Hermann Ungar
Die Klasse
Hermann Ungar

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

15. Kapitel

Die Halle mit den Waffen und ausgestopften Tierköpfen an den Wänden war nicht dunkel wie sonst. Die Vorhänge waren hochgezogen und das Licht des Tages fiel breit durch die großen Fenster. Auch Modlizki trug nicht seinen schwarzen Rock. Er hatte eine weiß- und blaugestreifte Joppe an und hielt einen Staublappen in der Hand. Nun verneigte er sich. Josef Blau hatte sich die Worte zurechtgelegt, »Töte mich, hier bin ich«, hatte er sagen wollen. Aber nun sah ihn Modlizki an in gemessener Ergebenheit, als erwarte er einen Befehl. Josef Blau schwieg.

»Es ist eine ungewohnte Zeit«, sagte Modlizki. Er schob Josef Blau einen Stuhl zurecht. Josef Blau setzte sich nicht. Modlizki fuhr nach einer Pause fort: »Die warme Jahreszeit beginnt. Es ist geraten, die Kleidungsstücke und Pelze durch Kampfer und Zeitungspapier gegen Motten zu schützen. Es ist ein bewährtes Mittel, nach menschlicher Voraussicht, möchte ich sagen.«

»Was sprichst du«, sagte Josef Blau. »Modlizki! Du weißt, warum ich gekommen bin! Ich habe die Schule verlassen. Du hast es ihnen eingegeben, kein anderer kann es gewesen sein. Du hast es der Mutter entlockt, oder Onkel Bobek. Karpel allein hätte es nicht gewagt, auch wenn er es wußte. Du haßt mich, Modlizki. Was willst du noch von mir, sprich, sprich! Wohin willst du mich treiben?«

»Ich verstehe nicht«, sagte Modlizki.

»Du verstehst nicht? Muß ich es dir deutlicher sagen? Hahaha, sie haben sie gezeichnet, nackt, mit kahl geschorenem Kopf und das Bild an die Tafel gehängt. Du hast es ihnen gesagt, du und kein anderer!«

»Kann nur ich es gewesen sein?«

Josef Blau stützte sich auf die Lehne des Stuhls, der neben ihm stand.

»Du hast recht«, sagte er leise. »Sie konnten es ... vielleicht wußten sie es ohne deine Hilfe ... Aber daß sie sie zeichneten ... Modlizki ... das war dein Einfall, leugne es nicht, Modlizki ... du haßt mich, alle, alle, gut, aber mich mit einem besonderen Haß, immer wollte ich davon sprechen, es gut machen, vielleicht bin ich nicht unschuldig, dachte ich, aber es hätte nichts genützt, ich habe deinen Blick nicht vergessen, bei Wismuth, wie lange ist das her, als sie mich ins Zimmer riefen und dich ließen sie in der Küche, du hast es nicht vergessen, wenn du mit mir sprichst, du denkst nur daran, daß sie dich in der Küche ließen und mich holten sie an den gedeckten Tisch. Das ist es, ich weiß es, Modlizki, dafür rächst du dich, aber wie lange noch, Modlizki, sieh mich an, ich will alles gut machen, vergiß es, es ist so lange her, wir waren Kinder, mach ein Ende, Modlizki!«

Modlizkis Gesicht war unbeweglich.

»Wismuth?« sagte er. »Ich erinnere mich dunkel. Ein Kaufmann mit kleinem Spitzbart und rundem Bauch. Ich glaubte, ich hätte ihn bei Herrn Colbert gesehen. Also irrte ich mich. Habe ich bei ihm gegessen? Ich hänge keinen Erinnerungen nach. – Ich habe diesen Vorwurf nicht erwartet. Wenn ich nicht wüßte, daß es ein Mann von hoher Bildung ist, der es mir sagt, würde ich lächeln, wenn es erlaubt ist. So bin ich mir bewußt, daß ich zu dumm bin, die Zusammenhänge zu verstehen.«

»Modlizki, ich habe mein Brot verloren, Modlizki! Du bist schuld! Du hast Laub gehaßt, aber mich noch mehr, sonst hättest du mich sterben lassen und nicht ihn ... o Gott ... o Gott ...«

Josef Blau ließ sich auf den Stuhl fallen. Er barg sein Gesicht in den Händen. Modlizki schwieg. Dann hörte Josef Blau wieder seine Stimme.

»Ich glaube, daß ich über alles gesprochen habe. Ich bin nicht verstanden worden. Ich hasse nicht und niemanden, habe ich es nicht gesagt? Wenn ich haßte, gehörte ich nicht dazu, wenn ich es recht ausdrücke? Aber wir gehören nicht dazu. Es ist ein großes Theater, auf dem die Herren und Damen spielen, und wir sitzen, denke ich, auf den dunklen Plätzen, einer neben dem anderen und rühren uns nicht und weinen nicht und lachen nicht und es ist, als hörten wir und sähen wir es nicht und ich glaube, daß einmal eine Unruhe über die Spieler kommen muß und dann Unordnung und Verzweiflung.«

»Ja, ja«, sagte Josef Blau. Dazu war er nicht gekommen. Er wollte sich erheben und gehen. Nicht mehr nach Hause zurückgehen. Alles hinter sich lassen, alle vergessen, ohne Schuld sein, in nichts mehr verwirrt sein und keiner Sache Ausgang. Er erhob sich. Er sah Modlizki nicht mehr. Er blickte aus dem Fenster in grüne Baumkronen. Er sah den Rücken der weißen, ruhigen Göttin. »Ja, ja«, sagte er, »über mich ist Unordnung und Verzweiflung gekommen.«

»Ich glaube, daß mir Unrecht geschieht. An diesen Fall dachte ich nicht und daran habe ich keine Schuld.«

»Wer denn? Karpel? Er hat sich ferngehalten. Er war nicht in der Schule. Warum ist er nicht selbst gekommen?«

»Ich habe nicht an diesen Fall gedacht, sage ich, und was den jungen Herrn betrifft, er ist nicht aus diesem Grund der Schule ferngeblieben, denn er steht vor anderen Dingen. Ich denke, es sollte alles einen anderen Weg nehmen und die Ordnung könnte anders sein und ich glaube, daß es gut wäre, wenn sie anders wäre, und darum stehe ich da! Denn wir sind eine große Masse und sie stehen uns gegenüber, jedem als einzelne, und es könnte anders werden, wenn wir aufsässig sind, aber gehorsam – denn wir haben keine Macht und man würde uns zwingen zu gehorchen –, wenn wir nicht lächeln, nicht weinen, keinen Anteil haben und in Wahnsinn und Verzweiflung treiben, daß uns zufällt, worauf unser Recht ist, denn wir sind groß und stark und eine unendliche Zahl. Darum ist es und nicht aus Haß! Denn ich sehe keinen anderen Weg als den ich gehe und man wird das Beispiel sehen und folgen.«

Modlizki trat einen Schritt zurück. Er sprach rascher als sonst. Josef Blau wandte seinen Blick vom Fenster ihm zu. Auf Modlizkis Stirn standen kleine Schweißtropfen.

»Ich bitte um Verzeihung, aber es ist ein Anlaß, daß ich es sage, und es ist nicht wegen des Bildes, sondern wegen des jungen Herrn. Der junge Herr Karpel ist in meine Hand gekommen. Ich habe nichts zu fürchten, wie auch immer es endet, denn ich habe nichts getan als Wünsche zu erfüllen und gehandelt wie ein Mann meines Standes zu handeln berufen ist. Mich quält kein Gewissen. Die jungen Herren verlieren die Gewalt der Nerven und auch ihre Väter werden sie verlieren, aber hier sind wir und wir haben keine Nerven und keine Erinnerung an Eltern, Lehrer und weiße Statuen und keine Bildung und so wird uns nichts rühren, wenn man dem Beispiel folgt. Ich habe den jungen Herrn nicht getäuscht, sondern er erkannte mich nicht, da er mich gehorsam fand und zu allem bereit und mich rührte nicht seine Güte und sein schlanker Körper und sein gepflegtes Haar, denn es durfte mich nicht rühren und ich hatte die Kraft zu widerstehen. Denn ich weiß, worum es geht und weshalb es geschehen muß. Wenn er mich rufen würde, würde ich nicht kommen. Aber der junge Herr wird mich nicht rufen.«

Modlizki trat ans Fenster. Er beugte sich über die Brüstung und blickte hinaus. Josef Blau folgte seinem Blick. Man konnte zwischen den Bäumen hindurch ein Stück der Straße und einige Gärten und Häuser sehen.

»Dort ist es«, sagte Modlizki und wies mit der Hand auf ein zweistöckiges Haus, ein Stück weiter der Stadt zu. »Die Fenster sind geöffnet.«

»Was ist mit ihm«

»Noch nichts. Wenn etwas geschehen wäre, müßte man es bemerken. Es würden sich Menschen ansammeln und der Herr würde verständigt werden und nach Hause kommen. Man müßte das Auto sehen, wenn er da wäre. Es ist ein amerikanischer Wagen.«

»Was ist, Modlizki? Ist er in Gefahr? O Gott, was hast du ihm getan? Sprich deutlich! Du mußt ihm helfen! Am Ende ... Nein, nein, nicht wieder das, Modlizki ... Du mußt es verhindern, Modlizki!«

»Ich glaube, daß das nicht meine Aufgabe sein kann.«

»Was ist? Um Himmels willen, er will seinem Leben ein Ende machen! Du weißt es! Du kannst ihn retten! Eile, eile, ehe es zu spät ist, du bist schuld an seinem Tod, rette ihn, rette ihn!«

»Ich bin der Anfang und der Genosse von allem gewesen, ein Mann von dunkler Herkunft und Diener und gewiß verachtet er sich darum und mein Anblick würde ihn nicht retten, selbst wenn ich wollte, denn er würde den jungen Herrn beschämen, daran ist kein Zweifel. Wenn noch Zeit ist, kann er durch mich nicht zurückgehalten werden.«

»Ich ... ich ... Modlizki, worin verwirrst du mich wieder, o Gott ... ich wollte ... warum bin ich zu dir gekommen ... Nein, nein, er hat ... ich will nicht, Modlizki, es ist nicht meine Sache, was geht es mich an, es ist deine Sache! Es kommt auf dein Haupt, nicht auf meins ... Jesus Maria ... sprich, sprich, sag, daß es nicht wahr ist ... Was stehst du da und schweigst? Ja, ja, ich gehe schon, ich gehe ... es gibt nichts anderes, nein, nein ...« Er trat auf Modlizki zu. Er ergriff seinen Arm und preßte ihn: »Du, du«, stieß er hervor, »warum hast du es mir erzählt? Wir werden einander nicht wiedersehen. Ich fürchte dich nicht mehr, du bist ein Narr, ein Wahnsinniger und ein Schwächling. Du fürchtest dich jetzt, oder nenne es wie du willst, Empörer gegen die Ordnung, du wälzt es auf andere ab.«

Er ließ ihn los. Er eilte durch den Garten. Die Tür sprang surrend vor ihm aus dem Schloß. Er durfte nicht zu spät kommen. Er durfte nicht, jetzt, am Ende, auch Karpels Tod verschulden. Er mußte laufen, dort auf dieses Haus zu, auf das Gittertor zu, ob er wollte oder nicht, denn es gab nichts anderes, als neben Karpel zu bleiben, bis jemand kam, dem Josef Blau das Amt übertragen konnte. Er mußte nicht sprechen mit Karpel, nur da sein, vielleicht konnte er Karpels Vater holen lassen, ihm den Sohn vertrauen, denn es war nicht Josef Blaus Sache, nur so lange seine Sache, bis ein anderer kam, er ging nur, weil es nichts anderes gab, wenn er nicht Schuld auf sich laden wollte, nur darum lief er durch den Vorgarten, stieg er über die breite Treppe und trat durch eine schwere, geschnitzte Tür. Ein alter Diener sah ihn verwundert an. Josef Blaus Atem ging schnell. Sein Gesicht war gerötet.

»Zum jungen Herrn«, sagte er.

»Wen darf ich melden?«

»Es eilt.«

Er ging hinter dem Diener über schwere Teppiche, die den Schritt lautlos machten. Sie stiegen über eine Holztreppe mit geschnitztem Geländer ins zweite Stockwerk. Der Diener pochte an eine Tür und trat ein. Die Tür blieb hinter ihm angelehnt. Josef Blau hörte Karpels Stimme und die erwidernde Stimme des Dieners. Es ist keine Zeit zu verlieren, dachte Josef Blau. Er stieß die Tür auf und trat an dem Diener vorbei in Karpels Zimmer.

Karpel hatte sich erhoben. Er stand hinter einem großen, mit Büchern und Heften bedeckten Tisch und sah starren Blicks Josef Blau an.

Der Diener stand wartend an der Tür. Ohne seine Haltung und die Richtung seines Blicks zu verändern, gab ihm Karpel ein Zeichen. Der Diener ging und schloß lautlos die Tür hinter sich.

Das Zimmer war zweifenstrig. Zwischen den beiden Fenstern stand eine Glastür offen, die auf einen Balkon führte. An den Wänden hingen bunte Stiche in einfachen Rahmen. Eine Tür links, die angelehnt war, führte in Karpels Schlafraum. In der Ecke links von den Fenstern stand ein niedriger Rauchtisch zwischen zwei tiefen, stoffbezogenen Fauteuils, an der Wand gegenüber ein offener Flügel. Die Wände waren mit einer einfachen dunklen Tuchtapete bezogen. Der viereckige, massive Tisch in der Mitte war von dunklem Holz und trug keine Decke. An seiner den Fenstern zugekehrten Seite stand der hohe Holzsessel, von dem Karpel sich bei Josef Blaus Eintritt erhoben hatte. Karpels Augen waren wie nach einer schlaflosen Nacht gerötet. Sein Haar war nicht gebürstet und hing ihm in die Stirn. Er trug eine schwarze unvollkommen geschlossene Samtjoppe mit Verschnürung und lange weite Samthosen mit breiter schwarzer Borte an den Seiten.

»Ich komme von Modlizki«, sagte Josef Blau.

Karpel senkte den Kopf gegen die Brust.

»Setzen«, sagte Josef Blau.

Karpel gehorchte.

»Fahren Sie in Ihrer Beschäftigung fort, Karpel. Ich bleibe, bis Ihr Vater kommt.«

Karpel saß in sich zusammengesunken in seinem Sessel. Sein Kopf war tief über den Tisch gebeugt. Josef Blaus Blick fiel auf den bunten Deckel eines Buchs. Es war eine Darstellung zur Eroberung Mexikos durch Cortes. Er setzte sich Karpel gegenüber und begann in dem Buch zu blättern. Er hörte Karpels Atem. Aber Karpel hob den Kopf nicht. Wie lange würde es dauern, bevor der Vater kam? Es mochte elf Uhr sein. Wo war eine Glocke? Vielleicht sollte Josef Blau läuten, den Diener rufen, das Haus alarmieren. Es mußten noch andere Leute im Haus sein, Karpels Mutter, Dienerschaft. Wenn Karpel eine Waffe gegen sich richtete, Josef Blau konnte sie ihm allein nicht entwinden. Aber Karpel saß wie in der Schule mit geneigtem Haupt und bewegte sich nicht, bloß sein Haar war in Unordnung wie der Tisch mit Büchern, Heften, Papieren. Wie lange saßen sie nun schon? Wie oft hatte Josef Blau das Buch, das er in seinen Händen hielt, schon durchblättert? Doch jetzt hob Karpel den Kopf. Josef Blau ließ das Buch sinken. Karpel sprang auf, daß der Stuhl hinter ihm krachend zu Boden fiel. Auch Josef Blau hatte sich erhoben.

»Nein, nein«, schrie Karpel. »Das ertrage ich nicht länger! Was wollen Sie hier? Ich wußte es ja, daß Sie grausam sind, aber ... Ich habe aufgehört, Ihr Schüler zu sein, verstehen Sie? Wer hat Ihnen erlaubt, ungebeten hier einzudringen? Gehen Sie, sage ich, gehen Sie!«

Er wies mit erhobenem Arm gegen die Tür. Karpels Augen lagen drohend auf Josef Blau.

»Sie müssen mir erlauben zu bleiben, Karpel. Sie können mich nur mit Gewalt entfernen. Ich lasse mich in nichts mehr verwirren, hören Sie? Nun nicht mehr. Es hängt mit besonderen Dingen zusammen, mit Umständen, die nicht hierher gehören. Ich will nicht mehr mitschuldig sein wie bei Laubs Tod, verstehen Sie? Ich werde Sie Ihrem Vater übergeben.«

»Mitschuldig? Was geht es Sie an, was ich vorhabe! Es ist meine Sache, oder Ihre? Sie haben kein Recht, es zu verhindern.«

»Mag sein. Aber wenn ein Mensch ins Wasser springt, und man sieht es durch Zufall, und der Mensch ertrinkt, weil man nichts getan hat, ihn zu retten: glauben Sie nicht auch, daß der, der durch einen Zufall vorüberging, für schuldig am Tod des Selbstmörders gehalten wird?«

»Sie können nichts verhindern, nur es verzögern.«

»Gerade darum handelt es sich. Es ist nicht meine Sache mehr, was geschieht, wenn Ihr Vater da ist. Aber ich glaube nicht, daß so leicht ein Geretteter wieder in den Fluß springt.«

»Sie ... Sie ... ich hasse Sie, ich habe Sie immer gehaßt ... Hören Sie auf, mich zu retten! Ich bin Ihr Feind. Gehen Sie weg von mir ...« Karpel stützte die Hände auf den Tisch. Er beugte den Kopf. Seine Schultern hoben und senkten sich. »O Gott, o Gott, was wissen Sie denn von mir!«

»Ich weiß, daß Sie mich hassen.«

»Was wissen Sie denn von mir? Sie kommen, mich zu retten? Sie hätten mich retten können, jawohl, Sie, nur Sie! Damals war es nicht zu spät!« Er wandte sich schluchzend ab und trat in die Balkontür. Er lehnte den Kopf an den Türrahmen. »Ich habe Sie gesucht«, sagte er, ohne den Lehrer anzusehen. »Ich ging Ihnen im Wald nach auf dem Ausflug. Ich habe Sie hinter dem Baum gesehen, oh, wie könnte ich das vergessen! Ich bat Lehrer Leopold, als Sie krank waren, Sie zu fragen, ob ich kommen dürfte ... Sie hätten mich retten können, Sie hätten mir helfen können, Sie kannten ihn, Sie waren sein Freund!«

Karpel wandte sich um. Er fuhr sich mit einem seidenen Tuch über Wangen und Augen:

»Verzeihen Sie«, sagte er. Seine Stimme war wieder ruhig. »Ich benehme mich wie ein ... Sie werden sagen, daß ich ein Kind bin ... Es ist zu allem zu spät. Verzeihen Sie mir und erfüllen Sie mir eine Bitte: lassen Sie mich allein!«

Josef Blau schwieg. Er blickte auf den Tisch, auf das offene Buch, das er durchblättert hatte. Ein buntes Bild war aufgeschlagen. Viele Menschen mit Waffen umringten jemanden, was mochte es sein, eine Schlacht, ein Mord? Also hatte ihn Karpel gesucht, nicht weil er ihn haßte, weil er Hilfe brauchte, und er hatte ihn zurückgestoßen, in seinem Haß bestärkt, das Kind in seinen Nöten und Sorgen nicht gesehen, er, der Lehrer? Mochte der Knabe getan haben was immer, Josef Blau hätte die Gefahr sehen müssen, in der sich Karpel befand, er hätte zu ihm sprechen, ihm die Hand reichen, ihm helfen müssen. Oh, daß er es noch erfuhr! Wenn es auch spät war, vielleicht war es nicht zu spät! Nun war er da, nun wollte er ihn nicht mehr zurückstoßen, nun reichte er ihm die Hand, nun machte er es wieder gut.

»Ich werde Ihnen helfen«, sagte er leise.

»Mir helfen! Wenn Sie wüßten ...« Er drückte das Tuch gegen die Augen.

»Sie sagen, Sie haben aufgehört, mein Schüler zu sein. Sie haben recht. Ich bin Ihr Lehrer nicht mehr. Ich habe die Schule verlassen. Sie wissen von dem Bild ... der Zeichnung ... an der Tafel.«

»Haben Sie das Bild gesehen, o Gott, o Gott ...! Modlizki hat es ...«

»Ich will davon nicht sprechen, Karpel, sehen Sie! Ich sage es nur, weil ich glaubte, als ich aus der Schule ging, ich müßte, es bliebe mir nichts anderes als wie Sie ... wie Laub ... und nun, sehen Sie, stehe ich da ... Fürchten Sie nichts von mir, Karpel! Wenn ich geahnt hätte ... aber ich werde es wiedergutmachen, sagen Sie mir, was ich soll, ich will Ihnen helfen.«

Karpel schüttelte langsam den Kopf. Er hatte sich in das Fauteuil neben dem Fenster gesetzt und das Gesicht in den Händen geborgen.

»Ich will Modlizki rufen. Er muß kommen. Und wenn ich ihn mit Gewalt ...«

»Nein, nein«, sagte Karpel, »es gibt keine Hilfe ... Wenn Sie wüßten ... wie soll ich es Ihnen sagen? Ich wollte es aufschreiben, daß man es später findet, nachher, aber auch das nicht, niemand wird es wissen außer ihm. Ich bin befleckt, beschmutzt ... mir graut vor mir ... fliehen Sie mich ... nein, nein, nicht darüber sprechen!«

Seine Stimme war die eines Kindes, wenn er schrie und schluchzte. Nein, nein, er war kein Mann. Ein armes geschlagenes rettungssuchendes Kind. Ihn hatte Modlizki in Wahnsinn und Verzweiflung getrieben, einen haltlosen Knaben, der Empörer gegen die Ordnung.

»Man sollte ihn zwingen zu kommen, daß er Sie sieht«, sagte Josef Blau. »Aber nun verbirgt er sich, nun fürchtet er sich.«

»Modlizki fürchtet sich nicht. Wenn er es Ihnen gesagt hat, dann nicht aus Angst: um mich zu retten ... weil er mich ... liebt. Hat er Ihnen gesagt, daß Sie es versuchen sollen? Begreift er nicht, daß ich nicht mehr ... nein, nein ... Lassen Sie mich ... ich will nicht mehr sprechen, nicht denken ... lassen Sie mich!«

»Ich kam zu ihm und er sagte mir ... und als ich ging ... nein, er hielt mich nicht zurück, Karpel.« Josef Blau stand neben Karpel. Er legte ihm die Hand aufs Haar. Karpel sprang auf. Er schüttelte Josef Blaus Hand ab und wich vor ihm gegen das Fenster zurück.

»Berühren Sie mich nicht, nein, nein, man soll mich nicht berühren ... Ich schäme mich ... o Gott ...!«

»Karpel, glauben Sie an nichts? ... Ich meine ... glauben Sie nicht, daß es etwas gibt, nach dessen Gesetz alles geschieht? Auch das, was Ihnen geschehen ist? Lachen Sie nicht. Daß nicht Wahnsinn waltet, sondern ...«

»Gott?«

»Gott ... etwas ...«

»Sie glauben?«

Josef Blau nickte.

»Woran?«

»Woran? Ja, woran?« Er machte eine Pause und blickte um sich, als suchte er etwas. Dann lächelte er. »Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, Schöpfer Himmels und der Erden und an Jesum Christum, seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn, der empfangen ist vom heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben. Niedergefahren zur Hölle, am dritten Tag wieder auferstanden von den Toten, sitzend zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters, von dannen er kommen wird zu richten die Lebendigen und die Toten, ich glaube an den Heiligen Geist und an eine katholische Kirche, an die Gemeinschaft der Heiligen, an die Vergebung der Sünden, an die Auferstehung des Fleisches und an ein ewiges Leben. Amen. – So habe ich es in der Schule gelernt.« Er sagte es leise, ohne Betonung, wie ein Kind, das sein Pensum aufsagt.

Karpel sah ihn verwundert an. Dann schüttelte er den Kopf.

»Nein«, sagte er, »nein! Und wenn ich an etwas glaubte ... es hülfe mir nichts mehr ... ich könnte darum doch nicht ... nein, nein!«

Er schwieg. Josef Blau blickte durch das Fenster in den Garten.

»Wenn ich hier weggehe«, sagte er leise, ohne sich nach Karpel umzuwenden, »werde ich nicht mehr nach Hause gehen. Ich habe die Schule verlassen und ich verlasse mein Kind und seine Mutter, weil ... ich kann es so leicht nicht erklären ... ich sage es Ihnen, weil ich von Modlizki vielleicht nicht hierhergekommen wäre, Sie daran zu hindern, was Sie vorhaben, wenn das nicht gewesen wäre. Denn ich wußte, daß Sie mich hassen, und ich wußte, daß das Bild in der Klasse nicht ohne Sie zustande gekommen ist. Aber ich bin doch gekommen. Nicht Ihretwegen, sehen Sie, meinetwegen. Denn ich wollte nichts mehr verschulden durch mein Tun oder Unterlassen, was weiterwirkte, wenn ich weg war ... Sie verstehen mich nicht. Wie sollten Sie das verstehen! Aber ich gehe jetzt, und wenn Sie tun, was Sie vorhaben, bin ich schuldig: denn ich weiß, wenn ich Sie mehr geliebt hätte, geliebt wie mein Kind, hätte ich etwas gefunden, Sie zu retten.«

»Sie hätten mich gezwungen, weiterzuleben. Gerettet? Was für ein Leben ... Ich kann doch niemandem mehr ins Gesicht sehen. Nein, wenn Sie mich geliebt hätten, Sie hätten vielleicht geweint, um mich getrauert, aber mich nicht gehindert. Wozu denn noch, was steht mir noch bevor?«

»Wußte ich, was mir bevorsteht vor einer Stunde, als ich glaubte, daß mir nichts bliebe als sterben? Karpel, Karpel, jetzt erst begreife ich es!« Er hatte sich Karpel zugewendet und die Hände gehoben. »O Gott, o Gott, jetzt erst erkenne ich es, jetzt erst begreife ich es, diese Stunde öffnet mir die Augen! Dazu das alles, o Herr, dazu! Verzeihen Sie mir, Sie verstehen nicht, wie es mich bewegt! Ich bin ein Blinder gewesen, auch ich, ich habe die Wege nicht verstanden bis jetzt, und ich hatte nicht den Glauben! Sehen Sie, es ist wie ein Mosaik und wir sehen nur die einzelnen bunten Steine, aber plötzlich, einmal erkennen wir, daß sie sich zu einem Bild gefügt haben. Wir alle sind Schüler, eine große Klasse, und wir sehen nur die Schwierigkeit der heutigen Aufgabe, aber den großen Lehrplan sehen wir nicht. Es steht Schritt auf Schritt, Wort auf Wort, Tag auf Tag, aber plötzlich, wenn die Gnade über uns kommt, o Gott ... da lüftet sich für einen Augenblick der Schleier, wir sehen es, wie ich es jetzt sehe – ich war verzweifelt, aber wäre ich hier, Karpel, Ihnen zu helfen, wenn das Bild an der Tafel nicht gewesen wäre und alles vorher, Ihr Haß gegen mich oder mein Haß gegen Sie und durch ihn das Bild und alles, eine unendliche Kette von Dingen, Folge von Stunden, zuletzt stehe ich hier, nun weiß ich, daß ich Sie retten werde, denn um diesen Augenblick ist das alles gewesen, zum Guten, zur Gnade! Für etwas, nicht für Sie vielleicht, für einen Fremden, für ein Wort, eine Tat, ein Werk, wer weiß es jetzt, ist das, was Sie gelitten haben, im Plan für Sie, einmal werden Sie es wissen, morgen, morgen, Sie werden da stehen wie ich jetzt vor Ihnen, ahnend, voll Freude, gerettet! Was Ihnen auch geschehen ist, es ist nicht umsonst geschehen, vielleicht Sie größer zu machen oder schwächer, ärmer oder reicher, aber erkennender und sehender als Sie vorher waren.«

Er stand vor Karpel und hatte seine Hand erfaßt.

»Stoßen Sie meine Hand nun nicht mehr weg! Senken Sie den Kopf nicht, Karpel! Lassen Sie mich nicht weggehen ohne Hoffnung! Dieser Augenblick – ich danke Ihnen, Karpel, ich danke Ihnen, war ich nur verwirrt von allem, war ich nur verwirrt, oder ist einen Augenblick lang über mir armem Geschöpf ein Hauch des Ewigen gewesen?«

Karpel zog die Hand nicht zurück. Er senkte langsam den Kopf, bis er an Josef Blaus Schulter lag. Er antwortete nicht und hielt die Tränen nicht zurück, die über seine Wangen in das Tuch von Josef Blaus dunklem Rock rannen.

»Weinen Sie, weinen Sie, Tränen sind ein gutes Gebet, mein Kind! Halten Sie sie nicht zurück, lassen Sie sie fließen, der Tod hat keine Macht über den, der weint. Wir haben ihm Raum gegeben in unseren Herzen, er hat uns versucht in vielerlei Gestalt, wir sind versucht und geprüft worden, Karpel, aber nun fürchte ich nicht mehr um Sie, mein Kind. Leben Sie wohl, Karpel, Sie brauchen mich jetzt nicht mehr!«

Er stieg die Treppe hinab und trat durch das Tor auf die Straße. Er zögerte einen Augenblick, als schwankte er. Dann ging er raschen Schrittes zurück zur Stadt, zurück zu Josef Albert, Selma, Lehrer Leopold, der Mutter und Onkel Bobek, mit denen er verbunden war.


 << zurück