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Vierundzwanzigstes Kapitel

Jahrhundertwende

Das Jahr der drei Achten hatte große Veränderungen über Deutschland gebracht. Dem greisen Kaiser war der todkranke Kronprinz auf den Thron gefolgt, um nach wenigen Monaten das Zepter in die Hand des dritten Herrschers zu legen. Nicht lange, da wurde Bismarck, die Eiche des Sachsenwaldes, von der Politik verdrängt. Da schüttelte mancher der Älteren, Besonneneren den Kopf: Wo wollte das hinaus – was sollte das werden?

Auf allen Gebieten der Wissenschaft sowohl als auch der Technik keimte und trieb es in den neunziger Jahren, entwickelte sich zur Reife. Die Elektrizität war die gewaltige Kraft, die den Kehraus mit der alten Zeit hielt, die Technik zu ungeahnter Entfaltung brachte.

Professor Bruno Kruse, einer der eifrigsten und begabtesten ihrer Jünger, hatte teil am großen Werke. Stolz war Fränze auf ihren Mann, der den Fortschritt unermüdlich fördern half. Die Vervollkommnung des Mikroskops hatte ihm die Auszeichnung des Professortitels gebracht.

Die Petroleumlampe, die Lichterkrone und Gasbeleuchtung, ja sogar das Auer-Gasglühlicht, das man für die Idealbeleuchtung hielt, mußten dem elektrischen Licht weichen. Überall, auf jedem Gebiet, blitzte der elektrische Funke auf, der gewaltige Strom, der alles den Fortschritt Dämmende niederriß. Wie mit einem Zauberschlage hatte er das alte Bild, das Gesicht der Welt verändert. In die Fabriken zog er ein, die Industrie zu nie gedachter Höhe hebend. In die Kliniken hielt er seinen Siegeszug, durch den Röntgen-X-Strahl ungeahnte Helle auf medizinischem Gebiet verbreitend. Was gab es noch Verborgenes, wenn das Innere des Menschen klar vor dem Auge des Arztes sichtbar wurde? Das Straßenbild war verändert. Nicht nur, daß die bescheidenen Häuschen aus Großvaters Zeiten großen Kauf- und eleganten Warenhäusern in Alt-Berlin hatten weichen müssen; durch die Straßen trotteten nur noch vor den Droschken und Omnibussen abgetriebene Gäule. Elektrischer Betrieb hatte den Straßenbahnverkehr umgewandelt. Ja sogar Selbstfahrer, Autos, tauchten auf, die dem biederen Bürger des neunzehnten Jahrhunderts wie Teufelspuk erschienen.

Berlin selbst hatte sich nach allen Richtungen hin gestreckt. Was früher vor den Toren ländlich-stille Umgegend gewesen, war längst lebhafte Verkehrsgegend geworden.

Als das alte Jahrhundert, das Jahrhundert der Naturwissenschaften, dem jungen Springinsfeld, dem Jahrhundert der Technik, Platz machen mußte, nahm es so manches mit sich. Das Säulenhaus in der Poststraße, Hannas Vaterhaus, leerte sich. Moppel war der erste, der hochbetagt dem asthmatischen Dasein, das nicht mehr viel Freuden für ihn aufwies, Valet sagte. Tante Mathilde überlebte den treuen Gefährten und Freund nicht lange. Still und unauffällig, wie sie ihr Lebtag gewesen, ging sie von dannen. Den alten Geheimrat Kruse, der nichts davon hören wollte, sich zur Ruhe zu setzen und zu einem seiner Kinder zu ziehen, sah man noch geraume Zeit in seinem schwarzen Gehrock und Zylinder zu einigen ihrem alten Hausarzt treugebliebenen Patienten durch die Alt-Berliner Straßen wandern, nicht mehr im eigenen Wagen; denn Lise und ihr Kutscher hatten sich schon vor ihrem Herrn zur Ruhe gesetzt, und der Groschen Straßenbahngeld, den er jetzt für jede Fahrt zahlen sollte, ärgerte den alten Herrn. Er mußte sich jetzt überhaupt über so manches ärgern, vor allem über die Dienstboten, die nichts mehr taugten, seit Tante Mathildes Oberaufsicht fehlte. Auch in der medizinischen Gesellschaft, in der er noch jeden Mittwochabend auftauchte, war vieles nicht nach seinem Sinn. Schutzimpfungen, Serumspritzen – die moderne Behandlungsweise behagte dem alten Arzt nicht. Himmel, im vorigen Jahrhundert waren auch Menschen geboren worden, lebten und starben ohne all den neumodischen Kram! Nur im Kreise seiner Kinder und Enkel war er noch heiter und zufrieden. Besonders mit den Enkelkindern machte er gern sein Späßchen. Der alte Geheimrat hatte auch Grund, sich seiner Kinder zu freuen. Alle hatten sie etwas erreicht. Bernhard hatte sich der Krebsforschung zugewandt und darin schon Beträchtliches geleistet. Hanna, als Ärztin längst nicht mehr eine Ausnahme, hatte sich für Röntgenologie spezialisiert. Sie war modern geworden und wurde von Patienten und Kollegen geschätzt. Am weitesten hatte es Bruno, sein Ältester, gebracht, sowohl wissenschaftlich als auch wirtschaftlich. Einen Lehrstuhl an der Technischen Hochschule hatte er ausgeschlagen; er wollte sich nicht durch Lehrtätigkeit zersplittern. Seine Zeit gehörte immer neuen Erfindungen und Verbesserungen. Seitdem die drahtlose Telegraphie über Ozeane hinweg Erdteile miteinander verband, hatten sich ihm neue Möglichkeiten, ein neues Arbeitsfeld erschlossen.

In einer Grunewaldvilla mit parkartigem, zum See hinabführenden Garten hatte Professor Bruno Kruse jetzt sein Heim. Dort versammelten er und seine noch immer anmutige Frau die Koryphäen der Wissenschaft und der Kunst. Gelehrte und Künstler bewarben sich darum, zu dem Kruseschen Kreis gezählt zu werden. Bei allen Wohlfahrtsbestrebungen stand Frau Fränze an der Spitze. Längst hatte sich ihre Sehnsucht nach dem Lande, wo die Zitronen blühen, erfüllt. Fast alljährlich war sie mit ihrem Manne auf der Reise nach dem Süden Gast bei Martha, la Tedesca, in der Malervilla, hoch über den Kirchen und Renaissancebauten von Florenz. Italien, Spanien hatten sie bereist, Paris und London kennengelernt; ja sogar über den Ozean nach Amerika waren sie geschwommen. Überall hatte der Professor seine elektrotechnischen Studien gemacht, während Frau Fränze Land und Leute studierte, ihren Horizont erweiterte und ihren Geist vertiefte.

Ihre Kinder waren inzwischen gut aufgehoben. Solange sie noch die Schule besuchten, wurde Walter bei den Geschwistern untergebracht; Lottchen gab man in Weimar im Nikolaischen Pensionat ab. Tante Eva war glücklich, Fränzes Töchterchen zu bemuttern. Aber aus Lottchen wurde eine Lotte, die ihren Kopf für sich hatte und wußte, was sie wollte. Sie wollte keins von den wohlerzogenen, langzöpfigen Pensionsgänschen sein, die eingeschnürt in Korsetts und hohen Stehkragen, die Rockschleppe in der Hand, schmachtend auf Goethes Spuren einhergingen. Tante Evas pedantische Art, die als Pensionsmutter noch mehr in die Erscheinung trat, verlachte die Backfischweisheit. Wie Tante Hanna wollte Lotte werden, studieren wollte sie und wie sie etwas Tüchtiges leisten.

Leichter als Tante Hanna hatte es Lotte Kruse schon. Sie hatte bereits ein Vorbild, dem sie nachstreben konnte; denn sie hatte eine einsichtsvolle, mit der Zeit Schritt haltende Mutter, die ihr auch beim Vater jedes Hindernis aus dem Weg räumte: denn begeistert war Professor Kruse, trotzdem er sich ja allmählich zur richtigen Wertung der Frauenarbeit bekannt hatte, doch nicht davon, daß sein Lottchen auch »unter die studierten Frauenzimmer« gehen wollte. Vor allem aber stand der jungen Lotte eine Frau als Führerin zur Seite, die hohe Geistes- und Gemütsbildung verband, die festen Willens, unbeirrten Schrittes den mühsamen Weg der geistigen Unabhängigkeit der Frau schritt. Das war Helene Lange, die dem pflichtenlosen Dasein, dem geistigen Müßiggange der meisten jungen Mädchen der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts einen lauten Weckruf entgegenstellte. Das waren die Real- und später die Gymnasialkurse, die diese bedeutende Frau zur gründlichen Durchbildung der damals meist nur oberflächlich gebildeten Mädchen zur Erweiterung ihrer Berufsmöglichkeiten einrichtete. Trotz allen behördlichen Schwierigkeiten, trotzdem ihre Kurse für alle Witzblätter, ja sogar für die Tagespresse die Zielscheibe des Spottes wurden, setzte sie ihre Ideen in die Wirklichkeit um. Eine ihrer besten Schülerinnen, die das Vertrauen, das man auf sie setzte, rechtfertigte, war Lotte Kruse. Sie war sich dessen voll bewußt, daß es darauf ankam, die Hoffnungen, die mit ihrer Leiterin die gesamten fortschrittlichen deutschen Frauen an die ersten weiblichen Gymnasiasten knüpften, nicht zuschanden werden zu lassen. Jedes der jungen Mädchen, die da in der Berliner Charlottenschule bei den »Gymnasialkursen für Frauen« sich voll für ihre Arbeit einsetzten, arbeitete nicht nur für sich, sondern für all ihre Mitschwestern, für die kommenden Frauengeschlechter. Eine schwere Verantwortung trugen sie, die jungen Gymnasiastinnen, die den skeptischen, spottsüchtigen, ablehnenden Männern und Behörden bewiesen, daß es der Frau ernst damit war, eine gründliche Durchbildung und Vertiefung ihrer geistigen Interessen beanspruchen zu können. Alle Kräfte wurden angespannt, um dasselbe zu leisten wie die Jungen der gleichen Gymnasialklassen. Sehr, sehr schwer war es für die zum klaren, logischen Denken noch nicht erzogenen Mädchen, die bisher hauptsächlich ästhetische Bildung genossen hatten, jetzt reale geistige Nahrung zu verdauen. Mathematik und Naturwissenschaften waren schwierigere Klippen als Latein und Griechisch; aber hoffnungsfroher Optimismus, der unbedingte Glaube an den Erfolg, den nur die Jugend kennt, straffes Zielbewußtsein halfen über alle Klippen hinweg.

So kam das Abiturium heran, das gefürchtete und doch ersehnte. Die jungen Bahnbrecherinnen für deutsches Frauenstudium sollten damit den Beweis bringen, daß die Frau die so vielfach bestrittene Fähigkeit zu gymnasialer Bildung besaß.

Lotte Kruse hatte der Mutter nicht verraten, wann der »Tag der Hinrichtung« stattfand. Frohgemut stieg sie in das Examen, ließ sich durch die Furcht der andern, sich vor einer gewiß voreingenommenen Prüfungskommission behaupten zu müssen, nicht beirren. Im Luisengymnasium fand die »Hinrichtung« statt.

Von sicherem Mutterinstinkt getrieben, irrte an jenem Vorfrühlingstage Frau Fränze herzklopfend durch die dem Luisengymnasium benachbarten Straßen. Sie fühlte sich ihrer Tochter innerlich so fest verbunden, daß sie auch ohne Mitteilung wußte: jetzt ist es so weit. Dort traf sie Helene Lange. Die beiden Frauen kannten sich von den Verbandsitzungen des Deutschen Frauenvereins. Jetzt bangten sie um die gleiche Sache, und doch in wie ungleicher Weise. Bei der einen war es rein persönliche Empfindung, mütterliche Sorge, bei der andern die Sorge für die Allgemeinheit, für die Frauenfrage, die jetzt ihre Lebensberechtigung und Lebensfähigkeit beweisen sollte.

»Gehen Sie heim, Frau Professor!« bat Helene Lange. »Vor den Abendstunden können wir das Ergebnis der mündlichen Prüfung nicht erfahren. Die schriftlichen Arbeiten der vergangenen Tage sind bis auf kleine Entgleisungen in der Mathematik befriedigend ausgefallen. Ich hege die feste Hoffnung, daß unsere Sechs, die wir heute ins Feuer geschickt haben, sich behaupten werden. Sobald ich Näheres weiß, gebe ich telephonisch Nachricht. Für Ihre Lotte ist es entschieden besser, sie sieht die Mutter hier nicht in Angst und Sorge; das könnte ihr die frohe Zuversicht rauben.«

Dieser letzte Einwurf siegte. Nein, Lotte durfte sie in ihrer Aufregung zur Mittagspause hier nicht erblicken. Stumm drückte die Frau Professor der geistigen Führerin ihrer Tochter die Hand. Wie klein kam sie sich, trotz all ihren fortschrittlichen Ideen, dieser Frau gegenüber vor, daß sie in diesen Augenblicken nur Mutter war, nur das Persönliche, nicht das Ganze im Auge hatte!

Nach Hause fahren in die stille Grunewaldvilla – unmöglich! Besorgungen machen – noch undenkbarer! Aber zu Schwester Klärchen konnte sie gehen. Wenn sich die Schwestern auch im Laufe der Jahre etwas auseinandergelebt hatten, da das Schicksal sie in verschiedenes Erdreich verpflanzt hatte, in diesem Augenblick seelischer Not erwachte wieder das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit der Kindheitsgenossin.

Das alte Tabakhaus in der Heilige-Geist-Straße, Fränzes Vaterhaus, stand nicht mehr. Wie vieles andere hatte es dem Neuen Platz machen müssen. Die alte Frau Doussin hatte es nicht mehr erlebt, daß ein großes Geschäftshaus an seine Stelle trat. Die jetzigen Inhaber der Firma, Ludwig und Hugo Doussin, waren moderne Kaufleute, die mit der Überlieferung aufräumten. Ihr Schwager, Robert Weber, war aus vollem Schaffen durch einen Autounfall ums Leben gekommen. Er hatte Frau und Kinder in auskömmlichen Verhältnissen zurückgelassen. Aber Frau Klärchen war genau so lebensfremd, wie es ihre Mutter einst gewesen. Wie ein haltloses Rohr fühlte sie sich ohne den ihr Halt und Schutz gebenden Gatten. Nie hatte sie außerhalb ihrer häuslichen Pflichten jemals irgend eine Verantwortung gehabt, weder im Elternhause, noch im eigenen. Jetzt war sie zum Vormund ihrer zum Teil noch nicht erwachsenen Kinder eingesetzt. Wie sollte sie dieser Aufgabe gerecht werden, da sie selbst dem Leben gegenüber unmündig war! Allem Neuen, das jetzt unaufhaltsam um sich griff, stand sie, seitdem ihr Mann ein Opfer dieses Fortschrittes geworden, noch ablehnender, ja sogar feindseliger gegenüber. Ihre Kinder aber waren das Ergebnis ihrer Zeit und fühlten sich von der altmodischen Mutter nicht verstanden. So hatte Frau Klärchen zwar noch immer einen vorzüglich geleiteten Haushalt, aber es fehlte das Band innerer Zusammengehörigkeit.

Frau Fränze benutzte den elektrischen Fahrstuhl, den Frau Klärchen stets als »gefährliche« Einrichtung verschmähte, zur Wohnung ihrer Schwester. Diese befand sich in einem eleganten Hause des neuen Westens. Groß war Frau Klärchens Freude, als Schwester Fränzchen so unvermutet bei ihr hereinschneite. Sie war gerade mit Durchsicht der instand zu setzenden Sommerkleider ihrer jüngeren Töchter beschäftigt, die ihr Pensionsjahr im Nikolaischen Mädchenpensionat in Weimar verbrachten.

Frau Klärchen Weber erzählte ausschließlich von sich und ihren Interessen: daß ihr Ältester zu Ostern von den Onkeln schon Prokura bekommen habe – er sei so tüchtig wie sein Vater; sicher würde er bald Mitinhaber der Doussinschen Firma werden –, daß der zweite leider im Abiturium gerasselt sei – »und Georg ist doch so ein begabter Junge! Du glaubst nicht, Fränzchen, was heute verlangt wird!« Aber er sei ja zart und noch nicht ganz neunzehn; er komme noch früh genug zum Studium. Gretchen lerne Porzellan malen, natürlich nur zu ihrem Vergnügen; sie habe es ja Gott sei Dank nicht nötig. Hoffentlich bekam Paul jetzt das Einjährige; er klebt schon das zweite Jahr in der Untersekunda. Da sah man, daß der Vater fehlte. »Eine einzelne Frau wie ich, ist zu schwach, Fränzchen.« Aber von Elschen und Käthchen höre sie Gutes. Eva Nikolai sei sehr mit ihnen zufrieden. Es seien ja auch liebe, bescheidene Mädelchen, noch nicht von der modernen Zeit angekränkelt – gottlob!

Frau Fränze lächelte. Ihre Lotte galt in der Weberschen Familie als ein übermodernes Mädchen, weil sie an den Gymnasialkursen teilnahm.

Frau Fränzes Gedanken waren wieder bei dem Prüfungstage angelangt. Sie hörte kaum noch, daß Klärchen überlegte, ob sie recht gehandelt habe, daß sie ihrer Anna nicht zu Ostern gekündigt habe. Diese nehme sich doch wirklich zuviel heraus. Na ja, wenn der Mann im Hause fehlt! Vor einer Frau allein haben sie keine Achtung.

»Unsere Lotte macht heute ihre Reifeprüfung. Ich komme soeben von dort. Hoffentlich schafft sie's.« Ein Seufzer hob Frau Fränzes Brust.

Frau Klärchen machte ein bedenkliches Gesicht. »Wenn mein Georg es nicht mal leisten konnte! Dann halte ich offengestanden die Aussichten für recht ungünstig, noch dazu für ein Mädel. Deine Lotte ist ja begabt, aber schaden tut es ihr nicht, wenn sie's einsehen lernt, daß die Frau für Latein und Mathematik doch nun mal nicht geschaffen ist. Gottlob, daß meine Mädel nicht so unweibliche Bestrebungen haben! Ich wäre unglücklich.«

Frau Fränze erhob sich. Nein, hier wurde sie nicht ruhiger. Immer wieder versuchte sie es, das Band der Gemeinschaft, das sie mit der Schwester einst verknüpft hatte, neu zu schlingen, um jedesmal einzusehen, daß sie sich zu sehr voneinander entfernt hatten. Klärchen war da stehengeblieben, wo sie vor zwanzig Jahren gestanden hatte; sie selbst war vorwärtsgegangen. Die Kluft war mit aller schwesterlichen Zuneigung, allem guten Willen kaum zu überbrücken.

Ob sie ihren Mann im Laboratorium aufsuchte? Doch sie trug ihm heute nur Unruhe in seine Arbeit. Das durfte nicht sein. Inzwischen konnte ja auch schon daheim das Telephon angerufen haben. Vielleicht dauerte die Prüfung gar nicht bis zum Abend. Daß sie auch nicht eher daran gedacht hatte! Stadtbahn und elektrische Bahn gingen Frau Fränze für ihre Ungeduld und ihre Unruhe zu langsam. Sie nahm sich eine Autodroschke, da sie das eigene Auto heute nicht benutzt hatte. Und wie die Straßen im Fluge an ihr vorbeiglitten, war es ihr, als ob ihr ganzes Leben solch eine Autofahrt ins Ungewisse sei; kaum recht geschaut, schon wieder vorüber, vorbei, kaum richtig gelebt. Was waren das heute nur für trübselige Vorstellungen! Hoffnungsfreudig wie ihr Kind mußte sie sein. Grünte und sproßte es nicht wieder überall draußen? Wirklich, Primeln und Krokus waren schon heraus. Sie mußte im Garten noch ein Sträußchen für Lotte pflücken. So oder so jedenfalls sollte das Kind sich freuen.

Still und vornehm lag die Krusesche Villa in den ausgedehnten grünen Rasenflächen. Der Hausmeister, gelernter Gärtner, war mit Frühjahrsarbeiten beschäftigt. Frau Fränze pflückte im Winkel am Hause die ersten Märzveilchen für Lotte. Wie sie dufteten!

Pluto, der große Bernhardiner, kam mit täppischen Sprüngen auf seine Herrin zu. Sie klopfte zärtlich den Hals des prachtvollen Tieres. Die elektrische Klingel rief das zierliche Stubenmädchen mit dem Hamburger Häubchen herbei. Nein, es hatte niemand angeläutet. Nur eine Bestellung für den Herrn Professor war eingegangen. Auch Post war gekommen.

Während Frau Fränze im Wintergarten, der noch durch Zentralheizung erwärmt wurde, ein Gabelfrühstück einnahm – man speiste erst abends um sechs Uhr gemeinsam, wenn der Professor heimkam –, las sie einen Brief ihres Sohnes Walter. In Friedrichshafen beim Grafen Zeppelin war er mit dem Bau von Luftschiffen beschäftigt. Wie einst sein Vater für die Geheimnisse der Elektrotechnik, so setzte er sich für die Luftschiffahrt ein. Die Flugmöglichkeit und die Technik des lenkbaren Luftschiffes nahm alle Gedanken Walters in Anspruch. Die Mutter fühlte und lebte mit jedem ihrer Kinder. Jetzt war Fränze im Geiste am Bodensee bei dem Sohne. Er hoffte, mit dem Grafen bald eine Probefahrt unternehmen zu können. Ach, auch dort lauerten Gefahr, Sorge! Und doch, was für ein herrliches, gewaltiges Werk galt es zu schaffen! Was für märchenhafte Vorstellungen und Aussichten knüpften sich daran! Ob sie es noch erleben würde, daß ihr Sohn im selbstgebauten Luftschiff den Äther wie ein Vogel durchqueren würde? Kaum vorstellbar. Zu allen Zeiten, vom Altertum an, hatten die Menschen schon versucht, sich in die Lüfte zu erheben, um jedesmal zerschellt am Boden zu liegen. Frau Fränze preßte die Hände vor die Augen. Sie wollte das grausige Bild nicht sehen. Und dann – lächelte sie. Wenn es wirklich dereinst dazu kam, würde die vorgeschrittene Technik auch geeignete Sicherheitsmaßregeln zu finden wissen. War nicht genau dasselbe Bangen damals, als die Eisenbahn zuerst die Welt durchkreuzte? Wie hatten sie Mariechen Dorfmüller noch in der Schule ausgelacht, weil sie die gemütliche Postkutsche der gefährlichen Eisenbahn vorzog!

Was hatte sich alles seitdem verändert! Frau Fränze ging in ihr Schlafzimmer und spülte sich die Hände unter fließendem warmen und kalten Wasser ab. Und wieder lächelte sie. Was für ein Staunen, für eine Bewunderung hatte es damals unter den Freundinnen gegeben, als Doussins sich als erste ein Badezimmer angelegt hatten! Sicher hielt man sie damals für protzig. Und heute?

Da läutete das Telephon; schrill zerriß es Frau Fränzes Rückerinnerungen. Sie nahm sich nicht Zeit, die Hände zu trocknen.

Der Schlächter fragte an, was er für morgen schicken dürfe. Enttäuscht bestellte Frau Professor ihr Roastbeef.

Die Zeit schlich. Trotzdem sie sich an ihren Schreibtisch setzte und die Gedanken ihrer Arbeit zuwandte – es wollte nicht gehen. Aus dem Briefständer schaute ein Schreiben von Mariechen Küttner. Grobes Briefpapier – zierliche Schrift. Sie hatte es noch nicht erwidert. Die Gute schrieb getreulich, trotzdem gerade genug auf ihren Schultern lastete. Seit zwei Jahren war sie Witwe. Tapfer hatte sie ihr schweres Schicksal auf sich genommen. Allein stand sie der Außen- und Innenwirtschaft vor, bis ihr Ältester, der vorläufig noch auf der landwirtschaftlichen Hochschule studierte, so weit war. Das war eine Frau auf dem Posten! Es kam nicht nur darauf an, sich geistige Bildung zu eigen zu machen; Charakterbildung war ebensoviel wert. Es galt, den Platz voll auszufüllen, auf den man gestellt war. Ob das Stoff für einen neuen Artikel gab?

Wieder das Telephon. Frau Fränzes Herzschlag setzte aus.

»Hier die Gehängte leibhaftig. – Jawohl, Lotte in höchsteigener Person. Es geht bisher alles gut, Mutti. Ich habe gehört, du hast spioniert. – Ob's sehr schwer ist? Na und ob! Wir werden mächtig gezwiebelt. Aber die Herren sind im Laufe der Tortur menschlicher geworden. Es macht Eindruck auf sie, daß wir was wissen. Jetzt kommt Mathematik. Da müssen sich mehrere vom Schriftlichen 'raushauen. Keine Sorge, Mutti, ich werde schon mit heilen Gliedern aus der Folterkammer entwischen! Aber spät kann's werden.«

Da hing der Hörer, der eben noch durch die Stimme ihres Kindes beseelt gewesen, wieder als lebloses Ding am Haken.

Ja, es wurde spät. Die gemeinsame Essensstunde war vorüber. Der Professor hatte alles mögliche Neue aus seiner »Hexenküche«, wie Fränze das Laboratorium getauft hatte, zu berichten. Er schien es nicht zu merken, wie geteilt das Interesse seiner Frau heute war.

Dreimal war sie schon in Begleitung von Pluto zur nahen Endstation der Elektrischen gewandert, um ihre Lotte dort gleich in Empfang zu nehmen. Hinter schwarzen Kiefersilhouetten jagten lichte Frühlingswolken. Der Mond stand hinter ihnen und lieh ihnen Silberglanz. Jetzt segelte er selbst hervor und tauchte in den See. Da wurde ein Licht auf der dunkeln Straße sichtbar, ganz in der Ferne. War es ein Radler, ein Auto? Nein, die Elektrische. Da hielt sie auch schon. Zweibeinig sprang es heraus – vierbeinig an dem jungen Mädchen in die Höhe. Unbekümmert um die Mitfahrenden rief Lotte: »Durch, Mutti! Durch, alle sechse! Fünf mit Gut, eine mit Genügend.«

Ein Aufatmen ging durch die gepreßte Mutterbrust. Und während Lotte auf dem Heimweg ausführlichen Bericht erstattete, weitete sich für Frau Fränze, jetzt, da die enge, persönliche Sorge von ihr genommen war, der Ausblick ins Große. Der Grundstein für die geistige Unabhängigkeit der Frau war gelegt. Jetzt mußte die Öffentlichkeit die bisher mit Spott abgetane Frauenfrage ernst nehmen. Frau Fränze ahnte an jenem Vorfrühlingsabend nicht, daß noch ein Jahrzehnt vergehen sollte, bis Preußen weiblichen Studenten die Hörsäle seiner Hochschulen öffnete.


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