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Sechstes Kapitel

Von Einkochgläsern und lateinischen Verben

Tante Mathilde hörte nicht auf, den Kopf mit dem schwarzen Seidenfiletnetz zu schütteln. Ach, was waren das für verderbte Zeiten! Wie konnte ein junges Mädchen nur Wünsche haben, die es aus dem sichern Gehege des Familienlebens herausführten! Als Tante Mathilde noch ein junges Mädchen war, da wäre so etwas nicht denkbar gewesen. Ja, damals – das war noch die gute alte Zeit! Aber heute! Schlimm genug, daß Hannchen der hauswirtschaftliche Sinn abging; daß aber der eigene Vater, daß Bernhard ihre unweiblichen Bestrebungen unterstützten, das wollte der Tante nicht in den Kopf. Nur Bruno war auf ihrer Seite. Bruno gab der Tante recht und riß seine Witze über die hochfliegenden Pläne der Schwester. Auch daß ein so würdiger Mann wie Professor Körner sich dazu hergab, den Unfug mitzumachen und einem weiblichen Wesen Lateinunterricht zu erteilen, hätte sie niemals für möglich gehalten. Dabei war Lisabeth Körner doch so ein liebes, weibliches Haustöchterchen.

Tante Mathilde thronte steif und aufrecht auf einem Kreuzstichkissen in dem Korbsessel an dem breiten Erkerfenster. Sie und ihr dicker Moppel, der es sich auf dem Schoß seiner Herrin bequem gemacht hatte, schauten in schöner Harmonie durch den draußen angebrachten Spionspiegel, der ihnen den ganzen Molkenmarkt, die Poststraße mit der Nikolaikirche und den Mühlendamm, je nachdem man ihn drehte, widerspiegelte. Dazwischen stand wieder die ganze Familienschande vor ihrem Blick: Ärztin – Ärztin wollte Hannchen werden! Nie zuvor hatte Tante Mathilde dieses Wort vernommen. Sie begriff es nicht, sie faßte es nicht. Ebensogut konnte Hanna Richterin, Leutnantin oder Torschreiberin werden wollen. Die ganze Welt war auf den Kopf gestellt. Was würden die Damen in ihrem Missionsnähverein nur zu so unweiblichen Absichten ihrer Nichte sagen!

Wenn die Tante bis zu diesem Punkt in ihren Überlegungen gekommen war, pflegte stets der Faden zu reißen, sowohl der Gedankenfaden als auch der, den sie zwischen den schmalen, spitzen Fingern hielt. So stark äußerte sich ihre Gemütserregung. Moppel hob mißbilligend den Kopf. Er war für Gleichmaß.

Plötzlich legte die Tante mit Nachdruck die Näherei beiseite. Sie mußte den Kampf aufnehmen, mußte Hannchen auf alle Fälle wieder auf den hergebrachten Weg mädchenhafter Tugenden zurückzuführen suchen. Das war sie Hannchens verstorbener Mutter gewiß schuldig.

Noch einen schnellen Blick in den Spion, ob das Straßenbild sich inzwischen verändert hatte, dann ging sie, gefolgt von Moppel, schnurstracks zum Zimmer der Nichte. Sie wählte nicht den Weg über den Flur, sondern über den Balkon, an der vergoldeten Balustrade entlang, die, von acht Säulen gestützt, den runden Eckbau der Poststraße schmückte.

Natürlich, da saß Hannchen wieder bei ihren Büchern, nicht an dem kleinen Rokokoschreibtisch, den sie mit andern zierlich geschwungenen Goldmöbeln von ihrer Mutter geerbt hatte. Der wäre wohl zusammengebrochen unter den großen Folianten, dem schweinsledernen dicken Lexikon. Den schweren, ausrangierten Klapptisch, den man nur noch zum Wäschelegen benutzte, hatte sie vor die offene Balkontür ihres Zimmers gestellt. Da saß sie nun, den Kopf in die lateinische Grammatik vergraben. Sie sah nicht, wie die Junisonne die kleinen Steinputten, die das kunstvolle schmiedeeiserne Gitter der Balustrade hielten, in lauter Gold einspann; sie empfand nicht den zartsüßen Rosenduft, der ganz leise, kaum merklich, von allen grünen Plätzen her den stickigen Straßenhauch zu durchwehen suchte. Hanna saß und lernte.

Auf einmal legte sich ein Schatten, lang und schmal, über die Grammatik. Da blickte sie auf. Im Bogenrahmen der Tür, die von schlanken Pilastern flankiert wurde, stand aufrecht und steil Tante Mathildes schwarze Gestalt in der hellen Sonne, daneben Moppel, mit dem Hanna stets auf Kriegsfuß lebte, dick und ausgefressen.

»So, Hannchen, nun hast du für heute wirklich genug gelernt. Jetzt ist es Zeit, daß du auch mal etwas Nützliches tust. Komm, hilf mir beim Einkochen der Stachelbeeren! Du kannst die Gläser ausschwefeln, Kind. Und nachmittags wollen wir mit einer Handarbeit in die Zelten zum Konzert. Dort trifft man immer Bekannte. Da gibt es die besten Berliner Pfannkuchen und keinen Blümchenkaffee. Du kommst mir ja gar nicht mehr an die Luft! Vielleicht kann uns Vater den Wagen überlassen. Sonst müssen wir uns bei der Hitze eine Droschke nehmen.« Tante Mathilde hatte nun mal den Entschluß gefaßt, die unweiblichen Bestrebungen ihrer Nichte, soweit es in ihrer Macht stand, zu durchkreuzen.

Hanna fuhr sich mit der Hand über die Augen. Erst allmählich kehrte sie von ihren Büchern in die Wirklichkeit zurück. »Ich muß noch die Lektion bis Mittag intus haben, Tante Mathilde. Auguste kann dir ja die Gläser ausschwefeln.«

»Darum handelt es sich nicht, Hannchen. Ich werde auch ohne dich fertig. Der Himmel bewahre mich davor, daß ich auf deine Hilfe angewiesen wäre! Aber du hast deinem Vater versprochen, dich im Hause zu betätigen. Ich wenigstens denke an dein Versprechen.« Die Tante richtete sich noch steiler empor; wie ein Ausrufungszeichen stand sie hinter dem Satz.

Hanna sprang ungestüm auf und warf zum Entsetzen der Tante die Feder hin, daß sie spritzte. Sie fühlte sich getroffen, empfand es selber, daß sie ihren Pakt dem Vater gegenüber nicht innehielt. Aber Tante Mathilde störte sie auch jedesmal, wenn sie gerade im tiefsten Lernen war! »Also schön, dann komme ich jetzt mit in die Küche. Aber am Nachmittag muß ich unbedingt arbeiten.«

Es bedeutete für Hanna gar kein Opfer, auf die Fahrt nach den Zelten in Gesellschaft der Tante und Moppels zu verzichten. Kaffeetrinken mit Handarbeit unter alten Damen bei Konzert, wobei die lieben Bekannten durchgehechelt wurden, nein – das war nichts für sie.

»Du findest ja sicher dort Gesellschaft«, setzte sie noch hinzu, denn sie empfand, daß sie der Tante gutgemeinten Vorschlag etwas brüsk zurückgewiesen hatte.

»Um mich handelt es sich nicht dabei, Hannchen. Aber ich muß deinen Vater unbedingt darauf aufmerksam machen, wie blaß du bist und wie du von dem vielen Lernen unter den Augen tiefe Schatten bekommst. Er soll dir Eisenpillen verschreiben oder besser noch die Bücher verbieten. Daß der Mann das nicht selbst sieht!«

Hanna blickte die Tante mißtrauisch an. War sie wirklich besorgt um sie, oder galt es nur, sie im wissenschaftlichen Arbeiten zu stören?

Es war recht heiß in der Küche. Die Sonne brannte, die Herdplatte glühte. Der große Kupferkessel, in dem man das Obst einzukochen pflegte, stand bereits auf dem Feuer.

»Zuerst eine Schürze, Hannchen!« mahnte die Tante.

Wie Hanna die Schürze schon haßte, als Symbol der unwillkommenen Arbeit! Mit mißmutigem Gesicht kam sie der Weisung Tante Mathildes nach, ein Stückchen Schwefelfaden abzubrennen und die Einmachgläser über den Schwefeldampf zu stülpen. Es roch abscheulich. Dabei überlegte sie, wie die Formel lautete, die sie in der Chemiestunde gelernt hatte. Wie war sie doch noch? H2O = Wasser, H2S = Schwefelwasserstoff. Ja, so war's.

Klirr! Da lagen zwei der Einmachgläser zerschellt am Boden. Hanna hatte bei ihren chemischen Überlegungen nicht achtgegeben. – »So, Mamsell Mathilde, da haben wir den Salat!« meinte Auguste ganz gemütlich.

Tante Mathilde aber war weniger gemütlich. »Das kommt davon, wenn man etwas ungern tut. Ohne Lust und Liebe bist du dabei; da müssen die Gläser entzweigehen.« Hustenreiz, durch den freigewordenen Schwefeldampf verursacht, unterbrach ihren Ärger. Moppel umsprang, ebenfalls ärgerlich kläffend, die Scherben.

»Geh nur wieder zu deinen Büchern! Zu nützlicher Tätigkeit bist du ja doch nicht zu gebrauchen«, sagte Tante Mathilde, als sie wieder sprechen konnte, noch immer ungehalten.

Das ließ sich Hanna nicht zweimal sagen; aufatmend entwischte sie zu ihren lateinischen Verben.

So ging es fast jedesmal, wenn Hanna zu hauswirtschaftlicher Tätigkeit herangezogen wurde. Die Tante, die nicht über allzuviel Geduld verfügte, bekam bald genug von ihr.


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