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Einundzwanzigstes Kapitel

Zehn Jahre später

Zehnmal hatten die Bäume im Kastanienwäldchen seit jenem Pfingstsonnabend geblüht. Ihre Blütenkerzen hatten in Frau Fränzes junges Glück geleuchtet. Wenn sie von hausfraulicher Tätigkeit den Blick durchs Fenster sandte, hatte er sich an dem Blütenmeer erfreut; wenn sie nach des Tages Mühen ihren Mann vom Laboratorium abgeholt hatte, waren die zwei Arm in Arm unter dem leise herabtropfenden Blütenregen dahingeschritten. Dann hatten sogar die alten Bäume im Rauschen innegehalten und den wunderbaren, wie ein Märchen klingenden Mitteilungen des jungen Ehemannes von elektrischen Erfindungen, von seltsamen Neuerungen gelauscht. Sie waren Zeuge davon, die blühenden Kastanien, von der tiefen Seelengemeinschaft der beiden, wie eines das Leben des andern lebte.

Die große Roßkastanie hatte den Kinderwagen beschattet, in dem Walterchen, der Stammhalter, krähte und strampelte. Unter den Kastanienbäumen hatte er seine ersten tappelnden Schritte in die große Welt unternommen. Da hatte sich Kinderjauchzen mit dem frohen Lachen der jungen Mutter gemischt. Als dann zwei Jahre später der kleine Mann zum erstenmal die braunblanken Früchte in ein Körbchen sammelte, da stand der Kinderwagen mit dem Schwesterchen, Klein-Lottchen, Frau Fränzes Ebenbild, unter der entblätternden Kastanie. Mutterglück und Mutterstolz spiegelte Frau Fränzes Antlitz wider.

Ja, aus Fränzchen Doussin war eine glückliche, glücklich machende Frau geworden, durchaus nicht die gute Hausfrau der damaligen Zeit, die nur in Kinderstube und Küche ihre Befriedigung fand. O nein! Wie Fränze als Mädchen, schüchtern zuerst, den Schritt hinausgewagt hatte in eine außerhalb des Hauses liegende Sphäre, so ging sie auch jetzt nicht, wie Schwester Klärchen, in ihrer Wirtschaft auf. Sie hatte noch viele Interessen daneben, vor allem ihre Musik. Die vernachlässigte sie nicht. Fränze hatte ihre Wohlfahrtsbestrebungen als Frau noch ausgebaut, wenn auch die Volksküche ihr Lieblingsfeld blieb. Sie gehörte zum Vorstand der Altersheime und hatte sich den Führerinnen der Frauenbewegung angeschlossen. Jetzt kam auch die Feder von »Rosa Immergrün« endlich zu ihrem Recht. Für die Frau trat Frau Fränze in Frauenzeitschriften ein. Selbst durch und durch Frau und Mutter, empfand sie es, daß nur die Frau, die das Leben verstehen gelernt hat, das werdende Geschlecht zu vollwertigen Menschen heranbilden kann. Für die Mütter schrieb sie, rüttelte sie aus der Leere und Oberflächlichkeit ihres oft spielerischen Daseins auf. In einer Hausfrauenzeitung erschien ein Artikel, in dem sie klarlegte, daß die Tätigkeit der sogenannten guten Hausfrau von früher durch Spulen und Räder, durch wirtschaftliche Maschinen zum Teil ersetzt worden sei, daß ihr jetzt Zeit blieb, ihren Gesichtskreis außerhalb der engen Grenzen ihres Hauses zu erweitern, daß es nicht unweiblich sei, nach ernster Geistesarbeit, nach echter Bildung zu verlangen, daß eine Hausfrau, die gelernt habe, richtig zu denken und geistig zu arbeiten, auch ihren Haushalt verständiger einrichten und ordnen könne und imstande sei, alles weiser auszunützen.

Dieser Artikel verursachte großen Aufruhr bei allen Hausfrauen der guten alten Zeit. Was? Ihnen, die ihre Wirtschaft jahrelang mustergültig am Schnürchen geleitet, wollte solch ein Grünschnabel mit modernen Ideen, Vorschlägen und Abänderungen kommen, wollte ihnen vorschreiben, wie sie ihre Kinder zu erziehen hätten! Dabei zeigte die Verfasserin selbst doch am besten, was bei diesen Anschauungen herauskam: Unehrerbietung gegen das Hergebrachte. Frau Doussin traute ihren Augen nicht, als sie in der Journalmappe diesen Aufsatz ihrer Tochter lesen mußte, mit vollem Namen unterzeichnet. Nein, wie sie sich schämte, daß ihre Tochter solche lächerlichen Ideen haben konnte und sie noch dazu in die Welt hinausposaunte! Da war doch Klärchen, zu der die Mutter in ihrer Aufregung gleich hinunterlief, viel mehr ihr Fleisch und Blut.

Die war gleichfalls entsetzt über die Schwester und ihren überspannten Artikel. »Das kommt davon, wenn Frauen schreiben, anstatt am Herd zu stehen«, sagte sie bekümmert. »Ich begreife Fränze nicht, daß sie für solche unweiblichen Bestrebungen eintritt.«

Tante Mathilde saß mit Moppel an dem Erkerfenster. Beide waren recht gealtert; beide schauten sie in den Spionspiegel, wer wohl gerade über den Molkenmarkt spazierte. Die Tante blätterte in dem Hausfrauenblatt, ob vielleicht ein wirksames Mittel gegen Hühneraugen darin stände. Da fiel ihr Blick auf den Namen Kruse. Franziska Kruse – sieh mal einer an, das Fränzchen! Tante Mathilde begann zu lesen. Ihre spitze Nase wurde noch spitzer, die Finger, die das Blatt hielten, bebten. War es denn möglich ... Und das erlaubte der Junge, der Bruno? Da fuhr er nicht mit einem Donnerwetter dazwischen? Ach, Tante Mathilde hatte es schon lange gewußt, daß Fränze, trotzdem sie einst den Namen Doussin getragen hatte, die Überlieferung des alten Hauses verleugnete, daß auch sie von dem Gift der neuen Zeit angesteckt war! Das Blatt entfiel den zitternden Händen der Tante. Vergeblich bemühte sich Moppel, der Gemütsruhe für den Inbegriff des Lebens erachtete, den Grund dieser ungewöhnlichen Aufregung aus dem Blatte herauszuschnuppern.

Bruno Kruse selbst war stolz auf seine Frau. Bester als tausend Argumente und Artikel bewies sie ihm durch die Tat, daß die Frau außer der Geschäftigkeit in Küche und Haus auch noch höhere geistige Interessen haben konnte, daß sie dadurch erst die verständnisvolle Gefährtin des Mannes, die einsichtsvolle Mutter ihrer Kinder wurde. Er hatte es einsehen gelernt, daß Weiblichkeit und Frauenarbeit, auch außerhalb der vier Pfähle, durchaus zu vereinigen sei. –

Das Jahrzehnt, das sich von der Zeitenspule abgehaspelt hatte, seitdem die Doussinschen Töchter flügge geworden und das eigene Nest gebaut, hatte ins wirtschaftliche Leben gewaltige Veränderungen getragen. In den großen Industriefabriken, in den Elektrizitätswerken surrten, schnurrten, rasselten die Maschinen und gaben Tausenden Brot. Stein um Stein hatte Bruno Kruse in unermüdlicher Gedankenarbeit, in zähen praktischen Experimenten zu diesem gewaltigen Bau beitragen helfen. Man nannte seinen Namen unter den besten.

Auch in dem alten Doussinschen Tabakhause hatte die neue Zeit ihren Einzug gehalten. Maschinen waren aufgestellt worden, ersetzten und verbilligten die ehemalige Arbeit der Hände, vergrößerten den Umsatz. Der Schnupftabak, einst der Hauptabsatz des Hauses, stand auf dem Aussterbe-Etat. Die alten Leute, die noch schnupften, verschwanden. Rechtzeitig hatte Robert Weber, als Mann seiner Zeit, dies erkannt und den Hauptwert auf Zigarren gelegt, ja, auch die Zigarettenfabrikation eingeführt. Das gab einen Kampf mit dem Schwiegervater und älteren Sozius! Vater Doussin verabscheute die »Stinkadores«, wie er die Zigarette verächtlich nannte. Er hielt es für unwürdig, daß sein altrenommiertes Haus sich damit abgab. Aber er mußte sehen, daß sein Schwiegersohn recht behielt. Die Zigarette war der Geschmack der Jugend. Die verabscheute Schnupf- oder gar Kautabak. Als die Maschinen in den alten Fabrikräumen ihre eisernen Arme bewegten, als sie ihren fauchenden Atem ausstießen, da stand die Maschine, die viele, viele Jahre die Seele des alten Kaufmannshauses gewesen, still. Der alte Doussin schloß für immer seine Augen. Er wollte nichts mehr wissen von einer Welt, die den Schnupftabak verleugnete.

Wieder traten die schwarzen Bratenröcke, die Zylinderhüte der Doussinschen Arbeiter von vorsintflutlicher Form auf die Bildfläche. Man betrauerte den Dahingeschiedenen allgemein wie einen Vater.

Frau Doussin, gewöhnt, daß ihr Mann stets für sie gedacht und gesorgt hatte, konnte sich in den veränderten Verhältnissen nur schwer zurechtfinden. Zu dem Schmerz um den teuren Verstorbenen kam das Gefühl der Unzulänglichkeit allen geschäftlichen Fragen gegenüber. Wenn auch ihre Söhne und ihr Schwiegersohn ihr dabei zur Seite standen – es rächte sich, daß sie nur Hausfrau gewesen, allen kaufmännischen Dingen ferngeblieben war. War es nicht doch richtiger, wenn die Frau dem Leben draußen nicht wie ein unmündiges Kind gegenüberstand?

Altes ging dahin, Neues kam und beanspruchte seinen Platz in der Welt. Luchen und Huchen waren als Nachfolger des Vaters in die Firma eingetreten. Nur die Mutter gebrauchte noch die Kosenamen der Kinderzeit. Ludwig war bereits Hausvater, hatte schon den eigenen Herd und zwei pausbäckige Kinder dazu. Er hatte die väterliche Wohnung im zweiten Stock des Tabakhauses inne. Mutters gute Stube mit den pfaublauen Damastmöbeln war jetzt ihr Altenteil geworden, die »Omama-Stube«, zu der die Enkelkinder mit all ihren kindlichen Anliegen kamen.

Bei Frau Klärchen unten trudelte ein halbes Dutzend Gören herum. Die wurden gar oft, wenn es Frau Klärchen zu toll wurde, zur Omama hinaufspediert.

Omamas Stube war für Fränze jetzt der Inbegriff ihres Vaterhauses. Sie empfand es am meisten von allen, wenn sie zu Besuch kam, wie durch den Tod des Vaters dort alles anders geworden war.

Frau Fränze stand an einem unscheinbaren kleinen Holzkasten, der an der Wand befestigt war. Was sie vor Jahren für eine phantastische Fabel gehalten hatte, war Wirklichkeit geworden. Das Telephon, der Fernsprecher, der Menschenwort in der Sekunde über Berg und Tal trug, der die Entfernung überbrückte, war mit einem Male eine der wichtigsten Einrichtungen des öffentlichen Lebens geworden. Bruno Kruse war einer der allerersten, der in seiner Wohnung den Apparat anbringen ließ; hatte er selbst doch im Verein mit Professor Helmholtz wichtige Verbesserungen daran vorgenommen.

Und nun stand Frau Fränze zum erstenmal an dem eigenen Telephon. Ein merkwürdiges Gefühl war es für sie, daß sie jetzt gleich aus ihren vier Wänden Schwester Klärchen würde sprechen und hören können. Ihr Schwager Robert Weber war nämlich ein fortschrittlicher Mann, allen Neuerungen zugänglich; er hatte den Fernsprechapparat nicht nur in seinem Privatkontor, sondern auf Anraten seines Schwagers Bruno sogar auch für die Kundschaft im Laden einrichten lassen. Auch in die Privatwohnung hatte Bruno dem Schwager telephonischen Anschluß legen lassen, der mit dem Geschäftstelephon in Verbindung stand und durch Umschaltung in Betrieb gesetzt wurde. Dies war Brunos eigenste Erfindung.

Frau Klärchen hatte immer noch Angst vor dem Telephon. Es war ihr fremd und unbehaglich. Aus eigenem Antrieb benutzte sie es nie. Nur wenn sie angerufen wurde, mußte sie wohl oder übel heran.

Laut schrillte die Glocke des Telephons in Frau Klärchens hauswirtschaftliche Arbeit hinein. Sie war gerade dabei, Grießklöße abzurollen, denn es war große Wäsche bei Webers. Beide Mädchen waren im Waschkeller. Mit den klebrigen Händen ans Telephon – unmöglich! Mochte es ruhig umsonst rufen, ihretwegen sich sogar die schrille Klingelstimme ausschreien! Sicherlich etwas Geschäftliches. Man würde unten gleich umstellen.

Diese Hoffnung ging nicht in Erfüllung. Im Gegenteil, das Telephon schien lauter, eindringlicher, ja sogar aufgebracht zu rufen. Frau Klärchen war nicht weniger aufgebracht. Eine greuliche Erfindung, dieses Telephon! Keine Ruhe hatte man jetzt mehr. Da hatte es auch glücklich Käthchen, das wenige Monate alte Webersche Nesthäkchen, aus dem Schlaf geweckt. Käthchen begann ihre Stimme mit der des Telephons melodisch zu vereinigen. Frau Klärchen wußte nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. Nur um Ruhe zu kriegen, spülte sie die Grießhände unter der Leitung ab, eilte an das Telephon und riß die beiden Hörer von den Haken. »Wer ist da?« Sie vergaß es immer noch, trotzdem ihr Mann es ihr eindringlich eingeschärft hatte, zuerst ihren Namen zu melden.

»Ist dort Weber?« klang es von irgendwo.

»Ja, natürlich! – Wer ist denn da?«

»Rate mal!« Die Stimme klang bekannt, aber doch fremd durch das Telephon.

»Dazu habe ich heute wirklich keine Zeit, Rätsel zu raten. – Schtscht – schtscht! Sei still, Käthchen!« beruhigte sie nebenbei das schreiende Kind.

»Hahaha!« Es lachte durch das Telephon. Das knatterte ekelhaft in den Ohren. »Aber Klärchen, erkennst du mich denn nicht? Ich bin es ja – Fränzchen!«

»Ach du!« klang es jetzt etwas gnädiger. »Wozu mußt du auch durch das dumme Telephon reden! Das Telephon ist überhaupt nur für geschäftliche Mitteilungen da.«

»Aber Bruno hat es mir doch ausdrücklich für Privatzwecke angelegt, Klärchen! Und du sollst die erste sein, bei der ich es einweihe. Ist es nicht etwas ganz Märchenhaftes, daß wir miteinander sprechen können, ohne uns zu sehen, du in der Heilige-Geist-Straße und ich am Kupfergraben?«

»Abscheulich störend ist es. Käthchen schreit wie am Spieß, wo ich schon sowieso schlecht am Telephon verstehe. Und meine Suppe kocht draußen über. Die Kinder werden gleich aus der Schule kommen, und das Mittagbrot ist noch nicht fertig. Wir haben nämlich große Wäsche. Ich habe wirklich mehr zu tun, Fränzchen, als an dem dummen Telephon meine kostbare Zeit zu versäumen.«

»Bei uns ist auch Wäsche; aber ich habe alles gut eingerichtet. Die Wasch- und Wringmaschine erleichtert die Arbeit ungemein. Nach all den kalten Tagen wollte ich bei dem schönen Frühlingswetter mit dir und den Kindern für den Nachmittag sogar einen Spaziergang verabreden. Herrlich, daß wir das jetzt ohne Boten durch das Telephon können!« Frau Fränze war restlos begeistert.

Weniger Schwester Klärchen. »Am Wäschetag spazierengehen – ausgeschlossen! Ich bin eine Hausfrau vom guten alten Schlag. Ehe meine Wäsche nicht auf dem Zinkdach hängt, habe ich keine Ruhe.«

»Die Mädchen kriegen das auch ohne dich fertig, Klärchen. Ich halte es für notwendiger, daß die Kinder, die am Vormittag in der schlechten Schulluft sitzen, ins Freie kommen. Wenn du nicht abkömmlich bist, werde ich deine vier Großen abholen und mitnehmen, damit die armen Würmer bei dem schönen Wetter nicht in der Stube sitzen müssen«, bot sie freundlich an.

»Danke, aber das geht wirklich nicht. Unsere Kinder sollen ruhig wissen, daß heute Wäsche ist. Sie brauchen nicht spazierenzugehen, wenn die Mutter sich abarbeitet. Jeder hat seine eigenen Erziehungsgrundsätze. Meine Kinder müssen am Waschtage helfen. Die Jungen holen ein, die Mädel gehen mir in der Wirtschaft zur Hand. Das können sie nicht früh genug lernen. Bitte, Fränzchen, rufe mich nicht wieder vormittags an! Da habe ich keine Zeit. Und auch nachmittags ist es so eine Sache. Sicher wird da das Telephon unten im Geschäft gebraucht, und Robert ist dann ärgerlich, wenn ich es benutze. Also Schluß!« Erleichtert hängte Klärchen die Hörer an, riß die brodelnde Suppe vom Feuer und das schreiende Kind aus den Kissen. Wirklich, eine Erfindung des Teufels war das Telephon!

Auch Fränzes frohe Heiterkeit war beeinträchtigt. Wie schwer Klärchen sich das Leben machte! Wie wenig sie es verstand, die im Haushalt unvermeidlichen Wäsche- und Reinmachetage ihrer Familie möglichst wenig fühlbar zu machen, das Behagen nicht zu verscheuchen! Mußte es nicht die Hauptpflicht einer Frau sein, für eine harmonische Umgebung zu sorgen? Das war Stoff für einen neuen Artikel.

Aber bevor sie sich noch an den Schreibtisch setzen konnte, belehrte sie ein Blick auf den Regulator, daß es Zeit sei, Lottchen, die kleine Abeceschützin, aus der Schule abzuholen. Das ließ sich Fränze nicht nehmen, die Kleine des Morgens selbst zur Luisenschule hinzubegleiten und sie mittags wieder in Empfang zu nehmen.

Jubelnd stürzte sich Lottchen in die Arme der wartenden Mutter.

»Mutti, Friedchen will nicht glauben, daß wir so 'n kleinen Kasten an der Wand haben, in den man 'reinsprechen kann und wo einer drinsitzt, der immer antwortet!« berichtete sie aufgeregt. Friedchen war ihre kleine Schulfreundin und der Kasten das neue Telephon. »Sag ihr doch mal, daß es kein Schwindel ist!«

Die Mutter biß sich auf die Lippen. »Es ist wirklich so, Friedchen«, bestätigte sie dann, ihr Lächeln bezwingend. »Aber in dem Kasten, den man Telephon nennt, sitzt keiner, sondern ...«

»Doch, doch! Vater hat gesagt, da antwortet dann jedesmal einer 'raus, und Vater muß das doch besser wissen. Der ist doch Arbeiter dafür!«

Unter den Kastanien tobte eine Schlacht. Zu einem Knäuel geballt sah man Schulranzen, kurzgeschorene Jungenköpfe, drohende Fäuste. Mitten drin entdeckte Frau Fränze ihren Walter, den hoffnungsvollen Sprößling.

Wie der Wind war Lottchen von der Hand der Mutter und begann auf einen ihr zunächststehenden Jungen mit ihren kleinen Händen loszuschlagen. Wer ihrem Walter etwas tat, bekam es mit ihr zu tun.

»Aber Kinder, wollt ihr wohl sofort mit der Balgerei aufhören! Schämt ihr euch denn gar nicht, solche kleinen Raufbolde zu sein!« Frau Fränze war jetzt wirklich ärgerlich. »Ich hole den Schutzmann.«

»Ach, der sitzt ja drüben auf 'ner Bank und schläft!« meinte ein kleiner Frechdachs, nichts weniger als eingeschüchtert. Aber die streitlustigen Fäuste ließen doch voneinander ab, und aus dem Jungenknäuel entwirrte sich Walter. Als Siegestrophäe trug er eine blutige Schramme auf der Backe und ein Loch in der Hose davon.

»So, Walter, nun erzähle mir mal, was es gegeben hat, warum ihr so ungezogen gewesen seid!« nahm Frau Fränze strafend den Sohn ins Gebet.

»Der Neumann hat mir eine Backpfeife gegeben«, verteidigte sich der Sextaner.

»Wie unartig von ihm! Warum hat er das denn getan?«

»Weil ich ihm zuerst eine 'runtergehauen habe«, kam es etwas kleinlauter heraus.

»Aha! Und warum schlägst du einen Schulkameraden? Du weißt doch, wie häßlich das ist.« Muttchens meist frohes Gesicht sah ernst und traurig aus.

»Weil er – na, wenn er mir mein schönes, neues Telephon kaputt macht! Mittendurch hat er mir die Leitung zerschnitten, während Müller und ich gerade durch das Telephon gesprochen haben. So 'ne Gemeinheit!« Er zog empört zwei Holzstückchen aus der Tasche, die wohl durch einen jetzt durchschnittenen Bindfaden miteinander verbunden gewesen waren.

»Mutti, Friedchen will nicht glauben, daß wir so 'n kleinen Kasten an der Wand haben, in den man 'reinsprechen kann!« berichtete Lottchen aufgeregt.

»Wenn einer Vaters Telephonleitung durchschneiden würde, würde Vater den auch doll verkloppen. Nicht wahr, Vater?« Walter schoß wie ein Pfeil auf einen näherkommenden Herrn los, hinterdrein Lottchen.

»Das Telephon spukt heute allenthalben, Bruno«, sagte Fränze lachend, hellen Auges ihren Mann begrüßend. »Damit hast du was Schönes angerichtet! Sogar Kämpfe hat es schon darum gegeben.« Sie wies auf den Filius.

»Es hat genug Kämpfe gekostet, bis wir so weit waren. Tröste dich, mein Junge! Bei wissenschaftlichen Erfindungen geht es nie ohne Kämpfe ab.«

»Hast du Ärger gehabt, Bruno?« erkundigte sich Fränze, ihren Arm in den ihres Gatten schiebend.

»Ärger – das ist nicht das richtige Wort. Enttäuschungen, die bleiben nicht aus. Ich habe es mir nun einmal in den Kopf gesetzt, das Mikroskop für Bakterienuntersuchungen, besonders zur Untersuchung für Tuberkelbazillen, zu verbessern und brauchbar zu machen. Bernhard arbeitet im Kochschen Institut. Er hat mir die Anregung dazu gegeben. Ich werde mein Ziel schon erreichen. Beim ersten Hieb fällt kein Baum.« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und ließ sich von den Kindern ihre Schulerlebnisse berichten.

Das Krusesche Nest hatte sich gestreckt. Um zwei Zimmer war es gewachsen, die man von einer Nachbarwohnung dazugenommen hatte. Hell und freundlich war es. An der Wand hing ein florentinisches Bild von Martha Leuchter, eine nachträgliche Hochzeitsgabe. Es war eine wundervolle Stimmung darin. Blühende Blumen schmückten die Fenster. Fränzchens Stolz aber war der herrliche Bechsteinflügel, mit dem ihr Mann sie dank einem Extrahonorar überrascht hatte. Dort versammelten sie abends gleichgestimmte Freunde zum Trio oder Quartett.

Nach dem Mittagessen ging es in den Tiergarten.

Die Kinder zogen mit ihren Schaufeln zum Buddelplatz, Frau Fränzchen gab ihren Gedanken Audienz.

»Maikäfer – Käfer-Mai,
Für eine Nadel gibt es drei!«

sangen die Jungen, verheißungsvoll Zigarrenkisten mit braunen Lenzboten schüttelnd. Natürlich mußten auch Walter und Lottchen ihren Anteil davon haben. Im Proviantkörbchen wurden die Maikäfer unter frischen grünen Blättern einlogiert.

Während Frau Fränzchen die krabbelnden Gefangenen beaufsichtigte, kam es ihr zum Bewußtsein: Wieder mal Mai! Das Pfingstfest stand vor der Tür. Oh, wieviele Jahre war das her, daß man einst im Backfischzopf das Maienkränzchen gegründet hatte!

Man hatte die Absicht, alljährlich zusammenzukommen, nicht durchführen können. Das Leben hatte sie auseinandergeführt, die Maienkränzlerinnen. Da waren häusliche und berufliche Pflichten gewesen, Hochzeit, Geburt und Tod, das Auf und Ab der Lebenswogen. Sie trugen die Freundinnen nur noch selten zueinander. Ob dieses Jahr das Maienkränzchen zustandekommen würde?

Ihre Schwägerin Hanna würde sich nur schwer freimachen können. Die Praxis nahm sie ganz und gar in Anspruch.

Der Bohnenkuchen hatte doch nicht gelogen. Lisabeth war, als nächste Braut aus dem Freundinnenkreise, die Frau des jungen Tierarztes Emil Küttner geworden. Die alte Singe-Uhr in der Klosterstraße, die Lisabeths Jugend mit ihren frommen Weisen begleitet, hatte ihr auch den Brautgesang gesungen. Lisabeth würde sich wohl trotz der Kochschule, die sie gegründet hatte und der sie vorstand, zum Maienkränzchen einfinden.

Ebenso konnte sich Eva Nikolai, seit einiger Zeit Pensionsmutter eines Mädchenpensionats in Weimar, wieder einmal freimachen. Es waren ja Pfingstferien. Seit dem Tode ihrer Mutter war Eva nicht in Berlin gewesen.

Ob Gustchen aus ihrem bewegten Haushalt mal herauskrabbeln würde? Ein brauner Maikäfer kroch aus dem Blätterbett heraus und wurde von Frau Fränzes Händen wieder zurückgescheucht.

Änne Wilke – nun, die würde froh sein, wenn sie einmal aus ihrem trübseligen Einerlei herauskam. Familientante war sie geworden, wohnte nach dem Tode der Mutter bei ihrem Bruder, trotzdem die Freundinnen ihr davon abgeredet hatten. Sie klagte auch stets, daß sie sich mit der Schwägerin nicht vertragen könne, daß man sie als Kinderfrau bei den Kleinen ausnütze. Nicht einmal an den Kindern hatte sie Freude. Ein bedauernswertes, unausgefülltes Dasein durch eigene Unvernunft!

Auch Martha Leuchter hatte nicht geheiratet. Aber wie reich wußte sie ihr Leben zu gestalten! Sie war erfüllt von ihrer Kunst, von der wunderbaren Natur, in der sie ihre Heimat aufgeschlagen hatte. Eva Nikolai hatte sie einmal besucht und wußte nicht genug von dem Eldorado unter italienischem Himmel zu erzählen. Seitdem hatte Fränze den lebhaften Wunsch, ebenfalls einmal zu der Jugendfreundin ins Gelobte Land Italia zu pilgern. Bruno hatte ihr schon öfters das dazu nötige Reisegeld zur Verfügung gestellt. Aber ohne ihren Mann fuhr Fränze nun einmal nicht nach Italien. Entweder miteinander oder gar nicht. Es waren immer noch notwendigere Ausgaben oder Anschaffungen dagewesen.

Ein rundliches, behagliches Frauchen mit rosigem, lachendem Gesicht tauchte vor Fränzes innerem Auge auf: Mariechen Küttner. Oft kam Frau Mariechen nicht mehr von ihrer Klitsche herunter, trotzdem jetzt Eisenbahnverkehr von Neu-Trebbin nach Berlin war. Sie ging ganz in Mann und Kindern sowie in ihrem Garten auf, war eine Mustergutsfrau geworden. Wie gern würde Fränze sie alle mal wiedersehen, die lieben Maienkränzlerinnen!

Burrr – burrr! Da bewegten sich die Blätter in dem Körbchen, und ehe die geistesabwesende Frau Fränze noch zupacken konnte, burrte die ganze Maikäfergesellschaft vergnügt in das junge Frühlingsgrün der Platanen. Bei den Sprößlingen aber gab es Tränen.

Als Frau Fränze von ihrem Spaziergang heimkam, lag ein Briefchen an Frau Franziska Kruse auf dem Tisch. Es trug den Poststempel Neu-Trebbin. Ein goldgerändertes Kärtchen enthielt es, in dem Frau Mariechen zum Pfingstsonnabend »mit Mann, Kind und Kegel« herzlich einlud zur Taufe ihres Jüngsten und gleichzeitig auch zum Maienkränzchen.


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