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Weihnachtsgäste.

Auf dem Platz vor dem grauen Hause herrschte reges Leben. Holzpflöcke wurden in die Erde getrieben, graue Zelttücher darüber ausgespannt, und jede der kleinen Buden vorn durch einen rohgearbeiteten, schmalen Tisch abgeschlossen. So hatte es noch gestern abend auf dem Platz ausgeschaut, als Hanni zum Kaufmann mußte, um mehrere Flaschen Bier zu holen. Die Kleine hatte lange dabei gestanden und das allmähliche Aus-der-Erde-Wachsen dieser kleinen Häuschen mit weitaufgerissenen Augen beobachtet, bis Frau Tanns knochiger Finger gegen die Scheibe trommelte. Aber als das kleine Mädchen am nächsten Morgen als erstes wieder zum Fenster lief, um auf den Platz hinabzuspähen, da mußte wohl in der Nacht eine Fee aus Hannis Märchenbuch kreuz und quer durch die Reihen und Gänge geschritten sein. Die unscheinbaren Buden hatten die Augen aufgeschlagen, waren zum Leben erwacht. Jede zeigte ein anderes lustiges Gesicht. Wie war es nur möglich, daß diese schlichten Leinenwände so viel Kinderseligkeit umschlossen!

Aber nicht nur die Kleinen hielt der Berliner Weihnachtsmarkt in seinem Zauberbann, auch die Großen wurden dort wieder zu harmlos fröhlichen Kindern.

»'n Sechser der Hampelmann – zwei Dreierschäfken noch for 'n Sechser – 'n Jroschen der Berliner Spaßvogel, hinten nickt er, vorne pickt er – 'n Jroschen hier bloß noch Lehmanns Schwiejermutter mit die Brille auf der Nas, macht for 'n janzen Taler Spaß – 'n Sechser de Christbaumkette – 'n Dreier de laufende Maus, die kleene, rennt uff ihre vier Beene janz von alleene –« So schrien schrille anpreisende Stimmen von morgens bis abends in ohrenbetäubendem Durcheinander. Dazwischen brummten die Waldteufel, knarrten die Weihnachtsknarren, schmetterte die Kindertrompete aus der Spielzeugbude und zankte sich die dicke Pfefferkuchenfrau mit ihrer Nachbarin in unverfälschtem Berlinisch. Lehmanns Schwiejermutter sprang dem harmlos Vorübergehenden in erschreckender Länge ins Gesicht, und jubelnde Kinder zogen nach allen Himmelsrichtungen an dem Mantel der Mutter oder den Rockschößen des Vaters.

Wer sollte dabei wohl ernst bleiben? Selbst das arbeitsdurchfurchte Gesicht der Großstadt verklärte ein Lächeln echter Volkspoesie.

Ob auch die Kälte noch viel grimmer wurde, ob auch die blaugefrorenen Hände immer öfter über das qualmende Kohlenbecken wanderten oder die bauchige braune Kaffeekanne umschlossen, und ob die feilbietenden Kleinen auch unaufhörlich von einem Fuß auf den anderen stampfen mußten: das tat der Weihnachtsfreude keinen Abbruch. Zu einem richtigen Berliner Weihnachtsmarkt gehört Kälte und Schnee.

Auch der ließ nicht auf sich warten. Auf leisen, weichen Socken kam er über Nacht geschlichen und stülpte jeder kleinen Bude eine schlohweiße Mütze auf den Kopf. Über das krause Tausenderlei aber stäubte er allerfeinsten Pulverzucker, daß der ganze Weihnachtsmarkt wie eine bunte, mit Zucker bestreute Riesentorte ausschaute, wenigstens von den Fenstern des grauen Hauses aus. Hanni wurde nicht müde, die Nase gegen die Scheiben zu pressen und sich alle die Herrlichkeiten und die flutende Menschenmenge unten auf dem großen Platze zu betrachten.

Dabei sah es bös aus mit ihrer Weihnachtsbescherung. Die Zensur war nicht sehr erfreulich ausgefallen; Hanni hatte sich in dem halben Jahr, während Marlene schneidern gelernt und sich nicht um ihre Schularbeiten kümmern konnte, entschieden verschlechtert. Der Großonkel war mit Recht ungehalten; nicht für fünf Pfennig wollte er dem nachlässigen Kinde schenken. Auch einen Weihnachtsbaum, das Allerschönste für das schwärmerische Marlenchen, sollte es dieses Jahr nicht geben. »Ihr zwei seid zu groß, und Johanna hat es nicht verdient,« so hieß es. Das war recht betrübend, und die drei Schwestern hätten dem Feste wohl kaum freudig entgegengeschaut, wenn nicht der Weihnachtsmarkt vor den Fenstern sich in jedes Herz hineingelächelt hätte.

In jedes?

Nein, der alte Mann da droben im grauen Hause sah nicht den farbenfrohen, heiteren Vorboten des Friedensfestes. Der murrte und brummte ohne Ende über den Lärm drunten auf dem Platz, über das ohrenzerreißende Getute, Geknarre und Gequietsche, das zu jeder Tagesstunde erschallte, gleichsam um ihn in seiner Verdrießlichkeit noch zu höhnen. Ja, selbst in die geheiligte Stille seines Nachmittagschlafes wagten sich Knarre und Waldteufel. Er ärgerte sich, wenn er zu Hause war, und er ärgerte sich, wenn er fortging. Aber seitdem »Lehmanns Schwiejermutter« eines Tages die Dreistigkeit besessen hatte, ihm ohne jeden Respekt in das finstere Gesicht zu fahren, hatte Herr Grimm dem Weihnachtsmarkt ewige Feindschaft geschworen.

Selbst in die nüchterne »Zelle« fielen ein paar Strahlen der weihnachtlichen Poesie. Es gab dort allerlei Geheimnisse. Aus Wollresten hatten Marlene und Lotte eine schöne warme Decke für den Großonkel gehäkelt, Hanni hatte für den Großonkel eine Schlummerrolle gearbeitet. »Aber wenn er mir nichts schenkt, kriegt er sie auch nicht,« sagte sie trotzig.

Auch für Frau Tann hatten die Schwestern fleißig die Finger geregt. Marlene hatte aus nettem, billigem Barchent in der Schneiderstunde eine Matinee für sie gearbeitet, Lotte im Schwalbennest unter Frau Schwalbes Anleitung eine prächtige Weihnachtsstolle gebacken. Nur Hanni hatte noch nichts. Die erzherzogliche Bonbonnierenkasse, der gemeinsame Sparschatz, war bis auf den letzten Pfennig geleert. Dabei hätte man doch nur zu gern noch so manches eingekauft, vor allem für Hanni irgendeine kleine Weihnachtsfreude. Es lag den beiden Großen schwer auf dem Herzen, daß das Schwesterchen ganz leer ausgehen sollte. Sie wußten, der Großonkel hielt Wort. Ja, wenn es nur ein winziges Tannenbäumchen gewesen wäre! Aber so ganz ohne Lichterschein – –

Das Treiben und der jubelnde Lärm drunten auf dem Weihnachtsmarkt nahmen zu, die Pfefferkuchenberge und Christbäume nahmen ab. Heiligabend rückte heran. Ein einziger Tag trennte die erwartungsvollen Kinderherzen noch von dem märchenhaften Wunderland, das nur alle Jahre einmal aus dem grauen Meer der Alltäglichkeit emporsteigt.

Es war »Reinmachetag«. Lotte stand mit dem Ledertuch bewaffnet auf der Trittleiter am offenen Fenster. Sie fuhr über das Glas, daß das nasse Leder quietschte; aber ihre Augen und ihre Gedanken wanderten drunten zwischen den lustigen Buden umher. Dort gab es Christbaumäpfel, rote Hähnchen, und da –

Lotte streckte plötzlich beide Arme in die Luft und fuhr mit einem Schrei von der Leiter herab, zum Glück ins Zimmer hinein. Sie rieb sich ihr blaugestoßenes Knie, fuchtelte aufgeregt mit dem Lederlappen umher und schrie zum Fenster hinaus: »Heinz – Heinz – Onkel Heinz!«

Dort der Herr in dem eleganten Pelz an der Bude mit den hübschen Aufziehsachen, das war kein anderer als der nette Vetter aus München! Unter der schwarzen Sealmütze lugten seine grauen Haare hervor.

»Heinz – Heinz!« rief Lotte aufs neue. Aber der Junge mit den laufenden Mäusen vor dem Fenster übertönte ihre Stimme.

Der Vetter wandte sich jetzt einer anderen Bude zu; Lotte verlor ihn in dem Gewühl aus dem Gesicht. Dann tauchte er plötzlich wieder auf. Da faßte Lotte einen raschen Entschluß. Ohne sich zu besinnen, lief sie, so schnell es ihr Knie erlaubte, die Treppen des grauen Hauses hinab und hinaus auf den Weihnachtsmarkt, mitten in das Getriebe.

Endlich hatte sie den feinen Pelz erwischt.

»Heinz – Onkel Heinz!« Atemlos packte sie ihn beim Arm, damit er ihr nur nicht wieder verloren gehen sollte.

Der Vetter wandte sich überrascht um.

Vor ihm stand die Lotte, ohne Hut und Mantel, mit einer großen Ärmelschürze bekleidet; in der Hand hielt sie diesmal statt der Scheuerbürste einen Lederlappen. Ihre Augen strahlten, trotzdem das Bein ziemlich schmerzte.

»Karline« – der Vetter schüttelte ihr lachend die Hand – »wie tauchst denn du hier so plötzlich in hausfraulicher Gewandung auf?« Sein Blick überflog vergnügt ihre Erscheinung.

Die eitle Lotte wurde puterrot. Es kam ihr jetzt erst zum Bewußtsein, in welchem Aufzug sie in ihrer ersten Freude davongestürmt war.

»Ich sah dich beim Fensterputzen, und da – da fiel ich von der Leiter herab.« Sie sah scheu zu ihm auf. Am Ende schämte er sich ihrer?

Doch der schwarze Pelzärmel faßte freundschaftlich den gelblichen Schürzenärmel.

»Hoffentlich doch net gleich hier auf den Weihnachtsmarkt 'runter! Mir scheint's, du freust dich gar net über den Onkel, Karline,« scherzte Heinz in fröhlicher Wiedersehensfreude. »Aber paß auf, du wirst dich noch verkühlen! Wir sind net mehr im Monat Mai. Marsch 'nauf, es sind heut neun Grad Kälte!« Er schritt neben ihr her dem grauen Hause zu.

»Meine Überraschung hast mir zwar zuschanden gemacht, Karline – ich wollt' mich als Weihnachtsmann bei euch einschmuggeln. Ich müßt' dir eigentlich recht bös dafür sein!« So sprach des Vetters Mund, seine Augen aber redeten ganz anders.

Vor ihm stand Lotte, ohne Hut und Mantel, mit einer großen Ärmelschürze bekleidet.

Manch erstaunter Blick streifte den feinen jungen Herrn und seine sonderbare Begleiterin. Lotte machte sich geschwind los und lief voran ins graue Haus.

Aber die Treppen ging es nur langsam hinauf; das Knie schmerzte heftig.

Vetter Heinz wurde aufmerksam.

»Tut's arg weh, Lotte?« fragte er teilnehmend.

Sie biß die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf. Dann zog sie den Vetter zum Großonkel in die Stube.

»Onkel Heinrich – eine Weihnachtsüberraschung!«

»Das hast du recht gemacht, Junge!« Seit Tagen ging es wieder das erstemal wie ein leises Schmunzeln über des Onkels Gesicht.

Lotte schleppte humpelnd die Leiter aus dem Nebenzimmer in die Küche.

»Frau Tann, der Vetter ist da; nun muß es morgen abend Weihnachtskarpfen geben, wenn sie auch eine Mark kosten – und Fensterputzen kann ich auch nicht mehr.«

Frau Tann machte ein Gesicht, halb lachend, halb weinend. Sie wußte nicht, ob sie sich freuen oder ärgern sollte.

Lotte aber hinkte eilig nach der »Zelle«. Dort saß Marlene und verlängerte Hannis Hauskleid, während die Kleine wohl schon zum hundertsten Male ihren Wunschzettel aufschrieb, wenn der Großonkel ihn vielleicht doch noch haben wollte.

»Marlenchen – Marlenchen – der Vetter aus München ist da!«

O weh, da ging Marlenes Nadel statt in den dunklen Wollstoff in den rosigen Zeigefinger; ein dicker Blutstropfen quoll hervor.

»Wo denn – wo?« Marlene sprang empor; Hannis Kleid flog auf die Erde.

»Drin beim Großonkel!« Lotte tauchte ihr Taschentuch in die Waschschüssel und legte sich kunstgerecht einen Verband um das geschwollene Knie. Mit großen Augen blickte sie auf die erregte Schwester.

»Ach – um Himmels willen« – Marlene sah ganz verstört aus.

»Aber Marlene – freu dich doch! Weißt du denn nicht mehr, wie vergnügt wir im Mai waren, als Vetter Heinz zu Besuch kam?«

»Vetter Heinz –?«

Ja, richtig, Marlene hatte im Augenblick gar nicht daran gedacht, daß es in München mehr als einen Vetter gab. Ihr Herz schlug wieder ruhiger; sie vermochte sich bald gerade so wie die sich putzende Lotte und die herumhopsende Hanni über Vetter Heinzens Ankunft zu freuen.

Aber nach der ersten Freude kamen wieder die Sorgen.

»Was wird er bloß sagen, wenn wir nicht einmal einen Weihnachtsbaum haben,« jammerte Marlene.

»Kein Stückchen anständigen Pfefferkuchen im Hause,« zankte Lotte. »An den harten Steinpflastern beißt er sich seine schönen weißen Zähne aus.«

Hanni aber brach erst den Frieden.

»Wenn der Großonkel mir wirklich nichts schenkt, kriegt Vetter Heinz seine Schlummerrolle,« sagte sie, stolz über ihre Kreuzsticharbeit streichend.

Himmel, ein Geschenk für den Vetter! Man hatte keines, und ach, auch kein Geld, es zu kaufen!

»Aber schenken müssen wir ihm etwas!« Das stand bombenfest.

Denn Heinz würde ihnen auch etwas mitbringen; er machte bei Tisch schon allerlei neckende Andeutungen. Klein Hanni brachte er in die entsetzlichste Verlegenheit, als er immer wieder fragte, ob sie auch fein brav gewesen sei, daß der Weihnachtsmann etwas Schönes bringen könne.

Der Großonkel runzelte schließlich, da die drei Mädchen hartnäckig schwiegen, die Augenbrauen. Hanni fand, er sehe aus, wie der leibhaftige Knecht Ruprecht.

»Johanna hat es nicht verdient, daß man ihr eine Freude macht,« sagte Onkel Heinrich streng.

Die großen, dunklen Kinderaugen füllten sich mit Tränen. Aber der gute Vetter Heinz, ihr Nachbar, griff unter dem Tisch nach ihrer Hand, drückte sie aufmunternd und machte ein ganz pfiffiges Gesicht. Das linke Auge kniff er zu, und mit dem rechten blinzelte er sie verstohlen an. Da wußte klein Hanni, daß sie nicht ganz leer ausgehen würde.

Nach dem Mittagessen zog Heinz das kleine Cousinchen in die Zelle.

»So, nun gib mir doch mal deinen Wunschzettel, Hanni.«

Das kleine Mädchen suchte das am schönsten geschriebene Blatt heraus.

»Hast du denn auch Einkäufe gemacht für Marlene und Lotte?«

Hanni schüttelte den dunklen Kopf.

»Nein? Waren die zwei am End' auch net brav zu dir – haben sie mit dir gerauft?«

Hanni schüttelte stärker den Kopf.

»Ich – ich habe kein Geld, wir haben alle kein Geld,« gestand sie plötzlich mit einem schweren Seufzer, eingedenk der vorangegangenen schwierigen Beratungen.

Da lachte der Vetter, daß Lotte und Marlene eilig von ihrer Küchenarbeit herbeigeeilt kamen. Aber die zwei, Heinz und klein Hanni, wollten durchaus nicht verraten, was zwischen ihnen vorgegangen war.

Diesmal hockte der lustige Vetter nicht beim Geschirrwaschen auf dem Kohlenkasten. Mit geheimnisvollem Gesicht, als ob er ganz Berlin einzukaufen gedenke, zog er ab.

Schweigend ging draußen die Arbeit von der Hand. Alle drei zerbrachen sich den Kopf, wie man nur Vetter Heinz eine Freude bereiten könne. Niedergeschlagen gingen sie dann wieder in ihre »Zelle«.

Da lag auf dem wackligen Tisch ein großer weißer Bogen mit fremden Schriftzügen. »Für Marlene, Lotte und Hanni zu Weihnachtsvorbereitungen,« lasen die Schwestern zu ihrem höchsten Entzücken. Unter dem Blatt aber blitzte ein funkelndes Zwanzigmarkstück.

»Eine Fee – eine gute Fee!« jubelte Hanni.

Die beiden Großen wußten sehr wohl, wer die gute Fee gewesen war, und wenn es Lotte auch widerstrebte, Onkel Heinz von seinem eigenen Gelde etwas zu schenken, schließlich – er konnte doch unmöglich wissen, daß das nun gerade von seinen zwanzig Mark gekauft sei! Sie seufzte erleichtert.

»Geld macht nicht glücklich,« dachte sie sinnend, »man muß es auch besitzen!« Auf ihren Vorschlag wurde der plötzliche Reichtum gerecht verteilt, worauf man sich eine ganze Stunde lang nicht über die notwendigsten Einkäufe einig werden konnte.

Von Frau Tann erbettelten sie die Erlaubnis zum Fortgehen, mußten jedoch noch einen langen Zettel mit allerhand Besorgungen in den Kauf nehmen. Aber was schadete das? Morgen war Heiligabend, und man hatte Geld, um den ganzen Weihnachtsmarkt auszukaufen – zum mindesten erschien es klein Hanni so.

Was schadete es, daß Lottes Knie »eklig weh tat«, so daß sie sich sonst sicherlich von jeder Arbeit gedrückt hätte? Es galt ja Weihnachtseinkäufe zu machen! Und was schadete es schließlich, daß die Karpfen, die Marlene mit Todesverachtung im Netz heimtrug, sich wie toll gebärdeten und gierig nach ihren ängstlich zurückweichenden Fingern schnappten? Ja, wenn es keine Weihnachtskarpfen gewesen wären!

Der Vetter erschien zum Abendbrot wieder und verschwand gleich mit Riesenpaketen in des Großonkels Zimmer. Dort hörte ihn Lotte, die rein zufällig sich in der Nähe der Tür zu tun machte, tuscheln und flüstern, bis schließlich ein überzeugungsvolles, aber ziemlich menschenfreundliches »Du bist ja rein verdreht, Junge« des Großonkels erklang.

Der Teekessel summte heute noch einmal so fröhlich wie sonst über der Spiritusflamme; im Kachelofen knackte es unternehmungslustig. Die Gasflamme versuchte das sonst so düstere Zimmer mit blendender Helle zu übergießen, und die Gesichter sahen alle halb vergnügt, halb erwartungsvoll aus.

Selbst der Großonkel mußte irgendwie mitverschworen sein. Als Vetter Heinz fragte, ob denn der Weihnachtsbaum schon gekauft sei, da hatten die Mädchen ein wenig ängstlich zum Großonkel hingeäugt und sich dann aber vielsagend angeguckt.

»Weihnachtsbaum – nichts da – dies Jahr nicht,« erwiderte der Onkel barsch; aber Lotte sah, daß er an seinem Schnauzbart zog, ein Zeichen, daß er es nur halb so schlimm meinte.

Marlene wollte zwar bei dem abendlichen Zwiegespräch in der »Zelle« noch feige zurückweichen, und trotz ihres lebhaften Wunsches von einem Bäumchen Abstand nehmen, denn der Onkel würde am Ende unangenehm überrascht sein. Aber Lotte nahm das auf ihre Kappe. »Wenn Heinz da ist, zankt er nicht!« Außerdem war es morgen Weihnachtsabend; der wandelte auch das bärbeißigste Gesicht in ein frohes.

Ja, selbst Frau Tann, die sich sonst im Nebenzimmer sicherlich über den unerhörten Petroleumverbrauch aufgeregt hätte, denn Lotte stichelte bei der mit Zeitungspapier verhängten Lampe bis spät in die Nacht hinein, legte sich auf die andere Seite und schnarchte friedlich. Was solch ein bevorstehender Weihnachtsabend doch alles zuwege bringt!

Lotte tat es nicht anders. »Onkel Heinz hat es verdient, daß ich ihm etwas arbeite!« Sie hatte einen leinenen Handschuhkasten gekauft, und nicht nur das vorgezeichnete »Handschuhe« mit roter Seide ausgestickt, sondern in eine Ecke noch »Onkel Heinz« und in die andere »von Karline« höchst sinnig hineingearbeitet. Dazu hatte sie, da ihr der bloße Kasten zu bescheiden erschien, ein Paar kanariengelber Glacés hineingelegt, die sie für ganz besonders elegant hielt. Nun war es ein »höchst nobles« Geschenk.

Erst als die Lampe zu schwelen anfing, und es in den Wänden des alten Hauses so geheimnisvoll zu knistern und zu knacken begann, als ob das graue Haus auch Weihnachtsüberraschungen vorbereite, kroch Lotte mit einem furchtsamen Blick in alle vier Ecken schnell ins Bett.

Am nächsten Tage war des Großonkels Zimmer verschlossen. Nur Heinz hatte Zutritt. Er hatte sich von ihm den Türschlüssel geben lassen, damit die Mädchen ihm nicht nachspüren konnten.

Am Nachmittag war auch die Zelle für alle Nichtinsassen verriegelt. Hanni hatte zuerst ihren Aufbau auslegen müssen und ihn dann mit großen Papierbogen fest zugedeckt.

Marlene und Lotte spannen Silberfäden durch das grüne Nadelkleid.

Schneeweiß und Rosenrot mußten an Eidesstatt versichern, kein Zipfelchen zu lüften, dann erst ließ sich die Kleine gutwillig aussperren. Niemand, auch Hanni nicht, sollte den Weihnachtsbaum vorher sehen. Marlene und Lotte spannen mit helleuchtenden Augen die blinkenden, rieselnden Silberfäden durch das grüne Nadelkleid, nur Silber und Lichter. Lotte war eigentlich für buntes Zeug, aber Marlene setzte diesmal ihren Willen durch. Lotte mußte der Schwester schließlich auch recht geben, so edel und feierlich sah das Bäumlein aus. Was bloß der Großonkel dazu sagen würde?

In allen Zimmern des grauen Hauses gab es rege Geschäftigkeit. Nur Hanni stand, ängstliche Erwartung im Herzen, allein im Dunkeln. Still und leis, wie überall, kommt die heilige Nacht durch die Straßen der Großstadt gegangen; Wagengerassel und Straßenlärm übertönen ihre Schritte. Nur die aufhorchenden Kleinen vernehmen ihr Nahen.

Marlene und Lotte gesellten sich endlich zu dem Schwesterchen. Mit flüsternder Stimme erzählte Marlene von früher, von den Weihnachtsabenden im Elternhause, wenn der Christbaum vom Fußboden bis zur Decke emporgeflammt war.

Da – die Stubentür tat sich plötzlich lautlos auseinander – ein strahlender Weihnachtsbaum funkelte von der Erde bis zur Stubendecke hinauf. Die Mädchenaugen schlossen sich geblendet, aber die Herzen öffneten sich weit. War die Vergangenheit wieder lebendig geworden?

Nein, statt ihres Väterchens stand der Großonkel neben dem Baum, und der schimmernde Weihnachtsschein tauchte seine strengen Züge in ein mildes Licht. Am Klavier aber, wo ihr Mütterchen einst gesessen, saß Vetter Heinz und ließ den Weihnachtssang unter seinen Händen hervorquellen. Das Instrument, das der Großonkel stets verschlossen hielt, hatte heute abend seine Sprache wiederbekommen!

Die drei Schwestern freilich erlangten vorläufig die ihre noch nicht wieder; die standen ganz benommen vor der ihnen überreich erscheinenden Geschenktafel. Praktische Sachen waren es zumeist, Wäsche, Stiefel, Hausschürzen und dergleichen. Aber daneben – Lotte wagte gar nicht sich zu nähern – die entzückendste Spitzenbluse, die je ein putzsüchtiges Mädchenherz sich erträumt! Auf Marlenes Platz lag genau dasselbe, Hanni jedoch griff jubelnd nach der großen Lockenpuppe, die statt einer Bluse auf ihrem Platz thronte.

»Onkel Heinz – das warst du!« Hanni wollte schmeichelnd dem jungen Mann um den Hals fallen, der aber schob sie zum Großonkel.

»Alles stammt von dort – ich bin unschuldig – ich konnt' dem Onkel den Weihnachtsbaum ja gar net groß genug einkaufen, und die Spitzenblusen waren ihm noch lang net schön genug,« log er mit lachendem Munde.

Der Onkel drohte ihm, doch es zuckte belustigt um seine Mundwinkel.

Marlene und Lotte durchschauten den Spaß. Hanni aber kletterte in ihrem Glücke – eins, zwei, drei – auf Großonkels Rohrstuhl, der vor sorglosen Kinderfüßen stets ängstlich gehütet wurde, und da hing sie dem Großonkel am Hals.

»Onkel Heinrich, ich danke dir für die schöne Gelenkpuppe und für das feine Märchenbuch, ach, und für den Stickkasten und den Weihnachtsbaum – und ich will auch von nun an ganz gewiß brav in der Schule sein,« flüsterte sie ihm ins Ohr.

Dem alten Mann wurde es wunderlich zumute; er fand nicht den Mut, dem Kinde seinen Glauben zu nehmen. So war ihm vor vielen Jahren die Mutter der drei Kinder am Heiligabend jauchzend an den Hals geflogen – lang, lang war's her!

Auch Marlene und Lotte drückten dankbar einen Kuß auf die runzlige Hand des Großonkels. Vetter Heinz aber stand daneben; sein Gesicht erstrahlte in inniger Befriedigung.

»So, nun komm' ich dran,« sagte er, zog aus einer Tasche drei kleine Schächtelchen und überreichte sie den Schwestern. In Marlenes Kästchen blitzte ein goldenes Armband, der überraschten Lotte blinkte ein Ring mit blauen Steinchen entgegen, und Hanni fand ein zierliches Medaillon in dem ihren. Wie erstarrt standen die drei vor ihrem Schatz.

Endlich brach Lotte mit einem seligen »Ach, der ist ja viel, viel zu schön für meine roten Finger« den Bann.

»Das hast du mir mit gutem Grund verheimlicht, weil ich es sonst sicherlich verboten hätte, du Verschwender,« schalt der Onkel.

»Wenn du nun erst wüßtest, was unter der Watte noch liegt,« neckte der Neffe.

Die drei Mädel rissen die Wattenlage empor. Ein Theaterbillett – ein richtiges Theaterbillett! Jetzt gab es kein Halten mehr.

Von Hanni bekam der Vetter einen Kuß, Marlene und Lotte schüttelten ihm fast den Arm aus dem Achselgelenk. Ein Billett fürs Schauspielhaus zur »Jungfrau von Orleans«, aber erst für den fünften Januar, »damit ihr auch im neuen Jahr noch einmal an den Vetter Heinz denkt«.

Lotte stieß Marlene an, und diese Hanni.

»Los!« kommandierte Lotte. Sie machte dem Großonkel, da Marlenchen sich nicht recht an ihn herantraute, einen tiefen Diener und bot ihm ihren Arm. Marlene tat dann dasselbe bei Vetter Heinz, und Hanni marschierte mit Fran Tann als letztes Paar hinterdrein. So zog man zur »Zelle«.

Die war kaum wiederzuerkennen. Goldene Lichter zauberte das brennende Tannenbäumchen auf ihre kahlen Wände.

Marlene hielt den Atem an; was würde der Großonkel sagen?

»Eure Mutter hat sich auch stets einen Baum in ihrem Stübchen geputzt,« sagte der, in Erinnerungen versunken. Wie aus weiter, weiter Ferne schien seine Stimme zu kommen.

Hannis Aufbau erzielte entschieden die größte Wirkung, wenigstens auf die Lachmuskeln. Sie hatte Vetter Heinz ein blutigrotes Schnupftuch von gewaltiger Größe verehrt, auf dem die Schlacht von Sedan aufgedruckt war. Frau Tann erhielt leuchtendgrüne Pantoffeln oder »Latschen«, wie sie auf dem Weihnachtsmarkt hießen. Für Marlene war ein Fläschchen Universalkitt bestimmt, »damit Frau Tann es nicht merkt, wenn sie mal etwas entzwei schlägt«, und Lotte hielt beglückt »Nauke aus dem Kasten« im Arm. Den Rest des Geldes aber hatte die Kleine einem armen blinden Mann zu Weihnachten geschenkt.

Das wurde ein fröhlicher Heiligabend! Der Großonkel wickelte mit beifälligem Gebrumm seine gichtigen Glieder in die schöne warme Decke; Fran Tann überschlug erfreut, daß sie eine Hausbluse und den Festkuchen sparen würde.

Vetter Heinz aber ließ sein Schnupftuch wie eine Fahne in der Luft umherflattern, zog sich die Kanarienhandschuhe, die viel zu klein waren, auf die Zeigefinger und steckte sich mit Todesverachtung eine von Marlenes Zigaretten an. Denn er pflegte überhaupt nicht zu rauchen. Lottes sinnige Handarbeit aber verschuldete es, daß der Vetter draußen auf dem Korridor plötzlich die Hand ergriff, die sich für ihn gemüht hatte, und an die Lippen zog – – –

Die Weihnachtslichter waren hinuntergebrannt, und der Weihnachtsgast gegangen. Die Mädel hatten ihre Geschenke und ihre Pfefferkuchen vor ihrem Bett aufgestapelt. Müde von allem Freuen schlossen sich die Augen.

Aber noch war Knecht Ruprechts Sack nicht ganz geleert; das graue Haus hatte noch seine Überraschung aufgespart. In solcher Weihnachtsnacht wird allerlei lebendig. Ein seltsames Knistern und Rascheln kam plötzlich aus einer Ecke.

»Wie schön das Tannenbäumlein rauscht,« dachte Marlene schon halb im Schlaf, während Lotte mißtrauisch die Ohren spitzte.

Das leise Geräusch wurde stärker – ein Arbeiten und Kratzen begann in der Wand – himmlischer Vater, was war das?

Jetzt kam ein Nagen und Bohren wie von einem spitzen Werkzeug. Kalk bröckelte – plumps, da war ein Etwas in das Zimmer gesprungen, und zugleich ein Jemand mit lautem Schrei aus dem Bett.

»Hilfe – Diebe!« rief Lotte mit angstgepreßter Stimme und machte mit zitternden Fingern Licht.

Marlene fuhr mit entsetzten Augen auf, und Hanni kletterte schutzsuchend zu ihr herüber.

Eng umschlungen erwarteten die drei mit klopfendem Herzen das Nahen des Eindringlings.

Nichts war indes von ihm zu sehen, nichts rührte sich; alles blieb still. Nur Frau Tann schnarchte nebenan unentwegt weiter.

»Er kann nur hinter dem Garderobenvorhang stecken,« flüsterte Marlene mit erblaßten Lippen, auf den sich bauschenden Vorhang in der Ecke deutend.

Lotte riß sich zusammen; sie fühlte sich als Stärkste der drei. Marlene und Hanni suchten sie vergebens zurückzuhalten. Kühn entschlossen packte sie die erste beste Waffe, die sich ihr bot – es war ein alter Stiefelknecht – schwang ihn kriegerisch in die Lüfte und schritt bebend auf die Garderobe los.

Mit den äußersten Fingerspitzen lüftete sie das äußerste Zipfelchen des Vorhangs. Harmlos und unschuldig hingen ihre Morgenkleider darunter. Aber jetzt – zu ihren Füßen raschelte es! Lotte faßte ihren Stiefelknecht fester. Da sprang ein graues Wollknäuel ihr am Kopfe vorbei, lief die Gardine hinauf und war – wieder unten.

»Eine Maus – ach, nur ein Mäuschen!« rief Lotte erlöst.

Doch nun kam Leben in das erstarrte Marlenchen. Angstvoll raffte sie ihre Betten zusammen.

»Das ist ja noch tausendmal gräßlicher – mit einer Maus schlafe ich nicht in demselben Zimmer – ich wandere aus!« Eins, zwei, drei war sie mit ihrem Bettenpack hinaus, Hanni schreiend hinterher.

Lotte aber machte sich auf die Jagd. Eifrig lief sie hinter dem flinken Mäuslein her. Jetzt war dieses beim Weihnachtsbaum.

»Willst du wohl von unserem Pfefferkuchen fort!«

Nun ging es zur Waschtoilette. Im Mundspülglas saß es alsbald und schaute mit munteren schwarzen Äuglein hinaus.

Klirr, fuhr der Stiefelknecht auf das Glas. In tausend Scherben und Splittern zersprang das, doch das Mäuslein hopste vergnügt weiter.

Im Türrahmen erschien nun Frau Tann. Der Lärm hatte ihren gesunden Schlaf doch unterbrochen.

»Was ist denn das für ein Unfug bei nachtschlafender Zeit? Welch ein Lärm! Was geht hier vor?«

»Eine Maus – eine Maus –« Lotte fuhr eben mit dem Stiefelknecht unter den Schrank.

»Himmel, ihr tut doch gerade, als ob ein Elefant in eurem Zimmer wäre! Da laufen so große Mädchen vor einem winzigen Mäuschen davon – es ist wirklich zum Lachen! Leg dich in dein Bett! Die Maus tut dir nichts; die ist froh, wenn du ihr nichts tust.« Damit ging sie wieder.

Ja, Frau Tann hatte gut reden! Denn wie Lotte nun wirklich als Klügere nachgeben und ihr Lager aufsuchen wollte, da hatte die Maus inzwischen ähnliche Neigungen verspürt. In Lottes Kopfkissen hatte sie sich weich und warm hineingekuschelt und schien nicht die Absicht zu haben, der rechtmäßigen Besitzerin zu weichen.

Da lief auch Lotte hinter Marlene und Hanni drein. Eine Maus im Bette, dem konnte auch der mutigste Mensch nicht standhalten!

Im Eßzimmer wurde das Feldlager aufgeschlagen. Marlene und Lotte drängten sich auf dem Sofa zusammen, Hanni lag wie ein Igel zusammengerollt im Schaukelstuhl. Wie zerschlagen waren ihnen danach die Glieder. Das Mäuslein aber, die graue Bewohnerin des grauen Hauses, schlief sanft und friedlich in Lottes Bett.

Auf dem Tisch in der Zelle, da stand das Tannenbäumlein und schüttelte verwundert sein grünes Haupt über die furchtsamen Mädel und die merkwürdigen Weihnachtsgäste.


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