Hermann Ungar
Die Klasse
Hermann Ungar

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6. Kapitel

Onkel Bobek war fest eingeschlafen. Es war nicht möglich, ihn zu wecken, um ihn auf dem Sofa zu betten. Die Mutter versuchte, seinen Körper in eine bequemere Lage zu bringen, aber es gelang nicht.

Selma hatte das Fenster geöffnet.

»Frische Luft«, sagte Josef Blau.

Sie verstand ihn nicht. Sie nickte ihm zu, als freue sie sich, seinen Wunsch erraten zu haben.

Wenn Onkel Bobek nicht einen tierischen Laut ausgestoßen hätte, vielleicht wäre Josef Blau noch als Sieger dagestanden und Selma hätte ihn bewundernd angesehen. Er hatte eine schlagfertige Antwort auf der Zunge, als der Zwischenfall geschah. »Es klingt wohl sehr dumm, gnädige Frau«, hatte der Lehrer Leopold gesagt und Selma angesehen. Wie wenn nun Josef Blau ihm die Antwort gegeben hätte, zu der er schon die Lippen formte? Es hatte zulange gedauert, ehe er sich entschloß. Aber wenn Onkel Bobek hätte an sich halten können, hätte Josef Blau es noch gesagt: »Es klingt, wie es ist!« hätte er gesagt, ruhig, ohne jede Erregung, und weiter vor sich hin gesehen, als sei er nicht anwesend.

Diese Antwort schien ihm klug und würdig. Sie hätte den Lehrer Leopold erledigt. Er wollte sich diesen Satz merken, ihn morgen bei klarem Kopf noch einmal vornehmen. Er mußte morgen dies alles durchdenken. Sein Kopf war heute zu müde. Er wollte zu Bett. Er dachte an alles zugleich, es war keine Reihenfolge in seinem Gehirn.

Er hörte Karpel singen im Wald vor ihm, überlaut, wie ein Wanderer es macht aus Angst. Wie würden die Schüler ihn empfangen? Selma und der neue Lehrer, Gott, das Schicksal, das man hervorrief, Onkel Bobek, der ihn lächerlich gemacht hatte – wozu hatte er das Geld gebraucht? – Josef Blau konnte nichts halten von allem, es verging eines im andern.

Er lag im Bett, ausgestreckt auf dem Rücken. Selma trat ein. Sie trug eine Kerze in der Hand. Das Licht flackerte. Ihr Haar schimmerte, wie das Licht darauf fiel. Sie ging an den Schrank. Sie nahm ein in Papier eingeschlagenes Päckchen. Sie entfaltete ein Hemd, Josef Blau erkannte es. Es war ein Spitzenhemd aus rosa Seide, wie die Mutter es hatte. Selma sah es an und betastete es. Dann, als entschlösse sie sich plötzlich, warf sie die Kleider ab. Einen Augenblick stand sie nackt im flackernden Licht. Dann zog sie das Hemd an. Es spannte über dem Leib. Aber an der Brust und unter den Armen bildete es feine Fältchen. Sie betrachtete sich im Spiegel.

»Er ist ein Dummkopf«, sagte Josef Blau.

Sie wandte sich rasch um. Hatte sie gedacht, er schlafe?

»Ich bin nicht schuld daran«, sagte sie, während sie das Hemd auszog, sorgsam wieder zusammenlegte und in den Schrank schloß. »Er kam und brachte Fleisch und verlangte, daß wir es bereiten. Martha befahl er, Wein zu holen. Wer konnte auch denken, daß ein Gast kommt!«

War es Absicht, daß sie nicht verstand, wen er meinte?

»Wie lange kennst du ihn?« fragte er. »Du kennst ihn schon lange, sage es ruhig!«

»Wen?«

»Den Leopold, den Turner, hahaha. Auf der Wiese hat er mit den Schülern nackt geturnt. Ein Dummkopf ist er, mit einer Athletenbrust, weißt du?«

»Sprich nicht so«, sagte sie. »Du hast getrunken. Schlaf!«

»Siehst du, ich habe getrunken. Ich bin es nicht gewöhnt. Aber ich bin nüchtern, nüchterner als nüchtern... es ist ganz hell in meinern Kopf... ein schmerzhaftes Licht... ich sehe alles... und alles ist klar und wie zu greifen, aber ich strecke die Hand nicht aus, siehst du... es gefällt mir, sie nicht auszustrecken, oder ich fürchte mich... oder es ist alles gleichgültig, Selma... ich könnte über alles reden, alles sagen... Der Körper ist wie aufgehoben und er schwebt, ohne daß man ihn hält. Ich liege, aber ich fühle das Bett nicht. Ich halte es mit den Händen, aber ich fühle das Bett nicht. Alles ist weit... alles Schreckliche, man kann es betrachten... Alles wird vielleicht gut, ja, ja... Die Gedanken gehen durcheinander, aber jeder ist trotzdem klar. Das kann alles nicht gut enden, sage ich, aber ich bete nicht, es macht doch nichts, so oder so, sage ich, es nimmt seinen Fortgang. Als Leopold fortging, sagte da nicht jemand, wer war es doch gleich: ‹Ein liebenswürdiger Mensch.› Deine Mutter sagte es. Alle sind gegen mich. Sie werden dich ihm zutreiben, ob du willst oder nicht, ich will mich in den Weg stellen, aber am Ende treibe ich dich auch. Vielleicht ist nichts zu ändern. Gut, gut, eins zwei, eins zwei, Onkel Bobek schnarcht wie eine Uhr. Ein alter Mann kann es nicht so halten. Du lachst über mich, Selma, sage es ruhig, Selma, gut, gut.«

»Ich lache nicht. Aber wenn man am nächsten Morgen so weit sein kann wie ich, denkt man an nichts als an das eine.«

Sie löschte das Licht.

Sie dachte nur an das eine. Warum hatte sie dann ein seidenes Hemd gekauft und warum, warum gerade heute zog sie es an und betrachtete sich darin im Spiegel? Wann wollte sie es tragen? Wenn sie mit ihm zusammentraf? Hatten sie es schon verabredet? Nun schlief sie. Josef Blau hielt die Augen offen. Es wurde ihm schwer, aber so oft er sie für Sekunden schloß, war ihm, als sei er ohne Halt auf einer schwankenden Fläche. Er verlor das Bewußtsein seiner Lage, wie sehr er sich auch ins Gedächtnis rief, daß er waagrecht und ausgestreckt auf dem Bett lag. Er erinnerte sich nicht, wo sein Kopf war, fühlte ihn tief unten, hoch oben, unter den Beinen hängend, daß das Blut ihm zu Kopf stieg. Er setzte sich im Bett auf und lauschte. Die Mutter in ihrem Zimmer warf sich im Bett. Das Gleichmaß in Onkel Bobeks schnarchenden Atemzügen war unerträglich.

Es gab keine Rettung, man konnte nicht entgehen, auch wenn man die Decke über den Kopf zog oder die Finger in die Ohren steckte. Wozu hatte Onkel Bobek das Geld gebraucht?

Selma schlief ruhig. Sollte er ein Streichholz anreiben, um zu sehen, ob sie lächle? Vielleicht stand ihr Traum auf ihrem Gesicht und er konnte ihn ablesen. Vielleicht sah er, daß sie von Leopold träume, er konnte sie wecken, ihr sagen, was er gesehen hatte, und sie würde nicht wagen zu leugnen. Träumte sie, daß sie neben dem neuen Lehrer im Bett lag? Er war breit und voll Kraft. Neben diesem mußte sie nicht verdorren wie neben Josef Blau. Leopold drückte sie in den Armen, daß sie aufschrie, sie war voll Lust wie er, der sich über sie neigte und sie nahm. Es gab kein Mittel gegen Leopold, sie eilte ihm zu, im Traum und am Tage, alle hatten es gefühlt und nicht gewagt, die beiden anzureden. Ein liebenswürdiger Mensch, hatte die Mutter gesagt. Der Lehrer Leopold hatte Selma angesehen, ruhig, mit geradem Blick, ohne Scham, als sei sie schon sein Weib, indes er, Josef Blau, im Hintergrund saß. Niemand achtete auf ihn, man wandte sich dem andern zu, dem Sieger. Josef Blau war ein Gestorbener, Vergessener. Lehrer Leopold hatte es gehört, was die Knaben hinter Blau herriefen, vielleicht sagte er es ihr, während sie im seidenen Spitzenhemd auf seinem Schoß saß und sie lachten und wiederholten es einander immer wieder. »Thereschen«, und es klang wie Thöröschen. Er wollte es nicht zulassen, er wollte es verhindern. Er wollte sich ihnen in den Weg stellen, in alle Geheimnisse eindringen, jeden Atemzug bewachen. Wenn die langen Kleider kein Schutz waren, er wollte nicht zögern, das andere zu verlangen, das er einmal schon auf der Zunge gehabt hatte. Sie sollte sich die dichten blonden Haare scheren, daß der Kopf kahl war wie der einer Nonne. So konnte sie nicht zu einem Geliebten, mit kahlgeschorenem Kopf nicht mehr.

Er wollte mit Onkel Bobek sprechen. Heute konnte er alles sagen. Er wollte wissen. Wegen des Geldes und: wieviel männlicher der Lehrer Leopold sein konnte als er selbst. Onkel Bobek mußte das wissen. Josef Blau bewegte sich vorsichtig aus dem Bett, die Beine zuerst, daß das Bett nicht knarre. Nun stand er. Er ging langsam. Er tastete an der Wand entlang. Selma hatte die Schranktür offen gelassen. Josef Blau stieß mit der Hand dagegen. Die Tür knarrte. Selma bewegte sich. Josef Blau blieb stehen. Er hielt den Atem an. Nun schlief sie wieder ruhig.

Er öffnete die Tür zum Wohnzimmer, trat ein und schloß sie langsam. Sie hatte nicht geknarrt. Er lächelte. Er hatte mit aller Umsicht gehandelt, die Tür langsam geöffnet, daß kaum jemand, der es gesehen hätte, hätte bemerken können, daß sie sich bewegte. Wie lange hatte das gedauert, erst die Beine, dann der Weg zur Tür, das Öffnen und Schließen ? Vielleicht eine Stunde, vielleicht zwei. Er hatte die Geduld nicht verloren. Nun war die Tür zu. Onkel Bobek würde schreien, wenn er ihn weckte. Er machte Licht. Er hielt die Lampe hoch und leuchtete Onkel Bobek ins Gesicht. Vielleicht fiel Onkel Bobek aus dem tiefen Schlaf in leichteren Schlummer und würde dann eher zu wecken sein. Onkel Bobek schnarchte unvermindert weiter. Sein Kopf war nach hinten gefallen, der Mund weit offen, daß die schwarzen Zahnstummeln sichtbar waren.

Auf dem Tisch stand die Schnapsflasche. Josef Blau nahm sie und goß Schnaps in ein Wasserglas. Dann setzte er sich neben den Onkel, das Glas in der Hand.

Es war kalt. Das Fenster stand noch offen. Auch wenn der Tag warm ist, wie im Sommer, dachte Josef Blau, sind die Nächte im Frühling kalt. Es ist merkwürdig, dachte er. Es ist doch sonst alles dasselbe: die Luft und die Erde erwärmen sich durch die Sonne. Das Thermometer zeigte heute Sommertemperatur. Wieso war die Nacht kälter als eine Sommernacht? Wieso kühlten im Frühjahr Luft und Erdrinde rascher ab als im Sommer? Es gehörte nicht hierher. Dazu war er nicht aufgestanden und saß im Nachthemd, das Wasserglas mit Schnaps in der Hand, frierend neben dem Onkel, um das zu ergründen. Er wollte ihm zwei Fragen stellen, klare Fragen: wegen des Lehrers Leopold und wegen des Geldes. Aber es blieb merkwürdig. Er wollte morgen, wenn der Kopf ihn nicht mehr schmerzte, versuchen, es zu beantworten. Er sagte es laut vor sich hin, es nicht zu vergessen: Abkühlung der Erdrinde. Man mußte sich schützen. Die Abkühlung war größer, als er zuerst gedacht hatte. Seine Beine zitterten. Sie steckten in langen, an den Knöcheln zusammengebundenen weißen Hosen. Er stellte das Glas auf den Tisch und schloß das Fenster. Über einem Stuhl hing ein weites Kleidungsstück. Er schlüpfte in die Ärmel. Es reichte bis an die Waden. Josef Blau nahm das Schnapsglas und setzte sich neben den Onkel.

Er begann damit, Onkel Bobeks Hand zu streicheln, die auf dem Sofa lag. Dann stieß er Onkel Bobek vorsichtig an. Onkel Bobek erwachte nicht. Er stieß kräftiger, schüttelte ihn an der Schulter. Als auch das nicht half, erhob sich Josef Blau. Er neigte das Glas über den Schlafenden und begann ihm den Schnaps in den offenen Rachen zu gießen. Onkel Bobek warf sich in die Höhe, daß der Schnaps ihm über die Weste floß. Er schnappte nach Atem, schlug mit den Händen um sich, öffnete die Augen, schnaubte und begann dann krampfhaft zu husten. Josef Blau sah ihn erschreckt an. Des Onkels Augen traten blutunterlaufen aus den Höhlen. Er streckte den Kopf angestrengt vor. Es schien, als sollte er ersticken. Er griff sich ans Herz und sah starr Josef Blau an. Josef Blau ließ das Glas zu Boden fallen. Was hatte er getan? Der Onkel gab ihm mit den Händen ein Zeichen. Josef Blau begriff. Er trat hinter den Onkel und mit geballten Fäusten schlug er dem Hustenden gegen den breiten Rücken.

Der Husten ließ nach. Onkel Bobek winkte Josef Blau Einhalt. Nun lehnte Bobek sich zurück. Er atmete, wenn auch mit Anstrengung, ruhig.

»Trinken«, sagte Onkel Bobek mit trockener Stimme.

Josef Blau hob das Glas vom Boden auf. Er füllte es zur Hälfte und reichte es dem Onkel. Der Onkel trank. Er atmete tief.

»Ein Glück, daß du da warst«, sagte er leise, daß Josef Blau ihn kaum verstand. »Ohne dich wäre ich erstickt. Setz dich!«

Josef Blau setzte sich neben ihn. Der Onkel sah ihn von oben bis unten an. Dann lächelte er und klopfte ihm mit seiner fetten Hand auf die Schulter.

»Hol was zum Essen«, sagte Onkel Bobek.

Im Zimmer war nichts Eßbares zu sehen. Josef Blau ging in die Küche. Auf einem Teller fand er Knochen und Fleischstücke, legte Messer und Gabel dazu und schnitt einige Brotscheiben ab. Dann suchte er eine Serviette. Onkel Bobek, der indes im Dunkeln saß, wurde ungeduldig.

»Hierher, mein Kind«, sagte er, als Josef Blau eintrat.

Josef Blau schob einen Stuhl zum Sofa und stellte, was er gebracht hatte, vor den Onkel hin.

Onkel Bobek gab sich keine Mühe mit Messer und Gabel. Er faßte die Fleischstücke mit den kurzen, fetten Fingern an und schob sie in den Mund. Von Zeit zu Zeit feuchtete er den Gaumen mit einem Schluck aus dem Glas, das Josef Blau in der Hand hielt.

»So wäre ich bald hinüber gewesen«, sagte Onkel Bobek. »Da soll einer sagen, wie schnell es so aus sein kann. – Glaubst du an Gott?«

Josef Blau schwieg.

»Du bist ein gebildeter Mensch. Glaubst du an Gott?«

»Doch«, sagte Josef Blau.

»Ich bin ein guter Christ.« Onkel Bobek neigte sich zu Josef Blau und legte ihm die Hand um die Schulter. Josef Blau saß aufrecht. »Ein guter römisch-katholischer Christ. Da soll keiner ein Wort dagegen sagen dürfen, mein Kind, dem würde ich meine Meinung sagen, daß er sich zu Boden legt und nicht so bald wieder aufsteht. Ich habe doch alles gehalten wie es im Katechismus steht, nicht wahr, mein Kind?«

Josef Blau nickte mit dem Kopf. Der Onkel sah ihn an.

»Hab ich nicht gebeichtet und kommuniziert wie irgendeiner? Siehst du. Mir kann niemand was einwenden und ich werde meine Fürsprecher haben, glaubst du nicht?«

Der Onkel saß unbeweglich und hielt Josef Blau umschlungen.

»Ein Säufer, ein Fresser, ein Bauch wie eine Tonne, sagst du? So einer, sagst du, kann nicht ins Himmelreich eingehen? Du, jetzt wirst du mir etwas sagen, warum, frag ich dich, denn du bist ein gebildeter Mensch, warum sind die Heiligen so armselig und mager und sehen aus wie die Hungersnot? Warum gibt es keinen fetten unter ihnen, einen gepolsterten mit einem warmen Bauch und Backentaschen? Es ist ein Unrecht, sage ich, das ist nicht richtig, ist meine Meinung. Hat es keinen dicken Blutzeugen gegeben? Sieh mich an, mein Kind! Es ist ein großes Unrecht und man möchte verzweifeln.« Onkel Bobek rannen die Tränen über die Wangen in den Bart.

»Das ist so eine Sache mit Gott!« Er hatte einen Schluck aus dem Glas getan und sich beruhigt. »Der Bobek hat kein Vertrauen. Wie sollte er auch unter diesen Umständen, das wirst du doch zugeben, wie?«

Josef Blau antwortete nicht. Was hätte er auch sagen sollen? Er wollte eine Gelegenheit finden, den Onkel zu fragen, der Onkel aber sprach weiter.

»Ich glaube alles und ich halte alles, wie es im Katechismus steht, siehst du! Aber halt! Da ist ein Punkt wegen Gott! Siehst du, da gehe ich nicht mehr mit, ich habe kein Vertrauen, sage ich. Er verachtet die Dicken, siehst du, weil sie fressen, die Dicken sind nicht beliebt. Aber was tue ich? Ich stecke es ein, denkst du? Gott verzeihe es mir, man weiß nicht, wann man hinüber ist, aber siehst du, ich stecke es nicht ein, ich glaube nicht an ihn! Ich kann sonst nichts tun, aber das, siehst du, das tue ich. Da kann keiner gegen mich aufstehen. Ich habe alles gehalten, aber so für mich, siehst du, verstehst du mich wohl, wer mich nicht mag, den mag ich auch nicht.«

Er hatte an einem Knochen noch ein Stück verknorpeltes Fleisch entdeckt und begann es zu nagen.

»Kann das eine Sünde sein? Die Täubchen, da fliegen sie, die Hühnchen, da picken sie die Körner von der Erde. Weißt du, wie viele Arten es gibt, ein Täubchen zu bereiten? Euer Onkel Bobek kennt siebzehn Arten, süß und bitter und pikant, gefüllt und gebraten. Kann das eine Sünde sein? Wer war es doch gleich, wie hieß er doch gleich, der den Wein gefunden hat?«

»Noah.«

»Noah, da hast du's, und wer hat's in ihn gelegt? Gott, der alles erschaffen hat, siehst du, von der Sonne bis zum Kümmel. Da war bei uns einer, da konnte ich nicht Schritt halten, wenn der sich hinsetzte und sich ans Essen machte. Er schloß die Augen bei jedem Bissen und einmal saßen wir beim Wirt und es gab Hasen mit Sauce und Knödel und Rotkraut dazu. Aber in der Sauce war etwas, das verstanden sie bei uns, daß man die Zunge am Gaumen wetzte und man malmte den Saft zwischen den Kiefern aus dem Fleisch bis zum letzten, so einen Hasen habe ich nicht wieder gegessen.«

Der Speichel sammelte sich in Onkel Bobeks Mund und rann über die Lippen. »Man wollte nicht aufhören. Da legte er Messer und Gabel hin und schloß die Augen und er kaute und schmatzte, und weißt du, mein Kind, was er tat? Das hat Gott geschaffen, sagte er, der Name des Herrn sei gelobt! Siehst du und er weinte. Der eine, siehst du, der hört, der andere sieht und der dritte schließt seine Augen und schmeckt. Als er alt war, sagten sie ihm, er soll Maß halten, weil die Augen schwach sind, er muß sonst erblinden. Weißt du, was er sagte? Gesehen habe ich genug, sagte er, aber gegessen noch lange nicht. Er war dick und gottesfürchtig sein Leben lang. Wenn man Geld hat, siehst du, der eine legt es in den Schrank, der andere macht Geschäfte, der dritte hält auf Wein und auf gutes Essen. Wer gibt es den Armen? Ich bin gewiß ein wohltätiger Mensch. Du brauchst mir nur eine traurige Geschichte zu erzählen, so geht's mir ans Herz und läuft mir aus den Augen. Da kann keiner auftreten und gegen mich zeugen, wenn es über mich kommen sollte, heute oder morgen.«

»Man braucht Geld dazu«, sagte Josef Blau. Nun konnte er ihn fragen.

»So ist es, man braucht Geld. Man macht Schulden, siehst du, weil man leben will. Denn wozu es sich aufheben. Kannst du es dir mitnehmen? Es kann jetzt über dich kommen, du hast gegessen und getrunken, schläfst, wir haben es jetzt gesehen, was kann das Geld dir dann helfen? Was du gegessen hast, das kann keiner nach dir erben. Jeder Kümmel, den du nicht getrunken hast, ist endgültig verloren, mein Kind. Ich hebe es nicht auf, siehst du, von mir wird keiner was haben, ich habe keinen Erben außer Selma und wer ist Selma? Das bist du, mein Kind und mein Erbe! Wenn du gut aussiehst, verstehst du, dann borgen die Leute. Aber wer wird einem borgen, der mager ist, Gott verzeih es mir, wie ein Heiliger? Wird Berger ihm borgen? Da wird er lachen, siehst du, sonst nichts.«

»Wozu hast du die 1000 Kronen gebraucht?«

Er sah Onkel Bobek gespannt an... Onkel Bobek lachte.

»Den Tausender, siehst du, da ist ein Loch, das muß man zustopfen, aber man muß ein anderes aufmachen dazu. Ich bin einem in die Hände gefallen, der will sein Geld auf den Tag. Warte, sage ich, Judas, einen Monat, eine Woche, einen Tag. Keine Stunde, sagt er. Hier ist der Wechsel, sagt er, und deine Pension ist verpfändet. Gut, sage ich, denn es gibt noch Menschen, die ein Profitchen einstecken, und spreche mit Berger. Aber es ist nichts geworden, siehst du, und nun muß er doch warten, denn die Pension, da habe ich vier Monate voraus. Ich zahle es doch, ich bringe es in Ordnung, aber Zeit, Zeit, Zeit, er soll warten lernen. Denn wie ich von euch weggehe, mein Kind, so das Geld an der Brust, wozu es sich aufheben, pflege ich zu sagen, juckt es mich in den Händen und das Wasser läuft mir im Mund zusammen. Ein Gulasch und zwei Bier, sage ich und ein Schnäpschen als Nachtgebet. Aber eins gibt das andere, das verstehst du, wir sitzen bis zwölf. Dann steht einer auf und wir alle mit ihm in ein Frauenhaus in der Kasernengasse, hahaha, jawohl, mein Kind, euer alter Onkel Bobek, der stellt noch seinen Mann.«

Ging er auch nachts in die Kasernengasse wie Modlizki und Karpel? Am Ende hatten sie einander dort getroffen, Karpel und der Onkel, Karpel hatte dem Onkel erzählt und deswegen lächelte der Onkel nun so.

»Hast du dort Bekannte getroffen?« fragte Josef Blau. Er blickte vor sich hin in das flackernde Licht der Kerze. »Das versteht sich. Da trifft man so manchen, der tagsüber herumgeht mit niedergeschlagenen Augen.«

»Karpel, hieß einer so?«

»Karpel, Karpel?« Der Onkel wiegte nachdenkend den Kopf. »Dort nennt niemand, der nicht muß, seinen Namen. Leicht möglich, daß ich ihn kenne. Mich kennen sie alle. Ich schäme mich nicht, verstehst du, ich bin ein Witwer. Wo soll ich es hintun, was ich überflüssig habe? Onkel Bobek, rufen sie, die Gäste wie die Mädeln, wenn ich komme, ganz so wie du und Selma. Aber ich sage, sagt mir nicht Onkel, sage ich, denn ich will es mit jedem Zwanzigjährigen aufnehmen, sage ich!«

Josef Blau horchte auf. »Mit Zwanzigjährigen?«

»Du glaubst mir nicht? Komm, das hat noch keiner gewagt. Was habe ich vorhin gesagt, mein Erbe, habe ich gesagt und nun das! Komm, zieh dir Hosen an, verstehst du mich, sie lassen uns noch hinein. Wenn du mit mir kommst, öffnen sie. Ich lasse die Wirtschafterin rufen, Fritzi heißt sie, ich habe sie gekannt, als sie ein Mädel war wie die anderen. Du sollst mich kennenlernen, so nach dem Wein und dem Schnaps. Du meinst, das macht dem Onkel Bobek etwas? Den Onkel Bobek schmeißt das nicht um. Das wäre gelacht, mein Junge. Da sind fünf Mädchen, eine hübscher als die andere. Wir machen keine langen Geschichten, verstehst du, alle fünf mit, keine Faxen im Salon, mußt kein Sechserl in den Automaten werfen und mir Musik machen, Euer Onkel Bobek braucht noch keine Musikbegleitung. Zieh dich an und komm!«

»Nein, nein«, sagte Josef Blau. Der Onkel zog ihn an der Hand. Josef Blau versuchte sich freizumachen. Wie sollte er sich wehren! Wollte Onkel Bobek ihn wirklich zwingen, nun nachts in die Kasernengasse zu gehen? Er konnte Karpel mit Modlizki dort treffen oder einen anderen. Es ging nicht, es wäre das Ende gewesen.

»Alle fünf, sage ich, und die Wirtschafterin als Zugabe. Genügt dir das? Schließlich, ich bin heute müde. Glaubst du es, glaubst du es, du? Sage es aufrichtig und ohne Ausflüchte!«

Der Onkel beugte den Kopf vor und sah ihm in die Augen.

Er hielt noch immer seine Hand.

»Ja, ja«, sagte er.

Der Onkel ließ los.

»Man ist doch nicht mehr der Jüngste«, fuhr Onkel Bobek nach einer Pause fort. Er nickte schwermütig mit dem Kopf. »Das ist nicht wegzuleugnen. Ja, ja. Wie ich so zwanzig war, dreißig, da hättest du mich sehen sollen! Und mit vierzig noch immer. Nun es sind eben jetzt andere an der Reihe, Jüngere, solche, wie du, was?«

Josef Blau erschrak. Was wollte der Onkel von ihm?

»Aber du wirst wohl der Stärkste nicht sein, was? Hahaha! Ich möchte mal Selma fragen, so ganz im Vertrauen.«

Josef Blau stieg das Blut zu Kopf.

»Sei still«, sagte er.

»Nun, nun, ich tu's ja nicht! Nur keine Bange! Ich will das Mädel schon nicht in Verlegenheit bringen, hahaha. Aber sie weiß vielleicht gar nicht, daß es was anderes gibt, was ein richtiger Mann...«

»Onkel!«

»Onkel! Onkel! Nur keine Angst! Ich sag ja nichts. Werde mich wohl hüten. Da käme ich wohl schön an. Aber ein richtiger Mann, weißt du, wie ich so alt war, wenn ich nachts nach Hause kam, da konnte ich getrunken und gegessen haben, was ich wollte. Siehst du, nicht einmal die Zigarre nahm ich aus dem Mund, Tag für Tag, jahraus, jahrein, da war mir ganz gleichgültig, was sie sagte, die gottselige Martha. Da gab's kein Erbarmen, und das war nicht alles, was so nebenher ging. Kannst dich nur mal in der Gegend umsehen, da laufen sie herum, so an die dreißig Bobeks gewiß. Hat manchmal ein schönes Stück Geld gekostet. Aber wozu es sich aufheben, pflege ich zu sagen.«

Josef Blau hatte sich erhoben: »Du lügst!« sagte er.

»Hahaha, da lüg ich wohl, meinst du, weil ich nicht so einer bin wie du. So ein dürrer, vertrockneter, wie ein Heiliger, Gott verzeih es mir! Aber da soll einer an sich halten! Zu wenig habe ich gesagt, wenn einer jung ist und ein Mann, der kann noch ganz andere Sachen, so einer, wie der neue Lehrer, wie heißt er doch, der...?«

Josef Blau sah den Onkel starr an. Er hatte die Hände gehoben, als wollte er ihm an den Hals fahren, das Blut pochte in den Adern seines Halses. Das Zimmer ging auf und ab, war es, weil das Licht flackerte und die Schatten tanzten, oder war es noch immer der Wein in seinem Kopf?

Onkel Bobek verstummte.

»Du«, sagte Josef Blau, »du lügst!«

Der Onkel schwieg.

»Sag, daß du lügst«, schrie Josef Blau.

Der Onkel sah ihn an und gab keine Antwort.

»Was ist mit dem Geld, frage ich?« sagte Josef Blau keuchend. »Du versäufst und verfrißt es. Du richtest uns alle zugrunde. Ich will das Geld haben, du! Nun sprich, wie wirst du mir das Geld geben, wenn es soweit ist? Sprich! Oder... oder...«

Er machte einen Schritt auf ihn zu.

»Heb die Hand nicht auf«, sagte Onkel Bobek und versuchte, auf dem Sofa seitwärts zu entkommen.

»Gib Antwort!«

»Das Geld wird da sein.«

»Woher?«

»Wenn es nicht anders geht, heirate ich doch die liebe Matthilde.« Onkel Bobek seufzte.

Das Licht flackerte. Die Tür hatte sich leise geöffnet. Josef Blau wandte sich um. Er sah Selma. Sie hatte einen Mantel übergeworfen.

»Was gibt's?« fragte sie.

»Nichts, nichts«, sagte Onkel Bobek. »Wir sprechen so, wir beiden miteinander.«

»Ach«, sagte Selma. »Wie du aussiehst, hahaha! Was hast du denn an?«

Josef Blau blickte an sich herunter. Er trug den weiten faltigen Schlafrock der Mutter. Der Schlafrock war aus blauem Kattun und mit großen gelben Blumen bedruckt.

Selma lachte. Er hörte sie noch, als sie die Tür des Schlafzimmers hinter sich geschlossen hatte.


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