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Zwölftes Kapitel

Maienkränzchen

Meister Storch droben auf dem Dache hatte das Maienkränzchen zuerst erspäht. Er klapperte seiner lieben Frau so laut die Botschaft zu, daß auch Madam Kantor drunten bei ihrem Strickzeug sie vernahm. Sie eilte ins Haus und kochte den Kaffee.

Unter dem alten Apfelbaum vor dem Hause blieb Mariechen stehen. »Willkommen!« sagte sie noch einmal herzlich. »Es wird euch schon bei uns gefallen.« Sie war selbst so begeistert von ihrem Häuschen, von ihrem lieben Garten und den noch lieberen Menschen, daß sie gar nichts anderes annahm, als daß die Freundinnen ihre Begeisterung teilen mußten.

Das taten sie auch aus vollem Herzen. »Hier wohnst du, Mariechen? Ist das Häuschen lieb! Ach, und der herrliche Garten! Das blüht ja und duftet! Obstblüte ist noch bei euch? Bei uns ist sie schon vorüber. – Ein Storch, Kinder! Seht doch, ein richtiger Klapperstorch und auch die Frau Störchin dabei! Nein, ist das idyllisch bei euch!« In laute Bewunderung brachen die Stadtkinder aus.

Die jungen Stimmen hatten den Kantor von seinem Klavier aufgescheucht. Er griff nach seinem gestickten Samtkäppchen und trat ans Fenster. Schau, schau, was das Mariechen für schmucke Freundinnen hatte! Helles Auge und klarer Blick, wie es sich für junges Volk gehört.

Da hatten sie ihn erspäht. Lisabeth war als erste an dem niedrigen Fenster. Sie streckte die Arme hinein und versetzte dem Onkel Kantor einen herzlichen Begrüßungskuß. Renatchen kletterte wie ein Eichkätzchen zum Fensterkreuz empor und ließ sich vom Onkel hineinheben. Die Freundinnen aber traten nun auch näher, sich tief verneigend, wie es die gute Sitte verlangte.

»Vater, das sind Fränze und Kläre Doussin«, begann Mariechen die Vorstellung.

»Ah, die Sappho des Maienkranzes!« scherzte der Vater, Fränze die Hand reichend. Er hatte die gleichen leuchtendblauen Vergißmeinnichtaugen wie Mariechen.

»Hier Hanna und Eva – die beiden Gelehrten.«

»Ein Fräulein collega in spe? Und wir? Auch eine Kathederheldin?« Er reichte Hanna freundlich die Hand.

»Bewahre!« Hanna wies diese Möglichkeit weit von sich. »Vorläufig nur eine Anfängerin in der lateinischen Wissenschaft und in dem Labyrinth der Algebra und Geometrie.« Es sollte bescheiden klingen, kam aber doch ziemlich selbstbewußt heraus.

»Wa–as?« Mariechens Vorstellung stockte. Latein und Mathematik lernte die Hanna wie ein Junge? Was mochte bloß der Vater dazu sagen! Sie schämte sich ordentlich für die Freundin.

Der Vater lächelte belustigt. »Nun, wenn's erst in den Anfängen ist, dann geht es noch allenfalls. Hoffentlich lassen Sie es dabei bewenden!«

»Das hoffe ich nicht«, sagte Hanna ruhig.

»Dies hier ist Gustchen Lehmann, Vater«, unterbrach Mariechen schnell, in dem sicheren Gefühl, den ungünstigen Eindruck, den der Vater von Hanna empfangen haben mußte, wieder gutzumachen. »Du weißt doch, Vater, das fleißige Gustchen, das wie eine Mutter für die kleinen Geschwister sorgt. Meine Eltern kennen euch alle schon ganz genau. Und zum Schluß noch die Martha und die Änne.«

»Willkommen, meine lieben jungen Damen! Ich hoffe, daß Sie sich in unserm bescheidenen Hause wohlfühlen«, sagte der Kantor mit schlichter Freundlichkeit.

»So, und nun kommt erst zur Pumpe! Da könnt ihr euch nach der langen Fahrt waschen.« Mariechen zog die Freundinnen in den Hof.

»An der Pumpe?« Änne stieß Martha an. »Hier auf dem Dorf kennt man wohl noch keine Waschtische?«

Martha machte ein unzufriedenes Gesicht. Hatte das gute Mariechen nicht etwa die taktlosen Worte gehört?

Nein, Mariechen war ganz Geschäftigkeit. Sie brachte Handtuch und Seife herbei, während die Brüder sich um die Ehre balgten, den Brunnenschwengel für den jungen Besuch in Bewegung zu setzen.

»Hallo, nicht so stürmisch!« Lachend zog Fränze den wasserbespritzten Kopf zurück. »Das können meine Locken nicht vertragen.«

»Mariechen, gibt es einen Spiegel bei euch oder ist der in Neu-Trebbin noch nicht modern?« fragte Änne spöttisch, ihr blondes Kraushaar glättend.

Mariechen verstand Spaß. »Freilich, Eitelkeit ist selbst bei uns auf dem Dorfe zu Hause. Kommt mit in die gute Stube! Da dürft ihr euch so schön wie nur möglich machen.«

»Sonst ist ja auch der Dorfteich nicht allzu weit; er hat einen klaren Wasserspiegel, Änne.« Martha konnte es sich nicht verkneifen, jetzt die Änne ein wenig aufzuziehen.

»Aber nur für Gänse!« So, da hatte Martha ihr Teil.

War das ein Lachen, Spritzen und Quieken an der Pumpe! Das Federvieh stand in achtungsvoller Entfernung und sperrte die Schnäbel vor Staunen auf. Oh, Kantors wilde Horde leistete sich ja allerhand! Aber daß wohlerzogene Berliner junge Damen sich so görenhaft benahmen, das ging über ihren Gänsehorizont. Auch Hinzpeter, der Kater, blickte aus grünen Augen mißbilligend auf die fremden Eindringlinge. Gingen die nicht in die gute Stube, die ihm selber wie auch den Kindern des Hauses ein verbotenes Paradies war, mir nichts, dir nichts, als wären sie sich gar nicht der besonderen Ehre bewußt? Hatten sie etwa draußen auf der Matte die Schuhe abgeputzt, ehe sie den sauber gescheuerten Steinboden des Hausflurs betraten? Keine Spur. Er war ja nur ein einfacher Dorfkater, aber was Sauberkeit bedeutete, wußte er ganz genau, und ebenso auch, daß kein noch so niedliches Kätzchen sich so eitel putzte wie der heutige Berliner Besuch.

Dreimal hatte Lisabeth Körner, die der Tante Kantor sogleich ihre Hilfe bei den Kaffeevorbereitungen angeboten hatte – denn Mariechen hatte doch andere Pflichten –, schon zum Kaffee gebeten. Erst als die Jungen mit erhobenen Stimmen durchs Haus trompeteten: »Zum Kaffee! Der Kaffee wird kalt!« machte Mariechen kurzen Prozeß. »So, für unsere Gänse und Hühner seid ihr nun wirklich schön genug, Kinder. Mutter wird ungemütlich, wenn wir auf uns warten lassen.«

Lisabeth machte bereits mit der bauchigen Kaffeekanne die Runde. Vater und Mutter Kantor saßen oben an der Tafel, wohlbeleibt und gemütlich. Man sah ihnen die Freude über den jungen Besuch aus den Augen strahlen.

»Vorstellung ist nicht nötig, Mariechen«, hatte die Mutter in heiterer Weise die feierliche Vorführung der Freundinnen abgelehnt. »Ich kenne sie alle, die Mamsellchens. Ich will es selbst herauskriegen, wer die einzelnen sind.«

So saß man denn unter blühenden Apfelbäumen – blühendes junges Leben. Lachen und Scherzworte flogen hin und her. Dabei tat man Madam Kantors Apfelkuchen mit Sahnenpimpe alle Ehre an.

Hanna Kruse, die zur Linken der Hausfrau saß, war besonders davon begeistert. »Ich gebe Ihnen gern das Rezept, Mamsellchen«, sagte Madam Kantor freundlich. »Sie machen erst einen ganz gewöhnlichen Bärmeteig und dann ...«

»Hahaha, die Hanna lernt bei Tante Kantor kochen!« unterbrach Lisabeth belustigt das Kochrezept. »Ich glaube, eher löst die Hanna eine Mathematikaufgabe vom Onkel, als die ihr soeben von der Tante gestellte Aufgabe.«

»Ei, das ist Johanna Kruse?« Die klaren Augen der Mutter studierten das kluge, blasse, von widerspenstigem dunkeln Haar umrahmte Gesicht, die schlanke, schöne Erscheinung der neben ihr Sitzenden unbefangen. »Ich hätte Sie für Martha Leuchter gehalten; Sie haben so etwas Künstlerisches an sich.«

»Und ich? Wer bin ich? Wer sind wir? Frau Kantor muß es erraten.« Von allen Seiten bestürmte man Mariechens Mutter.

»Wollen sehen, ob mein Dorfgrips so weit reicht. Also, mein Gegenüber mit der braunen Haarlocke auf der Schulter und den Veilchenaugen, das ist eine junge Dame, bei der die Göttin Poesie Pate gestanden hat.«

»Richtig – bravo! – Fränze Doussin, genannt Rosa Immergrün. Erraten! – Nun weiter, Fortsetzung!«

»Daneben der glatte, schlichte Blondscheitel wird wohl zu Gustchen Lehmann gehören.«

»Falsch, stimmt nicht.«

»Dann kann es nur die zukünftige Lehrerin Eva Nikolai sein.« Händeklatschen belohnte die richtige Antwort Madam Kantors.

»Das junge Gemüse da ist ebenfalls Doussinsche Zucht.« Klärchen nickte geschmeichelt. »Gustchen Lehmann hätte ich eigentlich nicht verwechseln dürfen. Ihr Fleiß verrät sie.« Gustchen hatte ihre derben roten Hände nichtsahnend auf der Kaffeedecke liegen. Jetzt zog sie diese erschreckt zurück.

»Gustel muß sich vorsehen, daß man sie nicht für eine Neu-Trebbiner Viehmagd hält«, spöttelte Änne zu ihrer Nachbarin.

»Weiße Hände, die gerne im Schoß liegen – das Rätsel ist nicht schwer zu lösen«, sagte da Madam Kantor mit der geraden Ehrlichkeit, die man allgemein an ihr schätzte, auf Änne Wilke das Auge richtend.

Jetzt war es an dieser, rot zu werden. Mariechen errötete mit ihr, teils, weil die Mutter so wenig ein Blatt vor den Mund nahm, teils, weil sie sich für die Freundinnen verantwortlich fühlte.

»In dem Leuchter flammt ein helles Licht für alles Schöne, besonders für die Kunst«, beendete die Mutter die Reihe. »Und nun wollen wir den Kaffeetisch abräumen, und dann sollen Sie uns berichten, was es in Berlin Neues gibt!« Sie hielt es für ganz selbstverständlich, daß ihre jungen Gäste mit Hand anlegten.

Hanna, Martha und Änne dachten nicht daran. Sie ließen die andern für sich arbeiten. Hanna war es, trotz Tante Mathildes Erziehung, nicht gewöhnt, sich ohne besondere Aufforderung hauswirtschaftlich zu betätigen. Martha schaute auf das Häuschen mit dem Storchnest inmitten der Obstblüte; sie zog ein kleines Skizzenbuch aus der Tasche und begann zu zeichnen. Änne aber fand es nicht vornehm, als Gast selbst den Kaffeetisch abzuräumen; sie wußte, was sich gesellschaftlich gehörte.

Der Kantor hatte seine Pfeife in Brand, seine liebe Frau die Stricknadeln in Bewegung gesetzt, als die fleißigen Heinzelmännchen zurückkehrten. Auch die jungen Mädchen zogen Strickstrumpf oder Häkelarbeit aus dem Beutel. Nur Hanna Kruse saß müßig daneben. Ihre Lippen verzogen sich spöttisch. Da war ja das Maienkränzchen in dem richtigen Fahrwasser. Von fern hörte man das Jauchzen und Lachen der Kinder, die sich aus dem Staube gemacht hatten. Die Hühner hielten Nachlese bei den Kuchenkrümeln.

»Es ist sonderbar«, begann der Kantor, den Rauchwolken nachschauend, »daß Menschen, die sich zum erstenmal begegnen, lange schon, ohne daß sie es wußten, miteinander verbunden gewesen sind. Sehen Sie, Mamsell Doussin« – er gebrauchte die altmodische, in Neu-Trebbin noch gebräuchliche Anrede, »kennen Sie diese Firma?« Damit zog er ein Päckchen Tabak aus der Tasche seines grauen Flauschrockes. »Tabakfabrik Doussin, gegründet 1764, Berlin, Heilige-Geist-Straße« stand darauf gedruckt.

Fränze errötete erfreut. Was war das für ein gutes Gefühl, wenn man draußen in der Fremde sein Vaterhaus hochgehalten sah!

»Ich war selbst mal bei Ihnen, habe den alten Doussin, Ihren Großvater – Gott hab' ihn selig! – noch gekannt. Ist denn die große weiße Porzellantonne auf dem Ladentisch noch vorhanden, aus der jeder Kunde nach Belieben sein Prischen nehmen durfte?«

»Freilich«, entgegnete Fränze lachend. »Sie trägt immer noch die Aufschrift:

Wohl bekomm es! Jedermann
Gratis hieraus schnupfen kann.

Als ich ein Kind war, habe ich immer geglaubt, gratis sei eine besondere Art von Tabak. Und um ›Bonbon‹ – so hieß eine bestimmte Sorte Schnupftabak – habe ich so lange gebettelt, bis einer der Verkäufer meinen Wunsch erfüllte. Da hatte ich genug davon für alle Zeiten.«

»Schade!« sagte der Kantor lachend. »Ich wollte den jungen Damen gerade ein Prischen offerieren.« Er zog die große Horndose heraus, klopfte dreimal, ehe er sie öffnete, und füllte sich bedächtig die Nase mit dem schwärzlichen Pulver, worauf er in ein kräftiges »Hatschi« ausbrach und das rotbunte Schnupftuch in Bewegung setzte.

»Wenn es noch Zigaretten wären!« meinte Hanna Kruse.

»Zigaretten? So modern sind wir hier auf dem Dorf noch nicht, Mamsellchen. Bei uns raucht man noch seine ehrliche Piep Tobak. Selbst Zigarren sind eine Üppigkeit.«

»Die Hanna tut, als ob sie täglich Zigaretten rauche«, neckte Eva.

»Täglich nicht, aber ab und zu habe ich schon mal gepafft. Bernhard schenkt mir öfters mal eine Zigarette. Ihr müßtet mal Tante Mathildes Gesicht sehen, wenn sie Zigarettenrauch in meinem Zimmer wittert!«

»Kann ich Ihrer Tante durchaus nicht verdenken. Ich teile deren Abscheu gegen ein rauchendes weibliches Wesen, kann es mir überhaupt nicht vorstellen«, fiel Madam Kantor lebhaft ein. »Wo bliebe da weibliche Anmut?«

»Wenn's Mode wäre, würde kein Mensch nach weiblicher Anmut fragen. Es ist ja noch gar nicht so lang her, daß die Frauen geschnupft haben. Findet ihr das etwa schöner, wenn ein junges Mädchen ein Prischen nimmt, als wenn es raucht?«

»Ich finde beides entsetzlich«, sagte Gustchen mit ehrlichem Widerwillen.

Die übrigen pflichteten ihr bei.

»Also, wie schaut's aus, bei euch in Berlin? Was gibt's Neues?« erkundigte sich Mariechen, die als Dorfkind der Ansicht war, daß in der Großstadt immer etwas geschehen müsse.

»Ach, der Rathausturm steht noch und auch die Singe-Uhr!« berichtete ihre Base Lisabeth lachend.

»Wie bewährt sich denn das Petroleum als Leuchtstoff?« erkundigte sich Madam Kantor. »Ist es nicht beängstigend, etwas so Feuergefährliches im Hause zu haben? Ich möchte um alles in der Welt keine Petroleumlampe brennen. Ich käme aus der Angst, daß sie explodieren könnte, nicht heraus.«

»Ich glaube nicht, daß sie gefährlicher ist als Gasbeleuchtung«, meinte Fränze. »Wenn man da mal vergißt, den Hahn fest zu schließen, ist man futsch.«

»Wer wird sich auch in solche Lebensgefahr begeben!« eiferte Mariechens Mutter. »Ich lobe mir unsere Öllampen; da kann wenigstens nichts vorkommen.«

Die großstädtischen jungen Mädchen unterdrückten ein Lächeln. Öllampen – Moderatörlampen, wie zu Großvaters Zeiten – brannte man hier noch. War man in Neu-Trebbin rückständig!

»Eine Pferdebahn soll nach dem Zoologischen Garten gebaut werden. Vorläufig ist es noch ein bloßer Plan«, berichtete Änne Wilke.

»Die Berliner werden immer großspuriger. Als ob die Torwagen nicht genügen! Meistens bleiben die auch noch leer.« Der Kantor paffte unmutig über die Großspurigkeit der Berliner dicke Tabakswolken in die Frühlingsluft. »Erzählen Sie uns lieber etwas von der Kunst, die in der Hauptstadt blüht und gedeiht! Wird gute Musik gemacht?« Kantor Dorfmüller war ein durch und durch musikalischer Herr. Musik war das einzige, was ihn nach Berlin zog.

»Ja, von der Schloßwache und der Wachtparade«, scherzte Änne, das Soldatenkind. »Wenn das Militär mit Schnätteräteng und Taratabum durch die Straßen zieht, läuft alt und jung mit. So musikalisch sind wir Berliner.«

»Es gibt auch welche, Änne, die mindestens einmal in der Woche für zwei gute Groschen zu Liebigs Symphoniekonzert gehen«, berichtete Fränze lächelnd. »Wir treffen uns dort häufig mit unsern Bekannten. Körners sind ja auch meistens da. Es wird vorzügliche Orchestermusik gemacht, nur klassisches Programm: Beethoven, Mozart, Haydn.«

»Das wäre etwas für mich.« Die Vergißmeinnichtaugen des Kantors blitzten. »Gute Musik entbehrt man hier auf dem Lande. Ein Zaubermittel müßte erfunden werden, das die Entfernung überbrückt und uns an diesen Genüssen teilnehmen läßt. Wo finden die Symphoniekonzerte statt, Mamsell Doussin?«

»In Sommers Salon, gleich vor dem Potsdamer Tor. Sie werden die Gegend nicht kennen, Herr Kantor, weil es schon außerhalb Berlins ist. Helmerding, unser aller Schwarm, besang die Potsdamer Straße neulich.«

»Kommt man vor das Potsdamer Tor,
Kommt Berlin einem wie ein Blumengarten vor«,

begann Fränze mit heller Stimme zu trällern.

»Doch, ich erinnere mich« – der Kantor hatte seine Studienjahre in Berlin zugebracht –, »das muß die mit Weiden bepflanzte Landstraße sein, die nach dem Dorfe Schöneberg führt. Also eine Straße ist das inzwischen geworden? Ja, Berlin wächst.«

»Von Straße ist da noch nicht viel zu sehen, Herr Kantor. Fast alles Gartenland, ab und zu mal ein Landhäuschen dazwischen«, berichtete eine der jungen Damen.

»Fontane, der märkische Dichter, wohnt ja dort in der Gegend, nicht wahr?« Es zeigte sich, daß der Kantor, trotzdem er Neu-Trebbiner war, besser Bescheid wußte als die jungen Berlinerinnen.

»Ich weiß nur, daß der Maler Anton von Werner dort sein Haus hat«, erzählte Martha, die Künstlertochter. »Und auch der alte Menzel hat dort sein Stammlokal. Mein Vater trifft ihn dort öfters.«

»Ich gehe lieber zu Bilse in der Leipziger Straße ins Konzerthaus. Da ist jeden Donnerstag Volksliederabend«, nahm Eva Nikolai das Musikgespräch wieder auf.

»Ach, ins musikalische Heiratskontor!« Fränze lachte die Freundin aus. »Wer hätte das von unserm tugendhaften Evchen, dem zukünftigen Vorbilde der Jugend, gedacht?«

»Wieso musikalisches Heiratskontor?« fragte Eva mit den erstaunten Augen eines Wickelkindes. »Onkel geht ganz gern mit Mutter und mir dort mal hin.«

»Kann jeder sagen«, Fränze war in ausgelassenster Laune. »Es gibt da viele Onkels. Kennt ihr nicht den Berliner Vers:

Ick fragte ihr bei Bilse,
Ob heiraten mir will se.
Da haucht' die kleene Ilse:
Jawoll – mir will se.«

Sie hatte die Lacher auf ihrer Seite. – Der Kantor schien ganz entzückt von dem lustigen, frischen Ding, und als Mariechen noch vorschlug: »Vater, mit der Fränze kannst du vierhändig spielen; die wird Haydn besser im Takt spielen als ich«, da sagte er im Brustton der Überzeugung: »Bei Doussin gibt's keinen schlechten Tabak.«

»Also heute abend wird ein musikalischer Abend in Szene gesetzt, Berliner Gastspiel in Neu-Trebbin«, verkündete Lisabeth.

»Ein Volksliederabend. Da können wir alle mitwirken«, rief Eva.

»Mit oder ohne Heiratskontor?« Die Fränze war heute wirklich ganz aus dem Häuschen.

»Leider kann ich euch als Kavaliere nur Hans und Peter stellen«, bemerkte Mariechen lachend, »allenfalls noch meinen Hinzpeter.« Sie strich dem Kater, der stets seinen Ehrenplatz auf ihrem Schoß hatte, über das Fell.

»Und jetzt wollte ich vorschlagen, daß wir einen schönen Spaziergang machen. Ich muß euch doch meine Heimat zeigen.«

Über blumige Wiesen, am klaren Bächlein entlang, wanderte man in die goldne Abendsonne hinein. Lichtgrüner Buchenwald wölbte seinen Frühlingsdom über die junge Schar. Von der Dorfkirche kam Glockenklang. Man läutete das Pfingstfest ein.

»Gottesfrieden ist hier bei euch«, gab Fränze dem Gefühl, das alle durchzog, Ausdruck. »Du hast es gut, Mariechen. Ich meine, hier muß man ein besserer Mensch sein als in der Stadt.«

»Und ich habe vorhin, als ihr von Musik und Kunst spracht, gedacht, was wir auf dem Lande hier alles entbehren. Ich mag trotzdem nicht tauschen. Aber man sieht eben, es gibt nichts Vollkommenes in der Welt.«

»Dieser Frühlingsabend ist vollkommen.« Martha trank die Zartheit der schwimmenden Farben mit Maleraugen.

»Goldne Abendsonne, wie bist du so schön!« begann Gustchen mit heller Stimme zu schmettern.

»Generalprobe für heute abend.« Der Chor fiel dreistimmig ein. An der klappernden Mühle vorbei ging's. »Das Wandern ist des Müllers Lust ...« Man brachte dem Müller ein Ständchen. Blaue Schwalben zogen ihre Kreise in blauer Frühlingsluft. »Was die Schwalbe sang ...« So klang es die Dorfstraße entlang.

Da saßen die Dorfbewohner alle, Feierabend haltend, auf der Hausbank vor den Türen. Schwielige Hände griffen an die Mütze, alt und jung grüßte freundlich. Kantors Mariechen mit ihrem Berliner Besuch! Allgemein beliebt war Mariechen. Die Dorfkinder liefen herzu und reichten das mehr oder minder saubere Händchen. Runzelige Gesichter verklärten sich alsbald.

»Solch ein Dorf ist wie eine große Familie. Einer nimmt teil am Ergehen des andern. In der Stadt lebt man aneinander vorbei«, meinte Fränze, nachdenklich geworden.

»In der Stadt sollte sich eigentlich noch mehr einer um den andern kümmern. Da gibt es doch sicher mehr Elend als bei uns«, überlegte Mariechen.

»Da ist jeder zu sehr mit sich selbst beschäftigt, Mariechen.«

»Nicht alle, Fränze. Es gibt Leute, die Gemeinschaftssinn haben«, widersprach Hanna. »Auguste Schmidt – du weißt doch, die Dame, die in unserm Hause wohnt – und Luise Otto-Peters, die Begründerinnen des deutschen Frauenvereins, treten unermüdlich für die unterdrückten Frauen ein.«

»Muh, mu–u–uh!« erklang es da in Hannas Ausführungen. Die Dorfkühe kamen von der Weide.

»Die meinen auch, daß solch ein wonniger Maiabend nicht die richtige Zeit für derartige Gespräche ist«, rief Lisabeth lachend.

»Aber morgen vormittag findet Maienkränzchen-Sitzung statt«, verkündete Hanna. »Wir wollen sehen, was eine jede von uns in diesem Jahre geschafft und geleistet hat. Es ist ganz gut, wenn man ab und an mal auf einer Wanderung stehen bleibt und sich oder andern Rechenschaft gibt über den zurückgelegten Weg.«

Die Freundinnen schwiegen. Hannas Vorschlag erschien ihnen überspannt. Ach, was hatte man denn das Jahr über geleistet? So und so viele Paare Strümpfe gestrickt, ein bissel in der Wirtschaft mit Hand angelegt, ein paar neue Sonaten geübt und im übrigen sein junges Leben sorglos genossen. Wenigstens die Mehrzahl von ihnen hatte doch keine andern Pflichten.

Madam Kantor hatte Mariechen überrascht und bereits das ländliche Abendbrot vorbereitet, als die Mädchen zurückkamen. Der Kantor drängte, daß nicht zu lange getafelt wurde. Er wollte sein Konzert haben.

Und nun saß er an seinem alten Klavier am weit geöffneten Fenster, die jungen Mädchen draußen in der lichten Abenddämmerung. Süß duftete der Flieder. Der Kantor begann einen Choral zu präludieren, um den Feiertag, der sich auf die Welt herabsenkte, zu empfangen. Junge Stimmen fielen ein. Durch das blühende Frühlingsland zog die fromme Weise. Volkslieder reihten sich daran. Unermüdlich spielte der Kantor, unermüdlich waren die jungen Stimmen. Die stille Dorfstraße belebte sich. Aus allen Häuschen kamen sie herbei, die Zaungäste, alt und jung, groß und klein, angelockt von den Klängen.

»Mamsell Doussin, wollen Sie uns nicht mal ein Sololiedchen zum besten geben?« bat der Kantor. »Sie haben eine schöne und vor allem eine musikalische Stimme.«

»Ich bekomme erst im nächsten Winter Gesangstunde«, wandte Fränze ein.

»Aber du singst doch schon im Gesangverein mit«, verriet Schwester Klärchen.

»Also meinetwegen!« Fränze empfand es selbst, daß es dumm wäre, sich zu zieren. »Herr Kantor, wenn Sie die Güte haben wollen, ›Der Mai ist gekommen‹ zu spielen. Ich bitte, den Refrain im Chor zu wiederholen.« Sie machte ein verschmitztes Gesicht. Und nun begann sie mit heller Stimme zu schmettern:

»Der Mai ist gekommen, in Maien prangt das Haus,
Da geht es zum Kränzchen nach Neu-Trebbin hinaus.
Bei Kantors, so gastlich, im blühenden Nest,
Gar freudig wir feiern das liebliche Fest.

Manschen, so emsig im Haus die Hände regt,
Die Blümchen im Garten sie pflanzet und pflegt.
Im Kochen und Backen, da glänzet Lisabeth,
Fragt nur die Pensionäre! Die werden dick und fett.

Das Gustchen, bescheiden, ist Heimchen am Herd,
Die Eva, die büffelt, wird schrecklich gelehrt,
Doch Hanna – ich glaube, der Himmel stürzet ein –
Trotz Tante Mathilde studieret sie Latein.

Es malet die Martha in Essig und Öl,
Ob auch das Mamachen drauf blicket recht scheel.
Und Änne, die Krabbe, nett flirten sie kann,
Doch erst mit dem Leutnant fängt der Mensch bei ihr an.

Zum Schluß bleibet übrig noch meine Wenigkeit.
Da schweiget der Sänger nur aus Bescheidenheit.
Ich bitt' um Verzeihung für meine Dichterei –
Das Maienkränzchen lebe, es blühe und gedeih!«

Schmetternd im Chor wurde der Refrain wiederholt. »Das Maienkränzchen lebe, es blühe und gedeih!« echote es von der Dorfstraße. Horch – Männerstimmen! Und während sich die Freundinnen lachend um die Hauspoetin scharten, rief es draußen: »Die ungeladenen Gäste finden sich zum Maienkränzchen ein, auch auf die Gefahr hin, unter den Tisch zu kommen.« Küttners waren es, der Hermann und der Emil.

»Vorstellung tut nicht not. Mutter Milenzens Wagenladung ist uns hinreichend bekannt«, scherzte der eine, und der andere bat: »Einen Walzer, Herr Kantor, aber einen schmalzigen!«

»Heute am Vorabend des Festes will mir diese Lustigkeit nicht gefallen«, meinte der Kantor bedächtig.

Er begann Bach zu spielen. Unter den schlichten, frommen Klängen ebbten die Wogen der jugendlichen Ausgelassenheit zurück. Die jungen Herren entledigten sich ihres mütterlichen Auftrages, das Maienkränzchen zum ersten Pfingstfeiertag feierlichst auf das Gut zu bitten. »Zum Kaffee mit Abendbrotschwanz. Da können wir ruhig einen Hopsa machen, Mariechen. Unsere Alten nehmen es nicht so genau«, fügte Emil fröhlich hinzu.

Der Kantor schloß den Klavierdeckel. »So, morgen ist auch noch ein Tag«, sagte er, worauf sich die jungen Herren, die ihrem verehrten Lehrer seine Deutlichkeit nicht krumm nahmen, verabschiedeten.

Jetzt begann erst die eigentliche Fidelitas. Das kleine Kantorhäuschen faßte die Logiergäste bei weitem nicht. Man hatte sie auf dem Heuboden beim Nachbar einquartiert. Zwei waren auserwählt, in Mariechens Stübchen in Betten zu schlafen; aber keine wollte davon Gebrauch machen, nicht einmal Änne. Schließlich wurde Klärchen und Ännchen, den jüngeren Schwestern, diese Ehre zuteil. Das gesamte Maienkränzchen wanderte unter Lachen und Juchhei auf den Heuboden, und der Mond leuchtete ihnen.

Was bleibt noch von dem ersten Maienkränzchen zu berichten? Nach dem Gottesdienst im schlichten Dorfkirchlein, bei dem der Kantor wundervoll die Orgel spielte, berief Hanna ihre Getreuen zur Sitzung unter der Rotdornhecke. Hanna hatte in diesem Jahr bei ihrer geistigen Arbeit selbständig denken gelernt. Durch den Umgang mit der bedeutenden Frau in ihrem Hause war sie gereift. »Ich habe den Eindruck«, begann sie, »als ob die meisten von euch ganz zwecklos leben. Euer Leben hat keinen Inhalt. Sagt, was habt ihr in diesem Jahr außer dem alltäglichen Kram, wie Kochen, Stricken und mehr oder weniger nützlichen Handarbeiten erstrebt und erreicht?« forschte sie.

Mit heller Stimme begann Fränze zu schmettern: »Der Mai ist gekommen ...«

»Ich habe zu porträtieren versucht«, begann Martha.

»Gut, immerhin ein Anfang! Und du, Änne?«

»Ich will versuchen, mir meine Kleider selbst zu machen.«

»Damit leistest du für die Menschheit nicht viel.«

»Man kann auch im kleinen Kreise wirken, Hanna. Sieh Gustchen an!« wendete Fränze ein.

»Da hast du recht. Aber Gustchen ist eine Ausnahme. Sie ist notwendig für die Ihrigen. – Lisabeth, bist du für deine Tätigkeit daheim nötig?«

Lisabeth überlegte. »Ich entlaste die Mutter. Wenn ich aber nicht da bin, schafft sie's auch allein«, gab sie ehrlich zu. »Und mit Vater habe ich diesen Winter Goethe gelesen.«

»Da hast du wenigstens einen guten Gebrauch von deiner Zeit gemacht.«

»Du, Eva, hast sicher am meisten an Weisheit aufgespeichert.«

»Ich hoffe nächste Ostern meine Lehrerinnenprüfung ablegen zu können. Ich will unabhängig sein von Onkels Gnade.«

»Bravo! Doch wenigstens ein selbständiges, auf ein Ziel lossteuerndes Mädel unter uns – außer mir natürlich.«

»Du hast doch auch noch nichts erreicht, Hanna.« Fränze ärgerte sich, daß Hanna sich so aufspielte.

»Daß ich die engen Grenzen, die der Frauenbildung gesteckt sind, überschritten habe, daß ich nicht zwecklos leben will, sondern mich ungeachtet aller Schwierigkeiten, die sich mir in den Weg stellen, durchsetzen werde, ist schon sehr viel für den Anfang. Hast du mehr geleistet?«

Fränze schwieg. Die paar Gedichte, die sie verbrochen – nein, das war nichts. An etwas Wertvolles, Ernstes hatte sie sich nicht herangewagt. Hatte sie wirklich zwecklos gelebt? »Ich habe gute Musik gemacht«, sagte sie etwas kleinlaut.

»Das ist Luxus, keine Arbeit, wenn du nicht ein ernstes Studium daraus machst«, erklärte Hanna. »Und nun noch unsere Wirtin. Mariechen war in ihrem Garten fleißig; ihre Blumen brauchen sie, nicht wahr?«

»Nicht nur die Blumen, auch meine andern Pfleglinge: die blinde Mutter Timig, der ich regelmäßig vorlese, die Kranken, denen ich ein kräftiges Süppchen koche, und die lütten Dorfgören, die ich beaufsichtige, wenn ihre Mütter auf Tagelohn gehen.« Mariechen sagte das so schlicht und bescheiden, als sei das alles ganz selbstverständlich.

Da schwiegen alle, auch Hanna. Jede fühlte, daß Mariechen ihrem Leben den besten Inhalt gab.


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