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Sechzehntes Kapitel

Was blasen die Trompeten?

Mit Punsch und Pfannkuchen, mit Silvesterball, Bleigießen und Prosit-Neujahr-Rufen hatte das neue Jahr unter Glockengeläut seinen Einzug in die Welt gehalten, besonders freudig empfangen, da es ein neues Dezennium erschloß. Keiner der Lachenden und Tanzenden ahnte es in der Silvesternacht, was das Jahr 1870 für gewaltige Eingriffe und Veränderungen in das staatliche und bürgerliche Leben tragen würde.

Für den größeren Teil der Maienkränzlerinnen brachte der Winter fleißige Arbeit. Eva Nikolai war vollständig von Prüfungswolken verhüllt. Hanna Kruse arbeitete ebenso zielbewußt. Zu Ostern mußte sie ihr erstes Ziel erreicht haben; dann kam der Kampf um das Studium. Es würde ein scharfer Kampf werden, das wußte sie vorher. Vater, Tante und Bruder standen noch genau so verständnislos und ablehnend dem »extravaganten« Frauenstudium gegenüber wie im Anfang.

Für Fränze Doussin war das Viktoria-Lyzeum eine Quelle von geistigen Anregungen geworden. Sie hatte dort ihr Wissen vertieft und Interessen bekommen, die außerhalb der gewöhnlichen Mädchenbildung lagen. Schwester Klärchen war es denn auch ganz unverständlich, daß Fränzchen noch immer wie ein Schulmädel lernte und Bücher studierte, anstatt wie sie froh zu sein, daß sie den Krempel glücklich hinter sich hatte. Klärchen war ein geistig unbeschwertes, munteres Ding, wirtschaftlich und anstellig, ein Haustöchterchen, wie man es sich nur wünschen konnte.

Fränzes Interesse richtete sich auf ganz merkwürdige Dinge. Einen elenden kleinen Jungen, den sie auf dem Weihnachtsmarkt kennengelernt, hatte sie so warm als Ladenjungen empfohlen, als der bisherige in einen höheren Posten rückte, daß der Vater den Bitten der Tochter schließlich nachgegeben hatte. Fränzes Schützling hatte sich übrigens besser gemacht, als man zuerst geglaubt hatte. Sogar körperlich hatte er sich entwickelt; ob durch Mines kräftiges Essen oder durch die Keilereien mit den zukünftigen Chefs der Firma, war nicht genau festzustellen. Auch für die Arbeiter in der Fabrik zeigte Fränze immer noch seltsames Interesse. Sollte sie auf dem Zinkdach, auf dem Tabak, oft aber auch Wäsche getrocknet wurde, beim Aushängen helfen, so vergaß sie meistens, wozu sie eigentlich da war, und ließ sich, statt die Wäschestücke auf die Leine zu bringen, von den Tabakspinnerinnen über ihre häuslichen Privatverhältnisse berichten. Was ging eine Doussinsche Tochter diese Welt der Armut an? Man gab jährlich genug Summen für Wohltätigkeitszwecke. Wirklich, das beste wäre, die Fränze heiratete bald. Der junge Reisende Robert Weber, der für die Firma reiste, gefiel der Mutter gar nicht schlecht als Schwiegersohn. –

In das Körnersche Haus hatte das neue Jahr wenig Erfreuliches gebracht. Der Professor hatte im März einen Schlaganfall erlitten. Doktor Kruse, der Hausarzt, verlangte, daß er um seine Pensionierung einkommen solle. Professor Körner brauchte unbedingt Ruhe, durfte nicht länger den Aufregungen, die der Lehrerberuf mit sich brachte, ausgesetzt sein.

Das waren schwere Sorgenwochen für Lisabeth und für ihre Mutter gewesen. Sie bangten um den sich nur langsam erholenden Vater und um die Zukunft. Was sollte nun werden? Lisabeth hatte nichts gelernt. Allenfalls konnte sie als Stütze in eine Familie gehen. –

Im Blütchenhause in der Fischerstraße blühte und zwitscherte es nach wie vor. Gustel tummelte sich, sang und lachte mit den Geschwistern und merkte in dem Gleichmaß der Tage kaum, wie ein Jahr das andere ablöste. –

Bei Hauptmanns war immer noch Schmalhans Küchenmeister. Dafür gab man feine Gesellschaften, bei denen besternte Uniformen glänzten. Ännes Denken gipfelte in den Hofbällen, zu denen sie diesen Winter eingeführt werden sollte. –

Martha Leuchter aber träumte von Italien. Der Vater beabsichtigte, sein Berliner Heim aufzugeben und nach Florenz, der Stadt der Kunst, überzusiedeln. Auch für die Tochter, deren starkes Talent der Altmeister der Malerei, Professor Menzel, bestätigte, versprach er sich viel davon. –

In Neu-Trebbin hatte das Jahr kaum etwas verändert. Mariechens Blumen blühten, welkten und trieben wiederum Knospen. Erwähnenswert war allenfalls, daß fünf neue junge Störche droben im Nest die Schnäbel aufsperrten und daß Hermann Küttner, der Freund aus Kindertagen, alle Wochen einmal auf seinem Fuchs vor dem Kantorhäuschen hielt.

So sah es bei den Maienkränzlerinnen aus, als sie am Pfingstsonnabend wiederum sich zum Maienkranz vereinten.

Mit dem Torwagen nach dem Dörfchen Pankow gondelte man, diesmal vom Schönhauser Tor aus, für zwei gute Groschen. Der größere Teil der Maienkränzlerinnen, in deren Kassen Ebbe war – das war kein Ausnahmezustand, sondern der gewöhnliche –, wanderte zu Fuß den ganzen Weg, den Schönhauser Berg hinauf an all den Windmühlen vorbei, trotzdem der Kutscher, der mit seinem Torwagen nicht eher abfuhr, als bis alle Plätze besetzt waren, mit lockender Stimme ausrief: »Immer rin ins Vajniejen, meine Herrschaften! Es fehlt man bloß noch eene lumpichte Person.« Man hatte ja auch noch am Chausseehaus seinen Zoll zu entrichten. Das Merkwürdige aber war, daß die Fußgänger früher den Lindnerschen Dorfkrug in Pankow erreichten als die Fahrenden. Die abgetriebenen Gäule zuckelten langsamer die Pankower Chaussee entlang als die wandernde Jugend.

Unter frühlingsgrünen Linden saß das Maienkränzchen in dem gemütlichen Pankower Dorfkrug, an dessen Eingang ein großes Schild prangte mit den in echtem Berliner Witz verdrehten Worten: »Hier können Kaffern Familien kochen.« Beim selbstgebrauten Kaffee und bei Riesenmuspfannkuchen berichteten sie, was man seit dem letzten Beisammensein erlebt hatte.

»Das Maienkränzchen ist wie ein Meilenstein auf unserer Lebenschaussee«, sagte Fränze Doussin nachdenklich. »Man bleibt stehen, verpustet sich und schaut den Weg zurück, den man gegangen. Ob man inzwischen ein Stück vorwärts gekommen ist?«

»Mancher dreht sich bloß im Kreise und denkt wunder, was er erreicht hat; dabei steht er noch an derselben Stelle, von der er ausgegangen ist«, meinte Hanna. Sie dachte an die kürzlichen Kämpfe im Familienrat um ihre Berufsfreiheit. Der Vater, der sonst seiner Tochter alles zuliebe tat, war halsstarr geblieben. Nichts hatte sie erreicht. Es hieß jetzt nicht mehr biegen, sondern brechen.

»Für mich bedeutet das Maienkränzchen ein Vorwärtsschauen. Ich sammle im Verein mit euch neue Kraft, neuen Mut für die Weiterwanderung«, sagte Lisabeth, einen Seufzer zurückdrängend.

Mariechen, die aus Neu-Trebbin herübergekommen war, drückte der Base mitfühlend die Hand.

»Was wirst du beginnen, Lisabeth?« erkundigte sich Hanna teilnehmend. »So traurig die Veranlassung auch ist, so gut ist es für dich, daß du jetzt gezwungen bist, dein Lebensschiff aus dem Familienhafen heraus mit eigener Hand zu steuern. Welchen Kurs wirst du nehmen?«

»Wenn ich das wüßte! Ich bin ein unbegabtes Menschenkind, das nichts weiter versteht, als hauswirtschaftlich die Hände zu regen«, klagte Lisabeth. »Mutter grämt sich, daß ich unter fremde Leute gehen will.«

»Dazu liegt kein Grund vor, Lisabeth. Ich bin auch im Begriff, mir ein neues Leben zu zimmern«, erklärte Eva. »Ich bin froh, daß ich meine Lehrerinnenprüfung glücklich bestanden habe und nicht länger Almosen vom Onkel annehmen muß. Mir sind Gouvernantenstellen in England, in Lettland und auf einem oberschlesischen Gut angeboten worden. Ich bin noch unentschlossen, welche ich annehme. Die Trennung von Mutter spricht natürlich mit.«

»Das darf sie nicht«, eiferte Hanna. »Es ist ganz gleich, ob du einen Tag länger zur Reise brauchst oder nicht. Du erweiterst deinen Horizont, wenn du ins Ausland gehst.«

»Um's Himmels willen, Eva, gehe nicht so weit fort! Ganz allein in ein fremdes Land, unter fremde Menschen? Ich glaube, ich würde von morgens bis abends nichts anderes tun, als vor Heimweh heulen«, sagte Mariechen Dorfmüller aufgeregt.

»Ich muß gestehen, daß mir auch angst und bange wird, wenn ich daran denke«, gab Eva zu. »Aber ich habe dort Arbeit und Pflichten, kann meine Zöglinge hoffentlich fördern und Gutes wirken.«

»Eva, du mußt dem von Auguste Schmidt neugegründeten Lehrerinnenverein beitreten«, warb Hanna. »Die beruflich tätigen Frauen sollten sich organisieren.«

»Das ist mir zu unweiblich«, lehnte Eva ab.

Hanna schürzte spöttisch die Lippe. »Nun, Lisabeth, hoffentlich ist dir mein Vorschlag, den ich dir machen möchte, nicht auch zu unweiblich. Melde dich im Letteverein! Baue deine wirtschaftlichen Fähigkeiten dort aus und versuche, als gewerbliche Lehrerin angestellt zu werden! In der letzten Sitzung des Deutschen Frauenvereins wurde dieser Beruf warm empfohlen. Als ›Stütze‹ bist du doch nur besserer Dienstbote.«

»Meinst du wirklich, Hanna, daß meine bescheidenen Fähigkeiten dazu ausreichen könnten?« fragte Lisabeth halb hoffnungsvoll, halb zaghaft.

»Wer seine Kräfte nicht erprobt, kennt sie nicht.«

Das waren ernsthafte Gespräche bei Vogelgezwitscher und Frühlingsgrün aus jungem Munde. Aber als man dann die Dorfaue entlang an all den Häuschen aus Urgroßvätertagen, an den altmodischen Bauerngärten vorüberzog in den herrlichen, alten Schloßgarten mit seinen vielhundertjährigen Eichen, mit den gewaltigen Platanen und Riesenbuchen, kam auch der Jugendfrohsinn wieder zu seinem Recht. Dann wurde noch eine idyllische Sommerwohnung für Doussins ausfindig gemacht; denn dieses Jahr wollte man zur Abwechslung mal nach Pankow in die Sommerfrische gehen.

Auf dem Heimweg hatte Änne das Wort. Sie berichtete aus einer andern Welt – Hofgeschichten, daß die Königin Augusta sie einer Ansprache gewürdigt habe und daß sie dem kühnen Adler Preußens, dem Grafen Bismarck, vorgestellt worden sei. Von einem lustigen Leutnant, einem Freund ihres Vetters, war aber mindestens soviel die Rede. Es war ein Unglück, daß die Leutnants nur heiraten durften, wenn das Kommißvermögen gestellt werden konnte. Wie sollte eine Soldatentochter das aufbringen, wenn man keinen reichen Onkel in Amerika hatte! Ja, es war schon eine Tränenwelt. Trotzdem lachte Änne vergnügt und leichtsinnig.

Während jeder sein kleines Einzelschicksal als Mittelpunkt alles Geschehens ansah, verdichteten sich am politischen Horizont die Wolken. Von Westen, jenseits des Rheins, zog drohend das Kriegsgewitter auf. Dumpfe Schwüle vor dem Sturm brütete in jenen heißen Julitagen des Jahres 1870 in den glutigen Straßen der preußischen Hauptstadt.

Bis in die idyllische Stille des Landhäuschens in Pankow wirbelte der politische Staub, der dem Gewitter voranging. Bei Mines Sonntagsbraten gerieten der Vater und die drei Sonntagsonkel in Hitze und Erregung. Man politisierte mit roten Köpfen.

Die Mutter beschwichtigte. Man solle das die Herren in Ems allein ausfechten lassen. Die Kinder saßen mit ängstlich-neugierigen Augen dabei. Fränze, die sich stets für Geschichte interessiert hatte, stand den Ereignissen jetzt, wo sie selbst Geschichte erlebte, ahnungslos, kaum interessiert gegenüber.

Die Depeschen vom l3. Juli über die Begegnung König Wilhelms mit dem französischen Gesandten Benedetti auf der Brunnenpromenade zu Ems mußten auch den größten Optimisten, die sich noch immer in Friedenshoffnungen ergingen, die Augen öffnen. Die Kriegsfackel war in das Land geschleudert. Geblendet stand man vor dem ersten zuckenden Blitzstrahl. Dann aber erhob sich Deutschland, Nord und Süd geeint, alle Gegensätze, aller Parteienhader der Stämme, Staaten und Bekenntnisse hinweggeschwemmt von der starken Begeisterungsbrandung deutschen Nationalgefühls. »Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein!« In jeder deutschen Brust glühte dieses Empfinden.

Mobilmachung! Das Räderwerk der ungeheuren Maschine setzte sich in Bewegung. In vierundzwanzig Stunden lösten sich Gatten, Väter, Söhne aus Beruf und Familie. Die deutschen Frauen, bisher nur die Hüterinnen des heimischen Herdes, wurden in diesen Tagen zu Heldinnen. Gemeinschaftsgefühl verband sie alle. Eine jede gab dem Vaterland das Liebste in selbstverständlicher Opferfreudigkeit.

Wie allenthalben, hatte sich auch der Familienkreis der Maienkränzlerinnen gelichtet. Hauptmann Wilke war sofort mit seinem Regiment ausgerückt. Die lustigen Leutnante frohlockten; nun kam man doch endlich aus dem faulen Schlendrian der Friedensjahre heraus. Ännes Hand schmückte ein Ringlein mit einem Vergißmeinnichtstein. Nachdenklicher, als es sonst ihre Art war, ruhte ihr Auge darauf. Sie bangte nicht, war sie doch ein Soldatenkind. Ach, daß sie auch ein Junge gewesen wäre und mit hinaus ins Feld hätte ziehen können!

Bei Doktor Kruse waren nur Tante Mathilde, Hanna und Moppel daheim geblieben. Als Oberstabsarzt übernahm Hannas Vater sofort ein Kriegslazarett. Der Student der Medizin ging als Sanitäter hinaus. Bruno hatte, bevor er sich zu seinem Truppenteil begab, trotz drängender Eile noch Abschiedsbesuch bei Doussins gemacht. Die Folge davon war, daß Fränzes Veilchenaugen Tränenspuren zeigten.

In dem alten Tabakhause war der Chef, Reserveoffizier, seinem Geschäftspersonal, seinen Arbeitern voran zu den Fahnen geeilt. Die Buchhalter klappten ihre Geschäftsbücher zu und vertauschten den Federhalter mit der Waffe. Die Kommis verließen den Ladentisch. Paketschläger, Böttcher, Kutscher und Tabakarbeiter folgten. Frau Doussin zeigte jetzt all ihre Tatkraft. Sie, die sonst nur Hausfrau gewesen, mußte jetzt Vater und Mutter sowie Chef in einer Person sein. Gut, daß der alte eingearbeitete Buchhalter lahmte; so blieb ihr eine bewährte Kraft als Ratgeber zur Seite, denn sie selbst verstand ja nichts vom Geschäft. Die Jungen lungerten den ganzen Tag an den Bahnhöfen herum, um die Truppenzüge abfahren zu sehen. Sie fochten als Preußen und Franzosen blutige Kämpfe aus, noch ehe draußen die Schlacht begann.

Im Körnerschen Hause hatte sich der junge Sohn in glühender Begeisterung als Freiwilliger gemeldet. Der Professor dachte nicht mehr an Schwäche und Schonung, sondern rückte wieder in die Lücken am Grauen Kloster ein, die durch die Einberufung der Lehrer ausgefüllt werden mußten.

Auch im Blütchenhause war der tüchtigste Geselle des Meisters, ein Vergißmeinnichtsträußlein von des Meisters Töchterlein an der Mütze, fortgezogen.

Selbst bis in die Dorfstille von Neu-Trebbin drang die Kriegsfanfare. Mariechens Jugendfreund hielt nicht mehr hoch zu Roß vor dem rosenumbuschten Kantorhäuschen, sondern war davongesprengt, des Vaterlandes Grenzen zu verteidigen.

Hals über Kopf waren Doussins aus ihrem Landhäuschen in Pankow wieder in die Stadt übergesiedelt. Jeder, auch die Frauen und Mädchen, die sonst nur für die kleinen, spielerischen Oberflächlichkeiten des Lebens Sinn gehabt hatten, waren sich plötzlich ernster Aufgaben bewußt. Das Vaterland forderte nicht nur die Männer, sondern verlangte auch von den deutschen Frauen daheim Einsetzung aller Kräfte.

Trotz Tante Mathildes Entsetzen hatte sich ihre Nichte Hanna sofort bereit erklärt, einen Schwesternkursus durchzumachen und dann als Pflegerin in des Vaters Kriegslazarett einzutreten. Aber auch bei ihrem Vater stieß Hanna auf Hindernisse. Keinesfalls wollte Doktor Kruse seine junge Tochter auf dem Ordnung und Sitten sprengenden Kriegschauplatz wissen. Er willigte schließlich darein, daß sie die in das Feld hinausgehenden Schwestern seiner Berliner Klinik ersetzen half. So siedelte Hanna alsbald in die im Universitätsviertel gelegene väterliche Klinik über, wo sie praktisch ausgebildet und rasch eine tüchtige Kraft wurde. Sie schrak vor nichts zurück. Keine Nachtwache war ihr zuviel. Als die Klinik sich später mit in die Heimat zurückbeförderten Verwundeten füllte, waren Hannas Organisationsgabe und ihre keine Ermüdung kennende Tatkraft allen andern ein Ansporn.

Tante Mathilde saß inzwischen lang und schmal an ihrem Erkerfenster mit dem Spionspiegel, zupfte mit spitzen Fingern alte Leinwand zu Scharpie und hielt trauliche Zwiesprache mit ihrem Moppel, der den plötzlich über Deutschland hereinbrausenden Kriegsturm ebensowenig begriff wie sie selbst.

Eva Nikolai hatte ihre Erzieherinnenlaufbahn nicht angetreten. Sie war als Hilfslehrerin in der Möbusschen Mädchenschule an Stelle eingezogener Lehrer eingetreten. Die andern Maienkränzlerinnen mußten sich damit begnügen, statt der üblichen Handarbeiten unermüdlich Scharpie für die Verwundeten zu zupfen, Liebespäckchen ins Feld zu senden und die Ereignisse auf dem Kriegschauplatze mit lebhaftester Anteilnahme zu verfolgen.

Fränze Doussin genügte dies nicht. Das Land war in fieberhafter Tätigkeit, jeder setzte seine Kräfte voll ein. Sollten nur die höheren Töchter wieder zurückstehen? Selbst die Jungen, Luchen und Huchen, halfen in ihren Freistunden unten im Laden Tüten kleben, da Fritze Piesecke als männliche Kraft in die Fabrik übernommen worden war.

An den hohen Buchhalterpulten mit den Messinglampen wollte Fränze sich bei den dickleibigen Kontorbüchern nützlich machen. Es dauerte lange, bis die Mutter ihre Einwilligung dazu gab. Mine, entschieden moderner denkend, machte schließlich ihren selten versagenden Einfluß bei Madam Doussin geltend. Dann mußte Fränze, die gerade im Rechnen niemals eine Leuchte gewesen war, erkennen, daß der jüngste Lehrling seine Sache besser und zuverlässiger machte als sie selbst. Mit gutem Willen allein war es nicht getan. Es fehlten ihr die Vorkenntnisse, die vollständige Sammlung. Sie wanderte durch die Fabrik, in der die Daheimgebliebenen ihre Kräfte verdoppelten, denn die Firma hatte Kriegslieferungen ins Feld zu senden. Man arbeitete für all die Braven draußen, die sich nach heißen Kämpfen an einer Prise, an einem Pfeifchen erquicken wollten. Auch hier fühlte sich Fränze überflüssig. Ob sie auch noch so freundlich mit den Leuten sprach, es war kein Ansporn, vielmehr ein Zeitversäumnis für die Fleißigen. Sie half beim Brauen des Kaffees in den großen Bunzlauer Kannen für die Arbeiter, die Nachtschicht hatten, beim Schneiden und Belegen der Brote. Jetzt, wo Tag und Nacht in der Fabrik gearbeitet wurde, fühlte auch Frau Doussin die Verpflichtung, für das leibliche Wohl ihrer Arbeiter zu sorgen. Fränze mußte sich aber sagen, daß die Mutter, Klärchen und Mine das auch ohne sie genau so gut machen würden. Auch hier war sie eigentlich überflüssig. Und das Scharpiezupfen, das Klärchen mit Leidenschaft betrieb, füllte sie schon ganz und gar nicht aus. Gab es denn keinen Platz in dieser Zeit höchster Kraftaufwendung, wo man sie wirklich brauchte?


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