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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Fräulein Doktor

Auch auf dem Schreibtisch bei Fräulein Doktor Hanna Kruse lag ein ähnliches goldgerändertes Kärtchen, als diese von ihren ärztlichen Besuchen zur Sprechstunde heimkam.

Am Rande von Berlin, da irgendwo draußen hinter dem Tiergarten, wo neben den idyllischen Häuschen von Charlottenburg über Nacht große Mietshäuser wie Pilze aus der Erde hervorschossen, hatte sie sich nach der mit »Gut« bestandenen Staatsprüfung als eine der ersten Ärztinnen Berlins niedergelassen. Das war durchaus nicht so einfach gewesen. Der alte Sanitätsrat Kruse wollte überhaupt nichts davon wissen, daß seine Tochter Praxis ausübte. Mit dem Studium hatte er sich ja abfinden müssen, aber er hatte die geheime Hoffnung gehabt, Hanna würde noch vor dessen Abschluß ihren wahren Beruf als Hausfrau und Mutter finden. Diese Hoffnung hatte sich nicht erfüllt. Hannas Gedanken gipfelten nur in ihrem Beruf. Sie dachte gar nicht daran, die Operationsschürze mit der Küchenschürze zu vertauschen. Daß man beides, ärztliche Praxis und hausfrauliche Pflichten, miteinander vereinigen konnte, das erschien damals zu Beginn der Ärztinlaufbahn noch als eine Unmöglichkeit. Auch hätten die Männer gar nicht den Mut aufgebracht, sich so ein gelehrtes Frauenzimmer, welches das Seziermesser handhabte, als Gattin zu wählen. Die meisten wollten ein deutsches Gretchen, eine gute Hausfrau – um's Himmels willen kein studiertes »Mannweib«. Hanna empfand das durchaus nicht schmerzlich; im Gegenteil, sie war stolz und glücklich, ihr Ziel erreicht zu haben.

Ziel? Eigentlich war sie erst am Anfang, denn jetzt fingen die Schwierigkeiten erst recht an. Kämpfe hatte es gekostet, nicht weniger hartnäckig als vor Jahren, als sie vom Vater Zustimmung und Geldmittel für ihre Niederlassung erhielt. An seiner Klinik sollte sie als Assistentin arbeiten, wünschte er; denn wer würde zu einem weiblichen Arzt gehen! Und wenn sie durchaus ihr Schild anmachen wollte, dann wenigstens unten an seinem Hause, wohin die Patienten zu kommen gewöhnt waren. Sie konnte ja erst einmal in seiner Sprechstunde assistieren und allmählich selbständiger in die Praxis hineinwachsen. Vielleicht gewöhnten sich mit der Zeit die Patienten an sie. Jedenfalls war dabei kein Risiko, und man machte sich nicht lächerlich. Schließlich, er war auch nicht mehr der Jüngste und hätte sich ganz gerne entlastet, sich nur auf einige Hausarztstellen beschränkt. Auf seinen Sohn Bernhard als Nachfolger war nicht zu hoffen. Der war Bakteriologe geworden und hatte nur wissenschaftliche Forschungen im Sinn.

Hanna aber wollte nichts davon hören, ihren »Laden«, wie der Vater es nannte, im väterlichen Hause zu eröffnen. Um's Himmels willen nicht wieder abhängig sein! Sich selbst, nur ihrer eigenen Kraft wollte sie ihre Existenz verdanken. Und trotzdem Tante Mathilde und Moppel auch meinten, der Weltuntergang sei gekommen, trotzdem die beiden sich darin einig waren, daß das emanzipierte »Hannchen« allenfalls in Dalldorf – der städtischen Irrenanstalt – als Ärztin praktizieren könne, nach einiger Zeit prangte an einem netten Hause in der Bismarckstraße ein weißes Schild, auf dem die Vorübergehenden mit Verwunderung, Kopfschütteln oder gar mit Spottlächeln lasen:

Dr. med. Hanna Kruse, prakt. Ärztin.
Sprechstunden morgens von 8-10 Uhr,
nachmittags von 4-6 Uhr.

Die Sprechstunden waren festgesetzt; aber in den drei netten Zimmern, welche die Wohnung der jungen Ärztin bildeten, war Hanna selbst geraume Zeit die einzige, die wartete. Patienten ließen sich vorläufig nicht sehen. Das Vertrauen des Publikums zu einem weiblichen Arzt mußte erst errungen werden.

Es gehörte Humor und fröhlicher Mut dazu, sich dadurch nicht niederdrücken zu lassen, sich trotzdem seine Arbeitsfreudigkeit zu erhalten. So schwer und enttäuschend hatte sie sich ihre Wartezeit doch nicht vorgestellt. Sie arbeitete in Frauen- und Kinderpolikliniken und gewann dadurch Zusammenhang mit dem Publikum. Man merkte: ein Fräulein Doktor versteht auch etwas.

Die ersten Patienten kamen, teils aus Neugier, teils aus Interesse. Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins waren es, die sich verpflichtet hielten, die gute Sache zu fördern. Auch die Freundinnen, Fränze allen voran, nahmen Hannas ärztliche Dienste in Anspruch, aber immer nur bei leichten Erkrankungen. Wenn es wirklich ernst war, vertraute selbst die fortschrittliche Fränze sich und ihre Familie doch lieber den bewährten Händen ihres alten Hausarztes und Schwiegervaters an. Sanitätsrat Kruse war in uneigennützigster Weise, wie es nur ein liebevoller Vater vermag, bemüht, seiner Hanna den schweren Weg ebnen zu helfen. Er übergab ihr Fälle zur Nachbehandlung, empfahl sie hier und da bei seinen Patienten, die aus dem Zentrum Berlins in die neue Gegend hinausgezogen waren; denn der Zug nach dem Westen hatte in Berlin eingesetzt.

Nun war Hanna Kruse schon seit einiger Zeit fest im Sattel. Sie hatte ihre Anhängerinnen, die auf sie schworen. Der alte Sanitätsrat kränkelte. Seine Tochter vertrat ihn. Man war allgemein von dem frischen Zug, der von dem Fräulein Doktor ausging, angenehm berührt. Selbst die unzugänglichen Patienten, die sie zuerst nicht allzu freudig empfangen hatten, nahm ihre ruhige, sichere Art, die der Frau ganz besonders gegebene Fähigkeit, sich psychologisch auf den Kranken einstellen zu können, gefangen. Da wurde nicht mehr zur Ader gelassen, keine Blutegel wurden mehr gesetzt, wie es der alte Sanitätsrat zu tun pflegte, nicht jede Kinderkrankheit wurde zuerst mit Wiener Tränkchen kuriert. Das Fräulein Doktor ging von modernen Gesichtspunkten aus. Sie war eine begeisterte Jüngerin der Kochschen Bazillenforschung, welche die ganze medizinische Wissenschaft aus dem alten, ausgefahrenen Gleis herausgeschleudert hatte.

Hanna betrat frisch und elastisch ihr Sprechzimmer. Auguste, die jahrelang im Kruseschen Hause gedient hatte, hielt ihrem Fräulein Doktor Haus. Hanna schrieb sich die inzwischen eingegangenen Bestellungen auf, warf einen flüchtigen Blick auf die Post – dazu war vorläufig keine Zeit – und öffnete die Tür zum Wartezimmer. Das Bild hatte sich verändert. Es empfing sie nicht mehr gähnende Leere; ihre Sprechstunden waren so gut besucht wie die der männlichen Kollegen.

Gewissenhaft fertigte das Fräulein Doktor ihre Patienten ab, ausschließlich aus Frauen und Kindern bestehend. Sie hatte schon ihre kleinen Freunde unter ihnen. Alle Mütterlichkeit, die in Hannas Wesen, wie in dem einer jeden Frau, lag, kam ihren kleinen Patienten gegenüber zum Ausdruck.

Erst nachdem der letzte Patient gegangen war, wurde das goldgeränderte Kärtchen aus Neu-Trebbin gelesen. Das gute Mariechen! Wie aus einer andern Welt, wie aus einem früheren Leben kam dieser Gruß. Was lag für Hanna alles zwischen dieser Jugendfreundschaft und ihrem heutigen Sein! Kampfzeit, Arbeit, unermüdliches Vorwärtsstreben – stark pulsierendes Leben. Und Mariechen saß immer noch beschaulich in Neu-Trebbin, wenn sie jetzt auch einen andern Garten bebaute, wenn sie auch die eigenen Gören statt der Geschwister beaufsichtigte. Etwas wundervoll Beruhigendes hatte die Vorstellung des gleichförmig dahinplätschernden Lebens dort auf dem Lande für die täglich neue Großstadtbilder der Krankheit, des Elends in sich aufnehmende Ärztin. Ja, wenn irgend angängig, mußte sie sich freimachen. Nicht nur eine körperliche Erholung, eine seelische Entspannung würde es für sie bedeuten, mit lieben, schlichten Menschen in Gottes Frühlingsnatur beisammen zu sein, wieder Fühlung zu bekommen mit all den andern Schulkameradinnen, mit denen man sich zum größten Teil auseinandergelebt hatte.

Pfingstsonnabend – Maienkränzchen. Das Fräulein Doktor freute sich darauf wie ein Kind auf die Weihnachtspuppe.

Da ging das Telephon. Es schrillte in Hannas seltene Muße hinein, riß sie aus ihrer nachdenklichen Stimmung. Sie trat zu dem Apparat an der Wand.

»Tante Mathilde, du bist es? Du wagst dich an das neue Telephon heran? Was ist denn da bloß geschehen, wenn du solche fortschrittlichen Anwandlungen zeigst?« scherzte Hanna.

Eine klägliche Stimme antwortete: »Ach, Hannchen, mir ist gar nicht so recht! Mein Kopf brennt, und dabei zittere ich vor Kälte an allen Gliedern. Ich denke, ich kriege wieder meinen Brustkrampf. Habe jedenfalls schon meine Baldriantropfen genommen. Aber es nützt nichts. Ich werde mich doch wohl legen müssen.«

»Was sagt denn Papa dazu, Tante Mathilde?« Hanna war nicht sonderlich erschreckt. Solange sie denken konnte, pflegte Tante Mathilde einen Brustkrampf zu befürchten. Wahrscheinlich hatte sie Ärger mit dem Mädchen gehabt.

»Papa – ach, der ist doch selbst gar nicht auf dem Posten! Sicher hat er sich erkältet. Die drei gestrengen Herrn im Monat Mai, die Eistage, sind gefährlich. Er wollte schwitzen. Rieke hat ihm Fliedertee gekocht.«

»Was, Papa nicht wohl? Habt ihr Bernhard rufen lassen?«

»Papa meinte, der versteht nichts von Menschen, nur von Bazillen und ähnlichem Ungeziefer. Und ich selbst, Hannchen, mir wäre es auch peinlich, mich von dem Jungen behandeln oder gar untersuchen zu lassen.«

Hanna unterdrückte ein Lächeln. Der »Junge« war in den Dreißigern und Familienvater. »Ich komme sogleich in die Stadt und werde nach euch sehen«, rief sie.

»Ach ja, Hannchen! Was meinst du, ob ich mal ein Brausepulver nehme?« Die Tante mußte sich wirklich nicht wohlfühlen, wenn sie sich an den ärztlichen Rat der Nichte wandte, von dem sie sonst nicht viel hielt.

»Warte, bis ich komme, Tante Mathilde! Ich nehme mein Rad; da bin ich schneller bei euch als mit der Pferdebahn oder Droschke.« Hanna drehte die Kurbel zum Schlußzeichen.

Dann vertauschte sie eilig das schwarze Reformkleid mit dem weißen Umlegekragen, das sie unabhängig von der Mode zu ihrer ständigen Uniform erhoben hatte, mit dunkelblauen Pumphosen, die bis über das Knie pufften. Nur bei größeren Entfernungen oder bei besonders eiligen Bestellungen gebrauchte Hanna das Rad in der Praxis. Es hatte sich noch nicht so recht eingebürgert. Eine Frau in Hosen auf einem Rade war eine Sehenswürdigkeit für die Berliner Straßenjugend. Aber Hanna fragte nichts danach, wenn es galt, irgendwo schnelle Hilfe zu bringen. Sie hatte es gelernt, sich über äußerliche Dinge hinwegzusetzen.

Wie Vogelflug ging es auf dem Rade die Charlottenburger Chaussee entlang. Bald stieg Hanna in der Poststraße vor ihrem Vaterhause mit dem runden Säulenvorbau von dem Stahlroß.

Das Fräulein Doktor betrat zuerst das Schlafzimmer des Vaters. Er litt an Herzerweiterung. Jede Unpäßlichkeit bei ihm machte ihr Sorgen, da der Pflichtgetreue nicht gewöhnt war, sich Schonung aufzuerlegen. Unter einem Berg von Federbetten vermutete sie den Vater. Sichtbar war nichts von ihm; bis über den Kopf lag er unter dem Bettenberg vergraben. »Tag, Papa! Ich bin's, die Hanna. Will mich mal nach dir umsehen. Wo fehlt's denn?« so rief sie mit erhobener Stimme, damit diese bis in die Unterwelt zu dem Vater dränge.

Ein unterirdisches Grunzen und Fauchen antwortete. Schließlich unterschied Hanna menschliche Worte: »Nett, daß du dich mal sehen läßt, mein Kind. Aber als Arzt kann ich dich nicht gebrauchen. Da helfe ich mir lieber allein.«

»Was fehlt dir denn, Papa?« Hanna war nicht beleidigt. Sie war es gewöhnt, daß man innerhalb der Familie ihre ärztliche Kunst nicht allzu hoch einschätzte.

»Leichte Erkältung oder Infektion. Durch das naßkalte Wetter der vergangenen Woche hat sich wieder Influenza hier und da bemerkbar gemacht. Leichter Schüttelfrost. Der wird durch Fliedertee und Schwitzen rasch verjagt.«

»Hm, soll ich nicht mal die Lungen abhorchen, Papa?«

»Untersteh dich! Ich für meine Person bin nun mal nicht für Ärzte in Unterröcken. Das überlasse ich andern.« So brummte und knurrte es aus der Tiefe.

»Wie hoch war die Temperatur?«

»Denkst du, ich werde bei mir messen?« Der alte Sanitätsrat wies diese Zumutung entrüstet von sich.

Das Fräulein Doktor wußte aus Erfahrung, daß der Vater ein ebenso schlechter Patient wie vorsichtiger Arzt war. Sie mußte seiner guten Natur vertrauen. Achselzuckend begab sie sich auf Station Numero II.

Tante Mathildes Biedermeierstübchen mit den hellen Nußbaummöbeln erinnerte an eine Zeit, da seine Besitzerin noch jung und blühend in dem Himmelbett mit den geblümten Vorhängen dem Leben entgegengeträumt hatte. Jetzt ruhte darin ein verhutzeltes Menschenkind, lang, schmal und dürr. Fieberrosen blühten auf dem pergamentnen Gesicht.

Vor dem Bett saß der altersschwache Moppel als getreuer Krankenwärter, die feuchten Hundeaugen prüfend auf seine kranke Herrin gerichtet. Kaum daß er das pflichtschuldige Begrüßungsgebell ertönen ließ, gedämpft und wohlerzogen, wie es sich in einem Krankenzimmer gehört.

»Guten Tag, Tante Mathilde. Wie steht's? Hast du irgendwo Schmerzen?« Auch Hanna blickte prüfend auf die Fiebernde und griff nach dem Puls.

Die Tante öffnete die geschlossenen Augen. »Hannchen, gut, daß du da bist! Ich fühle mich recht elend.« Plötzlich aber richtete sie sich jäh auf, steil und gerade. »Um's Himmels willen, Hannchen, bist du in Hosen hergekommen? Hast du vergessen, dein Kleid anzuziehen? Oder habe ich Fieber? Sehe ich das etwa nur im Fieber?« Sie fiel erschöpft wieder in die Kissen zurück.

»Du siehst ganz richtig, Tante. Es ist mein Radleranzug. Der Rock ist beim Radeln störend. – Aber nun will ich erst Temperatur messen.« Sie schob der Tante das Thermometer unter die Achseln. Moppel saß mit beobachtender Miene wie ein konsultierender Professor daneben.

Die Tante hatte wieder die Augen geschlossen, weniger aus Schwäche, als um nicht diesen unweiblichen und unmoralischen Anblick einer Frau in Hosen haben zu müssen, die noch dazu ihre Nichte war. Das Thermometer schnellte in die Höhe. Die Tante hatte in der Tat hohes Fieber.

»Jetzt werden wir mal die Lungen untersuchen.« Hanna richtete die Tante auf, um ihr die Barchentnachtjacke zu öffnen. Aber sie stieß auf Widerstand.

»Nein, Hannchen. Alles, was recht ist, aber das gehört sich nicht. Die Jugend wirft alle Sitte, allen Anstand über den Haufen.« Dabei ächzte und stöhnte sie. Moppel begann zu knurren. Er schien ganz ihrer Ansicht zu sein.

»Ja, Tante, dann müssen wir einen fremden Arzt rufen. Du bist krank und mußt unbedingt untersucht werden«, redete Hanna ihr zu.

»Du siehst ganz richtig, Tante. Es ist mein Radleranzug. Der Rock ist beim Radeln störend. – Aber nun will ich erst Temperatur messen.«

Einen fremden Arzt – dann schon lieber Hannchen. Mit geschlossenen Augen fügte sich die Tante in das Unvermeidliche. Die Untersuchung ergab rasselnde Geräusche an einer Stelle der rechten Lunge, die auf eine beginnende Lungenentzündung hinwiesen. Der dürre Körper brannte wie Feuer.

»Wir werden eine kalte Brust- und Rückenpackung machen, Tante Mathilde, die alle drei Stunden erneuert werden muß«, ordnete Hanna an.

»Eine kalte – was? Um des Himmels willen, ich kann die Umschläge nicht heiß genug bekommen, wenn ich meinen Brustkrampf habe! Willst du mich umbringen?« wimmerte die Tante.

»Ja, Tante Mathilde, entweder du fügst dich meinen Anordnungen oder du verzichtest auf meine Behandlung.« Das klang so bestimmt, daß Moppel feindselig dazwischenzublaffen begann. »Der Hund muß hinaus. Hunde gehören nicht ins Krankenzimmer.« Die Abneigung, die seit Jahren zwischen Hanna und Tante Mathildes Abgott bestand, verschärfte sich. Das Fräulein Doktor und Moppel maßen sich beide mit feindlichen Blicken. Dann verkroch sich der Mops unter dem Bett.

Mit leichter, gewandter Hand setzte die Ärztin umsichtig ihre Anordnungen in die Tat um. Ehe Tante Mathilde es sich versah, war sie mit einem erschreckten Aufschrei fest in ein nasses Handtuch, ein wärmendes Flanelltuch darüber, gewickelt. Bald empfand sie die kühle Feuchtigkeit an dem heißen Körper angenehm.

»Ich schicke eine Krankenpflegerin; Rieke versteht das nicht. Ich selbst muß noch zwei andere Besuche machen. Morgen wirst du dich hoffentlich besser fühlen, Tante Mathilde.« Liebevoll, wie Hanna es nie der Tante gegenüber gewesen, strich sie ihr über die heiße Stirn. Ob die Kranke diese Liebkosung empfand? Sie öffnete die Augen nicht. Im Fieberwahn sah sie Gestalten, Frauengestalten mit Männerhosen und abgeschnittenen Haaren. Diese Vorstellungen quälten sie sehr.

Als Hanna noch einmal beim Vater vorsprach, war der Sanitätsrat bis zur Nase bereits wieder sichtbar. Er begann allmählich aus seiner Versenkung aufzutauchen und sich abzukühlen. Vorläufig dampfte er noch und glühte wie ein Plättbolzen.

»Beginnende Pneumonie bei Tante Mathilde, Papa. Am rechten Mittellappen hört man deutliches Rasseln. Temperatur über neununddreißig. Ich habe Packungen verordnet. Wir müssen eine Pflegerin nehmen.«

»Eine nette Bescherung!« brummte es aus den Kissen. »Bin nicht für die Wasserpantscherei und den ganzen modernen Kram. Die Natur muß sich selbst helfen. Laß Rieke mit Holz Flackerfeuer im Ofen machen! Das ist für die Atmung besser als Kohlen. Und wenn durchaus eine Krankenschwester sein muß, schicke zu Schwester Anna! Das ist ein vernünftiges Weibsbild. Ich sehe gleich selbst nach der Tante.« Der alte Herr schien nur auf Hannas Hinausgehen zu warten, um seinem Bettenlabyrinth zu entsteigen.

»Nein, Papa, das dulde ich nicht, daß du aufstehst. Da kannst du dich nach dem Schwitzen noch mehr erkälten, als du es schon warst. Ich lege dir frische Wäsche und vor allem ein Frottiertuch hin, damit du die feuchte Haut gründlich abfrottierst. Und dann bleibst du heute ruhig im Bett. Wenn es morgen noch nicht besser ist, nimmst du auch morgen die Praxis noch nicht auf.«

Der alte Sanitätsrat lächelte belustigt. Sieh mal einer das Küken an, wie nachdrücklich es sich aufspielt! »Na ja«, brummte er, »das wird sich schon alles finden! Meinst wohl, wenn du in Hosen antrittst, kannst du dich bei deinen Patienten besser in Respekt setzen? Laß dir doch lieber gleich einen Vollbart wachsen wie die jungen Ärzte, um dir die nötige Würde zu geben!«

Hanna ließ sich die Neckereien des Vaters gern gefallen, ersah sie doch daraus, daß er sich wohler fühlen mußte. Sie ahnte allerdings nicht, daß ihr Patient, kaum daß sie den Rücken gewandt hatte, sich aus dem Bette erhob, ja, daß er nicht nur bei Tante Mathilde Krankenbesuch machte, sondern gewissenhaft noch der Nachtglocke nachkam, die ihn zu Patienten rief.

Als Hanna am nächsten Tage vorsprach, war der Vater schon längst wieder auf Praxis. Bei Tante Mathilde aber sah es weniger gut aus. Die Entzündung ging weiter. Ein Ringen und Kämpfen wurde es, um dieses schwache Lebenslicht, das zu verlöschen drohte, wieder zu entfachen. Hanna war unermüdlich. Keine Stunde war ihr zu spät. Der Hilflosen gegenüber kam bei Hanna die verwandtschaftliche Zuneigung, die sich durch die Gegensätze der beiden Frauencharaktere nicht hatte entwickeln können, zum Ausdruck. Als reifer Mensch sah sie es jetzt ein, daß die Tante in ihrer Art doch wohl ihr Bestes gewollt hatte, daß sie ihre Kräfte dem mutterlosen Hause still und bescheiden geopfert hatte. Sanft und liebevoll war Hanna mit ihr. Es war, als ob die Bewußtlose das in ihren Fieberdelirien empfände. Sie wurde ruhiger, wenn sich Hannas kühle Hand ihr auf die brennende Stirn legte. Selbst Moppel, der seine Mopsfülle aus Sorge und Gram einzubüßen begann, überwand seine Abneigung gegen Hanna, ja, er begrüßte sie sogar schwanzwedelnd.

So kam der Pfingstsonnabend heran. Der neunte Tag war es nach der Erkrankung der Tante. Man erwartete die Krisis, den Wendepunkt der Krankheit. So oder so mußte es sich heute entscheiden. Vergeblich hatte der Sanitätsrat Hanna zugeredet, sich den Freundinnen nach Neu-Trebbin anzuschließen. Sie brauchte ein Herauskommen, die Hanna. Blaß und übernächtig sah sie aus. Manche Nacht hatte sie die Pflegerin abgelöst und selbst bei der Tante gewacht. Aber Hanna war nicht dazu zu bewegen, die Pfingstfahrt anzutreten. Es war nicht nur ärztliches Pflichtbewußtsein, was sie zurückhielt, sondern warmes Empfinden für die Kranke.

Sie saß an ihrem Bett. Der Tante flatternden Puls in der Hand, zählte sie gewissenhaft Pulsschläge und Atmung. Die Fieberkurve, die sie gezeichnet hatte, strebte immer weiter empor. Hanna, die schon so oft dem Tode hatte ins Antlitz sehen müssen, wurde verzagt. Sie fühlte sich am Ende ihrer ärztlichen Kunst. Moppel hatte sich wie ein Häufchen Unglück unter einem Stuhl zusammengerollt. Von dort verwandte er kein Auge von der Kranken. Er war nicht aus dem Zimmer zu entfernen gewesen. Ob das unvernünftige Vieh es empfand, daß seine Herrin an der Schwelle zu einem Lande stand, in das er ihr mit all seiner Hundetreue nicht folgen konnte?

Die Pflegerin war in die Apotheke gegangen, etwas zu holen. Hanna war allein bei der Schwerkranken. Sie trat an das geschlossene Fenster. Gern hätte sie es der Frühlingsonne geöffnet; die Krankenstubenluft legte sich ihr beklemmend auf die Brust. Man war damals noch nicht für frische Luft in Krankenzimmern; ein geöffnetes Fenster galt für unvorsichtig.

Moppel wurde unruhig und stieß plötzlich in die Stille des Krankenzimmers ein gedämpftes Geheul aus. Hanna wandte sich erschreckt um, den Störenfried zu beruhigen.

Da lag die seit Tagen Bewußtlose mit geöffneten Augen in ihren Kissen. Auf ihrer Stirn perlten winzige Schweißtröpfchen. »Hannchen«, flüsterte sie leise und schloß aufs neue vor Schwäche die Augen.

Wie Engelgesang klang Hanna der seit ihrer Kinderzeit verhaßte Name ins Ohr. Die Tante hatte ihr Bewußtsein zurückerlangt und hatte sie erkannt. Der Schweiß war ein Zeichen der Krisis. Dem schon zur Mahd ausholenden Schnitter war das schwache Pflänzchen entrissen.

Seit diesem Tage verband warmes Verständnis, in schweren Stunden erstarkte Zuneigung die langsam Genesende und ihre treue Ärztin. Jede der beiden so Verschiedenen war bemüht, dem Wesen der andern Rechnung zu tragen.


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