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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Jugend von heute

Jahre kamen – Jahre gingen und hinterließen dem Schicksalsbaum der Menschheit ihre Jahresringe. Fortschritt in der Kultur, Fortschritt auf jedem Gebiet zeigten sie an. Was das neunzehnte Jahrhundert gesät, wurde im zwanzigsten schnittreife Ernte.

Unter der Erde, unter den Wassern, durch die Lüfte trieb der elektrische Motor das Fahrzeug. Was menschlicher Phantasie kaum vorstellbar gewesen, war Wirklichkeit geworden.

Frauenfrage wurde Frauenbewegung, Frauenrecht. Neue Frauen, ein im Denken geschultes Geschlecht, luden die Lasten der einstigen Bahnbrecherinnen auf ihre jungen Schultern, erweiterten die Kreise der Pflichten.

Menschen kamen – Menschen gingen und wurden Träger, Überlieferer neuer Kulturwerte; bis die Sonne der Kultur eines Tages ihr Antlitz verhüllte, um nicht mitansehen zu müssen, wie das, was in Jahrhunderten mühevoll Stein um Stein errichtet worden war, zusammenstürzte, von Völkerhaß niedergerissen, niedergestampft, um nicht sehen zu müssen, wie ihre technischen Errungenschaften zum grausigsten Völkerbluten dienten, das die Erde je getränkt.

Für die Frau aber, für die Mutter und Gattin, die um den fernen Sohn, um den Gatten zagte, ihn beweinte, bedeutete diese finstere Epoche der Weltgeschichte ein Sichentfalten ungeahnter Kräfte. Überall, wo der Mann fehlte, füllte die Frau den Platz aus. Körperliche und geistige Arbeit leistete sie. Seelische Kraft brachte das »schwache Geschlecht« auf, allen Entbehrungen, allen Enttäuschungen, allen wirtschaftlichen Schwierigkeiten Trotz bietend.

Und als endlich wieder Zeiten des Friedens, des Aufbaus kamen, da war die Frau mit am Werk, mit linder Hand soziale Wunden heilend, mit starkem Willen den Platz, den sie errungen, behauptend.

»Durch, Mutti! Durch, alle sechse! Fünf mit Gut, eine mit Genügend,« rief Lotte.

Ein anderes Geschlecht war es, das die Jahre des Weltkrieges, des wirtschaftlichen Verfalls gezeitigt hatte, sportgestählt, arbeitstüchtig, arbeitsfreudig und seiner selbst bewußt, jeder ein Baustein an dem neu zu errichtenden Tempel des Völkerfriedens. –

An dem der Frühlingsonne weitgeöffneten Fenster einer von Kiefern umhegten Grunewaldvilla saß eine weißhaarige Frau, eine alte Frau mit merkwürdig jung leuchtenden Augen. Klar und scharf waren diese tiefblauen Augen, gütig und verstehend. Ohne Brille lasen sie noch. Ein Heft war es, ein Schulheft, auf dessen mit festen Schriftzügen bedeckten Seiten sie ruhten. Die Großmama studierte den mit einer Eins gewerteten Aufsatz ihrer jungen Enkelin.

»Ist die Todesstrafe berechtigt?« Ein merkwürdiges Thema in der Untersekunda! Viele Aufsatzthemen hatte Frau Fränze im Laufe ihres langen Lebens zu sehen bekommen, zuerst die eigenen in der Möbusschen Schule, als sie selbst noch ein fünfzehnjähriges Mädchen mit den zur Brezel gesteckten Backfischzöpfen gewesen war. Damals waren abstrakte Themen beliebt: »Dienen lerne beizeiten das Weib!« aus Hermann und Dorothea oder »Die Schillersche Glocke – das Leben des Menschen«. Mit wahrer Begeisterung hatte sie diese Aufgaben gelöst. Später dann, als ihre Tochter Lotte so weit war, gab es meist Charakterstudien: »Elisabeth und Maria Stuart« oder »Wallensteins Charakter in der Geschichte und im Drama«. Oh, Frau Fränze besann sich noch auf alle! Ihr Gedächtnis hatte noch nicht gelitten. Jede Einzelheit ihres nun schon sechsundsiebzigjährigen Lebens war ihr noch gegenwärtig.

Wie mochte sich die Enkelin, die Illa, zu diesem Thema stellen? Sie selbst wäre als ideales junges Mädchen sicher für Abschaffung der grausamen Todesstrafe eingetreten, aber das heutige Geschlecht stand auf realem Boden.

Voller Interesse begann sie zu lesen. »Rückständiges Mittelalter scheint die Todesstrafe auf den ersten Blick. Sie schneidet dem Verbrecher jede Möglichkeit zur Besserung ab. Irgend ein Funke des Guten lebt auch noch in dem verhärtetsten Bösewicht. Man muß ihn nur zu wecken verstehen, den Funken zur Flamme anblasen.« Also doch auch heute noch Idealismus der fünfzehn Jahre! Was schreibt sie denn weiter, die Illa? »Ein Schädling der menschlichen Gesellschaft soll erst ausgerottet werden, wenn er rückfällig geworden ist, wenn er gezeigt hat, daß eine Rückkehr in geordnete bürgerliche Verhältnisse nicht mehr möglich ist.« Aha, vom sozialen Standpunkt betrachtete Illa die Todesstrafe! Es war erstaunlich, wie sich heute die jungen Menschen mit ihrem ganzen Fühlen sozial einstellten. Schon in der Schule setzte die soziale Arbeit ein. Patenschaften hatten die Schülerinnen zu übernehmen an alten Leuten, an armen Familien, für die sie Sorge trugen. Die Großmama, selbst noch immer sozial wirkend, wußte von allem, hatte teil an allem, was das junge Geschlecht bewegte. Zu ihr fanden die Enkel oft über die Mutter hinweg den Weg, wärmeres Verständnis bei der Abgeklärten voraussetzend.

Illa, die jüngste von Lottes Terzett, war der Großmama ganz besonderer Liebling. Sie war ein Teil von ihr selbst, hatte Blut von ihrem Blute, war nicht nur äußerlich ihr Ebenbild aus Jugendtagen. Die geistigen und seelischen Werte, die sich Frau Fränze im Wechsel der Zeiten allmählich selbst geschaffen hatte – bei der Enkelin fand sie diese als innere Veranlagung wieder, die soziale Begeisterung sowohl wie die Begabung für Aufsätze.

Die alte Dame klappte das Heft zu. Immerhin bemerkenswert, daß man jetzt schon in den Schulen eigenes Urteil der weiblichen Jugend über staatliche Einrichtungen verlangte.

Sie wandte den Blick zum Fenster hinaus. Frühling wurde es wieder. Der Goldregen hatte bereits sein güldenes Tropfenkleid angelegt. Die Kastanien standen im weißen Blütenschnee. Wieviel Jahre, wieviel Jahrzehnte waren dahingegangen, seitdem sie als junge Frau im bescheidenen Nest alljährlich sich der Blüte im Kastanienwäldchen gefreut! Was hatten sie alles mit davongenommen, die Jahre! Einen nach dem andern. Immer enger ward der Kreis um sie herum.

Ihr treuer Lebenskamerad ruhte nun schon so manches Jahr von ruhelosem Schaffen, von rastlosem Streben aus. Er hatte es noch erlebt, daß der Rundfunk, dem seine letzten Arbeitsjahre galten, Gemeingut der Völker, Kulturträger für alle Schichten der Bevölkerung wurde.

In der Grunewaldvilla erblühte ein neues Geschlecht. Ihre Tochter Lotte war nach Beendigung ihrer naturwissenschaftlichen Studien einem jungen Privatdozenten als Gattin nach Bonn gefolgt. Die Kriegsjahre hatten sie und ihre kleinen Kinder ins Elternhaus zurückgeführt. Ihren Mann mußte sie dem unerbittlichen Zerstörer so manchen Familienglücks, dem Weltkrieg, opfern.

Oh, es kostete der Opfer noch mehr! Walter, ihr Einziger, ihr Stolz, wurde mit seinem Flugzeug bei einem Erkundigungsflug in Feindesland abgeschossen. Der Mutter Hoffnung, daß er in Gefangenschaft geraten sei, daß er doch noch eines Tages zu ihr zurückkehren könne, hatte sich nicht bewahrheitet. So manches Jahr hatte sie hier am Fenster gesessen und nach dem Verschollenen ausgeschaut, bis sie gelernt hatte, ihr Auge von der Vergangenheit zu lösen, der Gegenwart und Zukunft wieder zuzuwenden, sich der Enkel zu freuen.

Junges Leben erblühte und umrankte den entblätternden Stamm. Das obere Stockwerk der Kruseschen Villa hatte Frau Lotte Becker mit ihren dreien inne. Wie gut, daß sie als Mädchen ihre Oberlehrerprüfung gemacht hatte! Jetzt war sie Studienrätin an einem Mädchengymnasium und ernährte ihre Familie. Sogar studieren lassen konnte sie ihre Kinder. Margot, die Älteste, war bereits stud. iur. Jugendrichterin wollte sie werden. Hans hatte sich der Medizin, die ihm vom Urgroßvater Kruse wohl im Blute lag, zugewandt. Illa, das Nestküken, studierte vorläufig noch Schulweisheit, um später die soziale Frauenschule zu besuchen.

Helle junge Stimmen klangen vom Garten zu der sinnenden alten Frau herauf. Dort unten auf dem Rasenteppich in der Maisonne turnten fünf gertenschlanke junge Mädchen in schwarzen Badetrikots. Barfuß waren sie und trugen kurzgeschnittenen Bubikopf. Sie trieben rhythmische Gymnastik, entspannten die jungen Glieder, bogen die elastischen Körper, ließen jede Muskel spielen. Illa hatte heute ihre Freundinnen bei sich versammelt. Bevor man zum Tennisplatz ging, wurde im Freien geturnt.

Die Großmama sah dem anmutigen Spiel im Sonnenlicht zu und – lächelte. Nie war es ihr klarer geworden, wie sich die Zeiten, wie sich die Jugend verändert hatte, als in diesem Augenblick. Wenn sie an ihr eigenes Backfischkränzchen dachte, an das Maienkränzchen, wo man im Reifrock, mit Backfischzopf und gewickelten Löckchen, mit dem Strickstrumpf bei Kaffee und Kuchen gesessen! Ihre Mutter, Madam Doussin, müßte die Jugend von heute sehen! Entsetzt wäre sie über den Mangel an Anstand, daß die Mädchen ohne Kleider turnten, noch dazu im Freien, daß sie zum Wintersport in Hosen einhergingen. Wie hatte man die Töchter früher vor jedem Luftzug in Watte gewickelt!

Das Maienkränzchen – sechzig Jahre war es jetzt her, daß es gegründet ward. Verwelkt waren die Maiblüten, eingegangen zum Teil. In Weimar hatte Eva Nikolai die Unterernährung, die Unruhe und Aufregungen der Kriegsjahre nicht überstanden. Sie hatte keine körperliche und seelische Widerstandskraft mehr besessen. Gustchens vollblütigem Dasein hatte ein Schlaganfall ein frühzeitiges Ziel gesetzt. Martha, la Tedesca, hatte als Deutsche in Italien schwere Zeiten durchlebt. Der italienische Staat hatte ihr Eigentum konfisziert. Sie selbst mußte flüchten und lebte jahrelang in der Schweiz. Als sie es nach Friedenschluß endlich durchgesetzt hatte, wieder auf ihrem Grund und Boden wohnen zu dürfen, konnte sie sich nicht lange mehr dessen erfreuen. Die große Zypresse, der Wächter ihres Malerwinkels, bewacht jetzt ihr fernes Grab.

Frau Fränzes Blick glitt zu einem Ölgemälde drüben an der Wand. Da war sie, die herrliche Zypresse vor dem weißen italienischen Säulenhause hoch oben in Vignen und Ölbergen: Marthas Hochzeitsgabe.

Auch mit den übrigen Freundinnen kam man nicht mehr oft zusammen. Ihre Schwägerin Hanna war die einzige, die Frau Fränze außer Schwester Klärchen regelmäßig als ihren Sonntagsgast sah. Doktor Hanna Kruse hatte sich von der Praxis zurückgezogen, arbeitete nur noch an der Klinik für Ärztinnen, für den Bund Deutscher Frauenvereine, war noch immer eine Stütze der verschiedenen Frauenorganisationen. Seitdem die Frauen in der Republik das Wahlrecht erhalten hatten, war sie ungeachtet ihrer Jahre auch noch politisch tätig.

Auch Lisabeth, die Vertraute der Jugendjahre, sah Frau Fränze nur selten. Nach einem arbeitsreichen Leben fesselte jetzt ein Knieleiden die Freundin an den Rollstuhl. Frau Fränze war auch nicht mehr so gut auf den Füßen; es bedeutete für sie einen Entschluß, wenn sie ihren Garten verließ.

Als altes Stiftsfräulein in einem Stift ehemaliger Offiziersdamen machte Änne Wilke immer noch Handarbeiten. Sie kam hin und wieder zu Frau Fränze. Statt wie früher aus der Hofgesellschaft, brachte sie Klatschgeschichten aus dem Stift mit.

Nur mit Mariechen Küttner in Neu-Trebbin hatte Frau Fränze trotz der Entfernung den engsten Zusammenhang. Das treue Mariechen schrieb unentwegt, zu jedem Geburtstage, zu jedem Feste. Sie schickte im Mai den weißesten Spargel im Frühlingsblumenkranz vom Gut und zum Herbst die schönsten Gravensteiner Äpfel. Während der Kriegs- und Inflationsjahre hatte sie getreulich dafür gesorgt, daß die armen Freundinnen in der Stadt nicht Not leiden mußten. Regelmäßig kamen die Butter- und Fleischpakete an Frau Fränze an, die diese dann unter den Maienkränzlerinnen verteilte. Ja sogar selbstgebackenes Brot von eigenem Korn hatte sie mitgeschickt, damit das junge Geschlecht nicht das tägliche Brot nach Grammen zugeteilt bekäme. Eine treue Seele war und blieb es doch immer, das brave Mariechen!

»Oma – Omachen, woran denkst du? Du hast eben ein Gesicht gemacht, als wenn du wieder einmal Briefe aus deiner Jugendzeit läsest. Habe ich recht geraten?« Unten, mitten in der goldenen Maisonne, stand die Illa im Badetrikot, den kurzgelockten, hellbraunen Bubenkopf mit den veilchenblauen Augen zu Großmamas Erkerfenster gerichtet.

»Danebengeraten. Einen sehr interessanten Aufsatz habe ich gerade studiert.« Großmamas feinaderige Hand hielt das Heft hoch.

»Und dabei machst du solch unmodernes, wehmütiges Gesicht, Omachen? Ich habe doch weiß Gott den Stoff nicht sentimental behandelt! Hör lieber ein bißchen Radio! Ein famoser Jazz wird heute nachmittag gespielt.«

»Jazz! Kind, ich kann den modernen Tänzen keinen Geschmack abgewinnen. Es ist gar keine Melodie drin, klingt alles wie Indianerradau. Ein Straußscher Walzer, wie in meiner Jugendzeit, das ist doch was ganz anderes!«

»Aufgelöstes Gefühl, Oma. In den jetzigen Tänzen steckt Kraft. Na, heute kannst du noch in deiner Jugendzeit schwelgen. Der Rundfunk bringt ›Wie einst im Mai‹.« Der Rundfunk spielte jetzt eine wichtige Rolle im Leben der Großmama.

»Wie einst im Mai!« wiederholten die alten Lippen. Und während die Enkelin den Freundinnen auf den zum Garten gehörenden Tennisplatz nacheilte, tauchte so manches Maienkränzchen vor Frau Fränzes rückwärtsgleitendem Blick auf. Ein Wunsch wurde wach: noch einmal Maienkränzchen mit den alten Freundinnen zu halten »wie einst im Mai«, sie alle wiederzusehen, die treuen Seelen, soweit dies noch möglich war.

Frau Fränzes Hand griff nach dem Schreibtischkalender. Wann fiel denn diesmal der Pfingstsonnabend? Auf den 31. Mai, den letzten Tag des Mais. Ja, da sollte das sechzigjährige Bestehen des Freundschaftsbundes begangen werden.

Als Illa, nachdem die Freundinnen gegangen waren, erhitzt vom Tennisspiel, den Kopf in Omas Zimmer steckte, um sich ihr Heft zu holen, saß die Großmama am Schreibtisch. »Schreibst du wieder, Omachen?« Es kam nur noch ganz selten vor, daß Frau Fränze schriftstellerisch tätig war. Sie überließ das jetzt Jüngeren.

»Briefe, Herzchen, Einladungen an meine Jugendfreundinnen. Ich möchte sie alle noch einmal wiedersehen ›wie einst im Mai‹. Am Pfingstsonnabend soll das Jubiläums-Maienkränzchen bei mir stattfinden. Sechzig Jahre besteht es nun schon.«

»Blendend, Oma! Ist das eine famose Idee – einfach knorke! All die verwelkten Maiblümchen – Ach, muß das ein komischer Anblick sein!«

»Ich denke es mir mehr rührend, wehmütig, Illa. Aber die moderne Jugend kennt ja keine ›Sentimentalität‹.«

»Verzeih, Omachen! Ich wollte dich wirklich nicht kränken. Wie freue ich mich auf dein Maienkränzchen! Mit Enkelkindern, ja, Oma? Alle mit ihren Enkeln? Tante Mariechen aus Neu-Trebbin kenne ich nur von ihren ulkigen Briefen und den herrlichen Sendungen her. Du wolltest immer mal mit uns hinfahren. Sie kommt doch bestimmt?«

»Es wird nicht so einfach sein, das gute Mariechen von ihrem Stübchen und ihrem Garten loszueisen. Vielleicht war es sogar noch leichter, sie damals mit der Postkutsche nach Berlin zu befördern, als jetzt«, überlegte die Großmama lächelnd.

»Eigentlich müßte sie jetzt im Flugzeug herkommen«, entgegnete Illa lachend.

»Im Flugzeug – Mariechen Dorfmüller!« Unwillkürlich gebrauchte Frau Fränze wieder den Mädchennamen. »Eher mache ich eine Reise nach dem Mars. Ich glaube, man bekommt sie nicht einmal in ein Auto hinein. Aber nun mach, daß du dich anziehst, Kind! Du holst dir einen Schnupfen.«

»Ich – einen Schnupfen? Schnupfen ist ganz unmodern. Ich bin vom Wintersport und von den Luftbädern abgehärtet. Omachen, heute haben wir im Schülerrat beschlossen, bei unserer Direktorin vorstellig zu werden. Wir lernen bei Fräulein Doktor Müller nicht genug in Bürgerkunde.« Alles, was Illa auf dem Herzen hatte, wurde bei der Großmama abgeladen.

»Ihr wollt vorstellig werden, ihr? In meiner Jugend war das umgekehrt. Da hat sich der Lehrer über die Schüler beklagt, wenn nicht genug gelernt wurde. Manchmal scheint mir die heutige Welt wirklich auf den Kopf gestellt.«

»Und dabei ist meine kleine Oma trotz der Vorliebe für Straußsche Walzer doch eine ganz modern denkende Frau«, rief die junge Enkelin lebhaft, die Großmama umarmend. »Bis auf den Bubenkopf, den du dir noch immer nicht schneiden lassen willst.« Illa lachte schelmisch. »Und du würdest damit einfach fabelhaft aussehen mit deinem schönen weißen Haar! Tante Hanna ist in dieser Hinsicht viel moderner.«

»Die war immer radikaler. Schon als junges Mädchen hat sie den alten Zopf abgeschnitten. Ich bin nun mal von Anno Tobak her, mein Herzchen. Aber nun mach endlich, daß du in die Kleider kommst!«

»Da habe ich auch nicht viel mehr an als jetzt.« Die Tür flog hinter dem Wildfang zu und machte die Ruhe, die nun wieder in Großmamas Zimmer herrschte, doppelt fühlbar.

Aber der angefangene Brief an die Jugendfreundin in Neu-Trebbin blieb noch eine ganze Weile liegen. Nachdenklich blickte Frau Fränze in das maigrüne Buschwerk vor ihrem Fenster. Wieder klafften Gegensätze zwischen Jugend und Alter, genau so wie vor sechzig Jahren, vielleicht nur mit dem Unterschiede, daß das Neue früher von den Alten glatt abgelehnt wurde, während das jetzige alte Geschlecht sich bemühte, Schritt zu halten mit der fortschreitenden Zeit, Verständnis für die Jugend aufzubringen, wenn einem auch manchmal etwas seltsam vorkam.

Während diese Gedanken auftauchten und sich formten, verwandelten sie sich auf dem weißen Bogen in krause Schriftzeichen, und als Frau Fränze die Feder aus der Hand legte, da war es keine Einladung zum Maienkränzchen an Mariechen Küttner in Neu-Trebbin geworden, sondern nach langer Zeit einmal wieder ein schriftstellerischer Erguß, ein Artikel über »Jugend von heute«.


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