Hermann Ungar
Die Klasse
Hermann Ungar

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4. Kapitel

Die Nacht vor dem Ausflug verging in Anrufungen und Gebeten, die Entscheidung, die für morgen bevorstehen konnte, aufzuschieben, den Spruch, der gegen ihn gefällt war, wenn es ging, aufzuheben. Selma schlief neben ihm, ahnungslos, die Lippen halb geöffnet, daß ihr Mund immer zu lächeln schien. Zweimal im Laufe dieser Nacht beugte sich Josef Blau über sie. Er erkannte den Schimmer der weißen Zähne und der tiefe Atem Selmas streifte sein Gesicht. Er schloß die Augen und verharrte so, viele Atemzüge lang, und die Wärme ihres Atems legte sich weich um seine Wangen und seinen Hals. Selmas Atem brach sich nicht, er zog in gleichem Maß aus und ein durch die Öffnung des Mundes, sie fürchtete nichts, indes er mit dem Geschick rang, auch um sie, die dem Morgen entgegenruhte, geduldig der Reife ihres Leibes wie die Frucht des Feldes. Josef Blau weckte sie nicht.

Er verließ das Zimmer zeitig am Morgen. Sie schlief noch. Er ging leise, daß sie ihn nicht höre, nicht erwache und spreche, nicht durch ein unbedachtes Wort die Gefahr von neuem berufe, die er vielleicht in dieser Nacht beschworen hatte. Es war kühl, aber ein heller Morgen, der einen sonnigen Tag versprach. Josef Blau saß fröstelnd in einem Abteil im letzten Wagen des Zugs. Er fuhr allein. Lehrer und Schüler legten die Reise bis an das Ziel der Eisenbahnfahrt nicht gemeinsam zurück, wie es sonst geschah. Josef Blau hatte angeordnet, daß die Knaben einzeln in der Reihenfolge ihres Eintreffens auf dem Bahnhof ihre Karten am Schalter lösen, jeder für sich den Zug besteigen und nur so in den Abteilen zusammenstoßen sollten, wie es der Zufall ergab. So wurde jener gemeinsame Sturm auf den Zug vermieden, den Josef Blau bei solchen Gelegenheiten als ersten Anlaß für ausgelassene Unordnung und Geschrei hatte beobachten können. An einer kleinen Bahnstation wurde der Zug verlassen. Josef Blau blieb am Ende des Bahnsteigs. Als dieser sich geleert hatte, traten die Knaben zu zweien an und erwarteten den Lehrer.

Es war acht Uhr morgens. Die Knaben standen in Marschordnung, parallel zu dem langgestreckten gelbgestrichenen Stationsgebäude, das Gesicht nach einer schriftlich von jedem einzelnen festgehaltenen Anordnung des Lehrers, die die Richtlinien für den Ausflug angegeben hatte, dem Ausgang zugekehrt. So standen sie, für den Uneingeweihten in der Verwirrung von Großen und Kleinen, für den Kundigen, vor allem für die Knaben selbst, unsichtbar aneinandergereiht in der festgelegten alphabetischen Ordnung, Blum, Bohrer, Christian, Drapal, Fischer, Fleischer, Fuchs, Glaser, Goldmann, Haber, Japp, Karpel, Laub, Lebenhart, Müller, Pazofzki, Reis und Vacha, geheimnisvoll aneinander gebunden.

Josef Blau trat heran und gab den Befehl zum Abmarsch. Die Knaben setzten sich in Bewegung. Sie stiegen in ungleichem Schritt die Böschung vom Bahnhof zur Landstraße hinab. Der Lehrer folgte dem Zug.

Die Schritte fanden nicht zum Takt des Marsches zusammen. Sie waren tastend, unsicher, große und kleine nebeneinander. Dorfbewohner begegneten dem Zug und sahen ihm lächelnd nach. Die Knaben wichen den Blicken aus. Sie wandten sich verlegen nach dem Lehrer, das Zeichen von ihm erwartend, das sie befreite, die angemessene Ordnung des Marsches befahl, die die Großen an die Spitze, die Kleinen an das Ende der Kolonne stellte, die Verwirrung der Kräfte aufhob, die auseinanderstrebenden Einzelnen in einen Körper verband, in einen Pfeil mit harter Spitze und gefiedertem Schaft. Josef Blau gab kein Zeichen. Seine Rechnung hatte ihn nicht getrogen. Das erste Bewußtsein der Kraft und körperlichen Übermacht war in verlegener Beschämung zerbrochen. Die Sonne schien auf die Landstraße. Die Knaben marschierten stumm. Sie nahmen die Mäntel über den Arm. Josef Blau fröstelte nach der durchwachten Nacht. Er hüllte sich fest in den ärmellosen Mantel aus dunklem Loden. Sie wandten sich einzeln nach ihm um, Karpel, Laub, Christian, der riesige Pazofzki. Nun sprachen sie miteinander mit gedämpften Stimmen.

Ein leichter Wind, kühl vom Tau der Blätter, die er gestreift, und feucht von Morgennebeln, die er zerstreut hatte, ging hinter dem Dorf durch das offene Tal. Karpel nahm den Hut ab. Der Wind strich über sein gescheiteltes schwarzes Haar. Die anderen Knaben folgten Karpels Beispiel. Und da sie von der Straße abbogen, den Wald zu betreten und den Anstieg zum Ziel, einem Wallfahrtsort im Gebirge zu beginnen, ließ Josef Blau ein Ruf auffahren, der sich gleichmäßig und laut und aus vielen Kehlen wiederholte. Josef Blau hatte die Stimme nicht erkannt. Sie kam aus den ersten Reihen. Es konnte Fleischers oder Christians Stimme sein. Aber nun waren es schon alle Stimmen. Sie klangen triumphierend: Links und links und links! Die Körper richteten sich auf. Der Chor schlug den Takt und wie ein Schritt fielen nun die Schritte ineinander. Josef Blau hielt im Gehen an; sollte er es verbieten? Er nannte ein Marschlied. Er begriff, daß er das Unvermeidliche selbst befehlen mußte, die Führung wieder an sich zu reißen. Die Knaben sangen und der Zug bewegte sich rasch auf leicht ansteigendem Weg gegen den Wald.

Im Nadelwald drang die Sonne nicht durch die dichten Zweige. Sie schritten bergauf über schlüpfriges, faules Laub. Sie mußten Vertiefungen der Straße ausweichen, in denen sich Wasser gesammelt hatte. Der Atem wurde kürzer, die singenden Stimmen leiser. Josef Blau befahl ein neues Lied. Durch das Erdreich der Straße stießen vom Regen glattgescheuerte Steine. Nacktes Wurzelwerk kreuzte den Weg. Der Zug teilte sich, stockte. Der Gesang verstummte, Josef Blau befahl ihn von neuem. Sie sangen mit Anstrengung, mit müden Stimmen, nicht mehr im schlagenden Takt. Er trieb durch Zuruf zur Eile. Nach dem Plan, den er gestern ausgegeben hatte, war das Ziel mittags zu erreichen. Es sollte keine Verwirrung entstehen durch Nichteinhaltung der Zeit. Es durfte kein Zweifel entstehen an der Notwendigkeit, das vorgeschriebene Ziel zu erreichen. Nichts von dem, was der Lehrer gestern diktiert hatte, durfte heute umgestoßen werden. Die Eile des Steigens ermüdete die Knaben. Sie sollten am Ziel zur Mittagszeit im Dorfgasthaus erschöpft auf die Stühle sinken.

Die Ordnung des Marschs löste sich. Einzelne blieben zurück hinter den anderen. Als erster schritt nun Karpel neben Pazofzki. Der blonde Laub, schwer atmend, das Haar zerrauft, das Gesicht gerötet, blieb stehen. Er wartete auf den Lehrer. Josef Blau sah ihn an. Laub machte einige Schritte vorwärts, dann hielt er.

»Ordnung!« rief Josef Blau.

Alle wandten sich nach ihm um. Er sah rote schweißbedeckte Gesichter mit offenen schwer atmenden Mündern. Sie standen und rührten sich nicht.

»Laub, ich fordere Sie auf, treten Sie in die Ordnung!«

Der Schüler gehorchte. Der Zug formierte sich von neuem. Durch die Bäume leuchtete von oben her die Lichtung. Nun war die Höhe erreicht.

Es war elf Uhr, als sie aus dem Wald traten. Vor ihnen lag in der Sonne, von Wiesen grün, ebenes Land, kaum von kleinen Hügeln durchbrochen. In kurzem Marsch erreichbar lag zwischen niedrigen roten Ziegeldächern der Zwiebelturm der Wallfahrtskirche. Nach der feuchten Kühle des Waldes empfing die Wandernden nun die Mittagswärme eines frühen Sommers. Auch Josef Blau nahm den Hut ab. Er wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Dann blickte er um sich.

Er blieb stehen. Auch der Zug der Knaben stockte. Die Köpfe der Schüler wandten sich nach links. Die Knaben stießen einander an. Sie drehten sich unsicher nach dem Lehrer um. Josef Blau stand, den Hut in der Hand, den Arm gebogen, die Kopfbedeckung wieder aufzusetzen, unbeweglich. Er schloß die Augen. War Wirklichkeit, was er sah? Das Kichern der Knaben ließ keinen Zweifel. Dort, links, kaum hundert Schritte von ihnen entfernt, standen mit nackten Oberkörpern, in Abständen neben und hintereinander mit erhobenen Armen, in gleichem Takt sich vorwärts, seitwärts und rückwärts neigend, die Schüler der Klasse des Lehrers Leopold, er selbst, der Lehrer, der erst seit wenigen Tagen der Schule zugeteilt war, schlank und groß und nackt bis an die Lenden vor ihnen und neigte wie sie den nackten Körper. Das weiße Fleisch und das blonde Haar leuchteten in der Sonne.

Josef Blaus Zug wurde auch von der Klasse des Lehrers Leopold bemerkt. Die Körper ließen ab, sich zu neigen, die erhobenen Arme sanken. Gelächter drang zu Josef Blau herüber. Das Gekicher von Blaus Schülern verstummte. Sie senkten die Köpfe. Das Gelächter der anderen, fühlten sie, galt dem wunderlichen, beschämenden Aufzug, in dem sie schritten. Ehe noch Blau es befohlen hatte, begannen sie zu gehen, hastend, so schnell wie möglich den eigenen Anblick den nackten anderen zu entziehen. Lehrer Leopold stand mit dem Rücken gegen sie. Nun aber wandte er sich ihnen zu. Die Brust war gewölbt, die Haut von der Luft gerötet. Er hob winkend den Arm und neigte grüßend den Kopf. Josef Blau stieg das Blut in die Wangen. Es konnte nur ein Traum sein, alles, die nackten Leiber, der Lehrer ohne Scham nackt mit den Schülern, vor Josef Blau die eigene Klasse, mit gesenkten Köpfen vorwärts hastend, um plötzlich, gleich, auch die Jacken abzuwerfen, hier auf der Wiese ihn zu umzingeln.

»Vorwärts«, sagte er. »Vorwärts!«

Sie begannen zu laufen. Die Großen und die Kleinen in wirrem Haufen, über Steine stolpernd und nicht sich wendend.

»Hallo! Hallo!« Das war des Lehrers Leopold Stimme. Josef Blau lief hinter den Knaben.

Aus dem Gelächter, das ihnen folgte, löste sich eine Stimme. Josef Blau duckte den Kopf zwischen den Schultern. »Thersites!«

Das war der lächerliche Spottname, den sie ihm nachriefen. Der häßlichste Mann vor Troja! Und der andere, der Nackte auf dem Gras der Wiese, vielleicht der Pelide oder Odysseus, Nausikaa begegnend, von der Göttin herrlich verschönt. Wie lange noch würde er den verfolgenden Blicken ausgesetzt sein? Sie hafteten auf seinem Rücken wie Gewichte. Wie viele Schritte noch würde er die Kraft haben, dem Fallen zu widerstehen?

Ein kleiner Bach kreuzte den Weg. Sein Bett war tief. Ein Brett war von einem Ufer zum andern gelegt. Die Knaben schickten sich an, es einzeln zu überschreiten. Nun mußte er stehen. Es gab kein vorwärts. Nun würden sie ihn sehen, wie er allein, schwankend auf dem schwankenden, sich biegenden Brett Schritt vor Schritt setzte, das Gleichgewicht mit den Händen suchend; er mußte es verlieren unter den Blicken im Rücken, gleiten, stürzen. Noch standen sie, die anderen, sahen ihnen nach. Das Gelächter drang wieder her. Sie duckten sich, Josef Blau und die Knaben, die ihm den Spott nie verzeihen würden, den Hohn, den sie um des Lehrers willen erlitten. Sie drängten zur Brücke. Das Gelächter trug eine laut lachende Stimme zu Josef Blau, wieder der Spottname, nein, nein, ein neuer, unerklärlicher, vernichtender, galt er ihm, Josef Blau, war das die Vernichtung? Josef Blau hob die Arme. Alle hatten es gehört.

»Thereschen!« Es klang wie Thöröschen.

Das Gelächter brach ab. Es war kein Laut, als die Schritte der Schüler und das eintönige Rieseln des Wassers. Vom anderen Ufer wandten sie sich um. Sie sahen ihn mit runden Augen an. Ihre Ordnung war aufgelöst. Sie standen im Halbkreis um den Steg. Sie erwarteten ihn, von vorn und von hinten. Er schloß die Augen. Der Boden unter ihm entfernte sich langsam, unaufhaltsam. Er selbst war ohne Gerüst von Knochen. Er sank senkrecht in seine Sohlen. Er hörte einen Schrei. Wer hatte geschrien? Dann trabten viele Schritte. Gesichter neigten sich über ihn. Vielleicht war er in den Bach gefallen. Man nestelte an den Knöpfen, ihn zu entkleiden. Die Brust des Lehrers Leopold war ganz nah. Im Tal zwischen den gewölbten Hügeln stand einsam ein einziges Haar. Niemand konnte es sehen außer Josef Blau, denn die Sonne machte es hell wie die Luft.

Josef Blau öffnete die Augen. Der Lehrer Leopold war über ihn geneigt. Er hatte eine Jacke über den bloßen Leib gezogen. Sie stand offen. Im weiten Halbkreis umgaben ihn die Schüler, Blaus Schüler und die Schüler des anderen, diese alle unvollkommen bekleidet wie ihr Lehrer. Josef Blau tastete nach seinem Rock. Er war trocken und geschlossen. Bloß den hohen Stehkragen hatte man geöffnet und die Krawatte gelöst.

»Nun, nun«, sagte Lehrer Leopold, »es ist alles vorüber.«

Josef Blau richtete sich auf. Er versuchte, Kragen und Krawatte in Ordnung zu bringen. Alle sahen ihn an. Der Kragenknopf entglitt seiner Hand, so oft er den Kragen schon geschlossen glaubte. Er sah sich um. Er war von allen Seiten umringt. Der Lehrer Leopold folgte seinem Blick. Josef Blau errötete.

»Lassen Sie den Kragen offen, Herr Blau«, sagte er, »und bleiben Sie liegen, bis Sie sich erholt haben. Sie sind vom schnellen Gehen ohnmächtig geworden. Es hat nichts zu bedeuten, Herr Blau.«

Er sprach ruhig, mit angenehmer Stimme, man konnte nicht widersprechen. Aber weshalb schloß er die Jacke nicht? Und warum traten die Schüler nicht in die Ordnung? Man mußte ein Ende machen. Er erhob sich. Lehrer Leopold versuchte ihm zu helfen, aber er stand schon. Erst mußten die Schüler wieder in ihre Ordnung getreten sein, dann wollte er den Kragen schließen.

»Ihre Schüler werden Sie zur Bahnstation bringen, Herr Blau. In langsamem Tempo. Sie sollen nach Hause und sich hinlegen.«

»Nein, nein«, sagte Josef Blau.

»Sie dürfen den Marsch nicht fortsetzen. Jemand muß Sie begleiten. Es genügt einer, die anderen schließen sich meiner Klasse an. Wer von euch will Herrn Blau an die Bahn bringen?«

»Ich«, sagte der Schüler Karpel und trat vor.

Wollte er ihn verhöhnen oder hatte er die Gelegenheit begriffen, mit dem Lehrer allein zu sein, im Wald, ohne Zeugen? Wollte er ihm beleidigende, gemeine Worte sagen, Worte aus der Kasernengasse, Selma verspotten, daß sie sein Weib war? Nein, nein, nicht mit diesem, mit keinem, allein, mochten sie beim Lehrer Leopold bleiben, die Körper entkleiden, nackten Leibes mit ihm auf der Wiese heidnische Tänze aufführen.

»Ich gehe allein, ich danke Ihnen, Herr Kollege! Lassen Sie den Weg freigeben. Alles nach links! Ich danke Ihnen. Ich gehe!«

Er nahm den Hut ab und ging. Er wandte sich nicht um, bis er den Wald betreten hatte. Er ging aufrecht und setzte die Füße nach innen. Im Wald ließ er sich auf einen glattgesägten Baumstumpf nieder. Nun sahen sie ihn nicht mehr, aber er konnte sie sehen. Sie lagerten um den Lehrer Leopold im Gras und rauchten.

Josef Blau sah die Straße entlang, die er nun durch den Wald zur Bahnstation ruhig hinabsteigen wollte. Die Gefahren der Schule waren für diesen Tag glücklich beendet. Mochten sie mit dem Lehrer Leopold tun, was ihm und ihnen beliebte. Nun würde dieser, nicht Josef Blau, mit den Schülern einkehren und mit den vom Trunk Erhitzten durch den abendlichen Wald heimkehren. Mochte er sehen, wie er mit ihnen fertig wurde, der Pelide! Er wandte den Blick der Wiese zu, von der die Stimmen zu ihm in die Stille des Waldes drangen.

Die Knaben standen mit dem Lehrer zum Abmarsch bereit. Nun gingen sie auf den Steg zu, in gelöster Ordnung, neben- und hintereinander, wie Wunsch und Zufall es ergaben, in der Mitte der Lehrer, barhäuptig, die Größten noch um Kopfeslänge überragend. An der Straße löste sich einer von der Gruppe los und schritt dem Wald zu. Lehrer Blau erhob sich. Er erkannte den Schüler Karpel. Was wollte er? Hatte er, Besorgnis um seinen Lehrer vortäuschend, die Erlaubnis erwirkt, ihm nachzueilen? Karpel näherte sich rasch. Er lief mehr als er ging. Bald würde er vor ihm stehen, wenn er nicht davoneilte, den Berg hinab vor dem Schüler floh. Aber würde Karpel ihn nicht in wenigen Minuten erreichen? Er mußte bleiben, sich dem Schüler in den Weg stellen, die Überraschung Karpels, der ihn hier nicht vermutete, benutzen, ihn durch Blick und Haltung zu verwirren und, falls es nicht anders ging, ihn durch Worte zurücktreiben, die rasch dem Schüler zeigen sollten, daß der Lehrer des Schülers Geheimnis kannte, daß der Schüler in des Lehrers Hand war, vielleicht durch ein einziges Wort, das er dem Schüler entgegenschleudern konnte, das Wort Modlizki! Nun hörte er schon des Schülers raschen Schritt. Würde aber Karpel sich abschrecken lassen, wenn er ihm allein gegenüberstand?

Karpel trat in den Wald. Der Lehrer, von einem breiten Baum verdeckt, stand wenige Schritte von ihm. Karpel verlangsamte den Gang. Unsicher setzte er noch einige Schritte. Dann blieb er stehen. Er sah geradeaus vor sich hin, als fürchte er, sich umzusehen. Auch Josef Blau rührte sich nicht. Nun blickte Karpel nach links, nach rechts, nun wandte er sich. Der Lehrer stand rechts hinter ihm, nur halb von einem Baum gedeckt, starr, mit aufwärts gestreckten Armen. Er hatte die Fäuste geballt, die Lippen waren aufeinandergepreßt, die aufgerissenen Augen starrten unbeweglich auf den Schüler, dessen Blick nun vorsichtig tastend zu ihm hinging. Sah er den Lehrer nicht? Der Blick ging leer an ihm vorbei, verlor sich im Wald. Karpel wandte sich ab, und als fliehe er ein schreckhaftes Gesicht, lief er mit gesenktem Haupt die Steile Bergstraße hinab über glattgewaschene Steine und nackte Wurzeln, ohne sich umzusehen. Und plötzlich begann er zu singen, schreiend, ein Lied, das sie beim Aufstieg gesungen hatten, immer von neuem dasselbe Lied. Der Wald warf es verstärkt zurück.

Der Lehrer verließ sein Versteck. Er ging hinter Karpel die Straße hinab. Er hörte des Schülers Stimme von unten. Er ging ruhig, da er immer Karpel vor sich wußte und nicht befürchten mußte, daß er im Gebüsch auf ihn lauere.

Auf der Bahnstation sah er Karpel nicht. Erst als er aus dem Zug auf den Bahnsteig blickte, sah er ihn hinter dem Bahnhofsgebäude hervorkommen. Karpel schaute nicht auf. Er ging langsam auf den Zug zu und bestieg ein Abteil der zweiten Wagenklasse.


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