmer zu entwischen und auch Hanni hinter sich herzuziehen. Für diesmal war letztere Onkels Strafgericht entgangen.

»Gottlob, das wäre glücklich vorüber!« Lotte atmete so befreit auf, als sei ihr ein Zentnergewicht vom Herzen gefallen. An das Kränzchenverbot für den Nachmittag hatte der Onkel auch nicht gedacht!

Mit Eifer stürzten sich die Schwestern auf die Vorbereitungen.

Es hieß für sie fleißig die Hände zu regen, denn sechs Mädel sollten zum Kaffee und Abendbrot zu Gaste sein.

Frau Tann seufzte sorgenvoll. Was die vielen Schnäbel alles verputzen konnten, und knapp durfte es auch nicht sein, im Gegenteil, immerhin einigermaßen anständig! Denn Ilse Schwalbe, die hatte einen so eigentümlich lustigen Schalk in den grauen Augen; die sah selbst unter dem Quark, daß die Butter fehlte.

Die drei Schwestern waren gerade dabei, den Kaffeetisch im Eßzimmer zu decken. Sogar die guten Tassen hatte Frau Tann herausgegeben. »Aber wehe euch, wenn ihr mir eine zerschlagt!« hatte sie gleich hinzugesetzt.

»Du, mit dem Zucker sieht es madig aus; wenn eine mehr als ein Stück nimmt, reicht er nicht,« flüsterte Lotte Marlene sorgenvoll zu.

»Wir nehmen eben keinen, und ich bitte Ilse, sie möchte es auch tun; vor der brauchen wir uns doch nicht zu schämen,« beruhigte die ältere Schwester.

»Marlenchen, die Tasse hier hat einen Sprung,« meldete Hanni, die glückselig half. Es war seit fünf Monaten der erste Lichtblick in dem grauen Hause, und auch auf den fiel ja manch schwarzer Schatten.

»Ach, wenn bloß Käthe Möller nicht gerade diese Tasse bekommt! Ob ich sie hierhin setze? Ach nein, lieber dort; da ist gerade ein großer Kesselfleck im Tischtuch. Marlenchen, der Kuchen ist ganz billig, Schmalzbrezeln, Maulschellen und Sechserpfannkuchen mit Pflaumenmus! Neulich bei Käthe Möller gab es Windbeutel und Mohrenköpfe mit Schlagsahne!« Bekümmert ordnete Lotte die Kuchenteller.

»Bei uns ist es eben anders.« Marlene war zwar nur ein Jahr älter, aber um mindestens drei reifer als Lotte. »Wem es nicht gefällt, der braucht ja nicht wieder zu kommen. Des Essens halber haben wir unser Kränzchen doch wohl nicht!«

Selten sprach Marlene so bestimmt. Wenn sie es aber mal tat, machte es stets auf Lotte Eindruck. Sie umfaßte zwar ihr Marlenchen und tanzte, in der Hand eine der verpönten Schmalzbrezeln, mit ihr um den Kaffeetisch herum, daß die guten Tassen klirrten, gab ihr aber doch mit einem »Sei still, Tugendprediger« einen herzhaften Kuß.

»Mein Perser, Mädel – ihr ruiniert mir ja den Teppich! Seid ihr denn heute ganz und gar aus dem Häuschen?« Trotz des Stirnrunzelns hatte Frau Tann Freude an der seltenen Ausgelassenheit der Mädchen. Du lieber Himmel, es war doch nun mal junges Blut!

Der Kaffeetisch war fertig. »Von weitem macht es sich entfernt,« kritisierte Lotte, »wenn wir wenigstens noch ein paar Blumen zum Schmucke hätten; aber ich habe nur noch fünf Pfennig im Vermögen.«

»Geld dürfen wir nicht für derlei Unpraktisches ausgeben, sonst entzieht uns Onkel das Taschengeld. Aber ich hab's! Wir machen aus den Papierservietten Blumen.« Mit geschickter Hand begann Marlene die Papierservietten, die Frau Tann gegeben hatte, um Wäsche zu sparen, zu kunstvollen Blüten zu gestalten. Lotte klatschte in die Hände.

»Famos, Marlenchen! Wie eine Hochzeitstafel sieht es jetzt aus; so hübsch war's bisher nirgends!«

Endlich war alles so weit fertig.

Viermal stürzte Hanni, der man das Amt des Aufmachens anvertraut hatte, umsonst zur Tür. Sobald eine Pferdebahn draußen klingelte, schraken Marlene und Lotte empor.

Die Freundinnen hatten sich alle miteinander verabredet. Sechs an der Zahl erschienen sie auf einmal; es war ihnen unbehaglich, allein das graue Haus zu betreten, in dem der geheimnisvolle Großonkel »spukte«.

Beim Ablegen wagten sie sich auch noch nicht recht mit der Sprache heraus; die rosigen Mundwerke, die sonst so munter plapperten, waren wie von einer unsichtbaren Schleuse gehemmt.

Aber der Kaffee, wenn auch Zichorie darin war – das fand Käthe sogleich heraus – löste bald die Zungen.

»Es sieht ja ganz manierlich hier aus,« flüsterte sie ihrer besten Freundin Valli zu, sich fast ein wenig enttäuscht in dem gediegenen, wenn auch altmodischen Eßzimmer umblickend.

»Onkel ist zwei Zimmer entfernt; ihr könnt ruhig laut reden.« Lotte zählte dabei ängstlich die Zuckerstückchen; eine mußte zwei genommen haben.

Marlene machte unaufhörlich mit der Kaffeekanne die Runde, und Hanni, stolz, daß sie zu einem richtigen Backfischkränzchen zugelassen wurde, bot den Kuchen an.

»Er schmeckt großartig!« Die treue Ilse stopfte mit Todesverachtung den trockenen Bäckerkuchen in den Mund, und Lotte strich ihrem Schwälbchen dafür dankbar über die hellbraunen Defreggerzöpfe.

Dabei schielte sie besorgt zu Käthe Möller hinüber. Richtig, hatte das Unglückswurm doch gerade eine Schmalzbrezel erwischt!

Aber das beeinträchtigte die gute Laune durchaus nicht. Man war in Ferienstimmung, und wenn es auch bei einer oder der anderen zu Hause ein bißchen gekracht hatte wegen eines weniger guten Zeugnisses, jetzt hatte man vierzehn freie Tage vor sich.

Die Tür knarrte. War das der –?

Nein, es war nur Frau Tann, die es erst jetzt für vornehm erachtete, ihre jungen Gäste zu begrüßen. Sie hatte das Grauseidene angelegt, das sonst seinen Dornröschenschlaf tief hinten im Schrank hielt, und trug den Kopf noch aufrechter als sonst. Sie wollte auf die jungen Mädchen Eindruck machen. Mit jedem Wort spielte sie darauf an, daß sie Mutterstelle bei den verwaisten Schwestern vertrat.

»Das ist recht, daß ihr meine lieben Kinder auch mal besucht! Du bist wohl die Grete, und das ist Martha, und wie heißt du?« Frau Tann wandte sich hoheitsvoll an Käthe Möller.

Die tat, als ob sie nicht gehört hätte.

Lotte und Ilse sahen einander an und lächelten. Lotte ärgerte sich zwar über Frau Tanns »Du«, aber im Grunde gönnte sie gerade der Käthe diese Niederlage.

»Das ist Käthe, das Valli, Elsa, Grete, Martha und Ilse; die kennen Sie ja schon, Frau Tann,« stellte Marlene schnell vor, um nur ja keine Mißstimmung aufkommen zu lassen.

Ilse hatte sich erhoben. Sie machte eine tiefe Verbeugung vor Frau Tann, um den Freundinnen zu zeigen, wie man sich der Hausdame gegenüber zu benehmen habe.

»Meine Mutter läßt bestens grüßen.«

Ilses Beispiel wirkte. Auch die übrigen bestellten jetzt die ihnen aufgetragenen Grüße und Empfehlungen.

Frau Tann lächelte geschmeichelt.

»Aber ihr greift ja gar nicht zu,« nötigte sie zu Marlenes größter Verwunderung, die glaubte, sich für jedes Stück Kuchen, das die Kränzchenschwestern nahmen, entschuldigen zu müssen.

Da ging aufs neue die Tür.

Potztausend, fuhren die blonden und die dunklen Mädchenköpfe auseinander, schnellten die schlanken und gedrungenen Figürchen von den Stühlen empor, als der stattliche alte Herr das Zimmer betrat!

Großonkels Adlerblick überflog die verlegen knicksende Gesellschaft. Sein »Na, lustig beisammen?« klang so wenig lustig, daß Valli, die ihm am nächsten saß, ängstlich ein Endchen weiterrückte. Bestimmt – nicht einen Tag würde sie es bei dem alten Brummbär aushalten!

Auch Elsa blieb der Happen in der Kehle stecken. Ilse, aber, die den interessanten Onkel schon von früheren Besuchen her kannte, ging ihm freimütig entgegen und begrüßte ihn ohne eine Spur von Ängstlichkeit. Es war merkwürdig, die kleine Ilse und der knurrige alte Herr waren beide ganz gute Freunde. Sie verstand es, ihn richtig zu nehmen.

»Vielen Dank, Herr Grimm, daß Sie so freundlich gewesen sind, uns heute einzuladen,« sagte sie mit heller Stimme.

Herr Grimm sah mit eigentümlichem Gefühl auf das Schwälbchen.

Freundlich? Es war ihm ja gar nicht eingefallen, irgend jemand eine Freundlichkeit erweisen zu wollen. Er hatte auf das tägliche Bitten und Anbohren Lottes, doch auch mal das Kränzchen übernehmen zu dürfen, ein ärgerliches »Meinetwegen« herausgestoßen, um den Quälgeist endlich los zu sein. Aber diese Auffassung der Sachlage, war ihm jetzt durchaus nicht unangenehm.

»Hm, na – mit den Zensuren zufrieden?« Der Onkel fühlte sich verpflichtet, jetzt irgendwie sein Interesse an seinen jungen Gästen zu zeigen.

Die Frage kam aber so drohend heraus, daß der Mädchenchor in ein erschrecktes »Ja« ausbrach. Marlene und Lotte indessen nickten sich heimlich zu: Wie nett der Großonkel heute war!

»Nur der Klassentadel,« warf Käthe Möller, eingedenk der Bitte Lottes, möglichst keck dazwischen.

Jetzt entsannen sich auch die anderen ihrer Verpflichtung, für die Freundin ein bißchen zu schwindeln.

»So was, uns den auf die Zensur zu schreiben – und ganz ungerecht war er – na, so ein Klassentadel ist ja nicht schlimm –« flog es verstohlen kichernd hin und her.

Die Backfischchen merkten nicht, daß Lotte in tödlicher Verlegenheit ihre langen Beine unter dem Tisch nach allen Himmelsrichtungen umherwandern ließ, um die Freundinnen zum Schweigen zu bringen, und Marlenes unauffällige Rippenstöße hielten sie für eine Ermunterung. Erst als die Tür plötzlich ins Schluß krachte, und der Platz, wo der alte Herr gestanden, leer war, sahen die jungen Mädchen einander verdutzt an. Tiefe Stille trat ein.

Lotte kniff die Lippen zusammen.

»Erbärmlich – ganz erbärmlich!« Deutlich hatte sie ihr Urteil wieder in Onkel Heinrichs Zügen gelesen! Am liebsten hätte sie laut losgeweint. Aber sie hatte jetzt Pflichten als Wirtin.

Marlene kam ihr zu Hilfe.

»Wollen wir nicht ein bißchen in unser Zimmer gehen? Ihr müßt doch unsere neue Residenz kennen lernen,« schlug sie mit bittendem Blick gegen Frau Tann vor.

Übertriebene Feinfühligkeit war zwar sonst nicht deren Sache, aber es war nun bald Zeit, die Brote zurechtzumachen; daher fand Marlenes Vorschlag gleich ihre Billigung. Sie »verzupfte« sich, wie es in der Backfischsprache hieß, und nahm Hanni zur Hilfe mit. So schlug man zwei Fliegen mit einer Klappe.

Der Druck, der sich plötzlich auf die jungen Gemüter gelegt hatte, löste sich, als man endlich unter sich war. Gab das ein Hallo, als Lotte berichtete, wie die Freundinnen hineingerasselt waren, und daß der Onkel bereits um die Wahrheit wußte! Im ersten Augenblick schämte man sich natürlich tüchtig, aber wenn man fünfzehn Jahre alt ist, und noch dazu am ersten Ferientag, gewinnt bald der Humor an der Sache die Oberhand. Als Ilse nun vorschlug, Schule zu spielen, die Lieblingsbeschäftigung im Kränzchen, da waren alle unangenehmen Gedanken verflogen. Lauter Jubel und helles Lachen erschallte.

Die kahlen getünchten Zimmerwände blickten erstaunt auf die übermütigen jungen Dinger, und das graue ernste Haus machte ein höchst mißbilligendes Gesicht über die ausgelassenen Ruhestörer. Der grauhaarige alte Mann aber im Vorderzimmer ließ seine Zeitung sinken und lauschte der frischen jungen Stimme. Fern, ganz fern in seiner Erinnerung, da tauchte etwas auf, wie Vogelsang und Kinderlachen, Der verbitterte alte Mann dachte an seine eigene Jugendzeit ...

Lottes Sorge war überflüssig gewesen. Die Mädel unterhielten sich so gut, daß sie selbst die »Zelle« riesig gemütlich fanden. Viel zu früh rief Frau Tann zum Abendbrot.

Ilse klopfte ans Glas und hielt eine Abschiedsrede für Marlene und Lotte. Man beteuerte sich himmelhoch mit vielen Küssen, auch ohne Schule die Kränzchenschwesternschaft treu fortzusetzen.

Aber als Lotte am Abend des gelungenen Tages in Onkels Zimmer trat, um Gute Nacht zu wünschen, und sich noch einmal zu bedanken, da flogen die Beteuerungen und Schwüre der Freundinnen in Nichts auf, durch vier kategorische Worte des Großonkels: »Kränzchen ist nicht mehr!«

Das war die Strafe für Lottes Lüge.


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