Hermann Ungar
Die Klasse
Hermann Ungar

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

9. Kapitel

Modlizki stand auf der Freitreppe, schwarz, mit hochgeschlossener Weste. Er schritt Josef Blau entgegen, ohne Eile wie immer, den Kopf mit dem schwarzen, in der Mitte gescheitelten Haar nach links geneigt.

Sie traten in die holzgetäfelte Halle.

Josef Blau setzte sich. Er hatte das Fenster im Rücken und vor sich die Wand mit ausgestopften Tierköpfen und Waffen. Modlizki stand vor ihm. Josef Blau forderte ihn mit einer Bewegung der Hand auf, sich zu setzen. Modlizki setzte sich in angemessener Entfernung auf die Kante eines freistehenden Stuhles. Er saß aufrecht, den Rücken nicht angelehnt.

Modlizki sah Josef Blau wartend an. Josef Blau rückte unruhig auf dem Stuhl. Er mußte anfangen, zu sprechen. Modlizki, wußte er, würde nichts tun, das quälende Schweigen zu beenden.

»Du bist bei mir gewesen, Modlizki«, sagte er. »Es war mir nicht möglich früher zu kommen. Es ist...«

»Es ist mir bekannt«, sagte Modlizki. Er erhob sich. »Ich hätte nicht versäumt, ehestens meinen Glückwunsch auszusprechen.«

»Ich danke«, sagte Josef Blau. »Setze dich, Modlizki.«

Es war so vieles, wovon zu sprechen war. Wie sollte er beginnen? Er mußte vorsichtig sein, sich keine Blöße geben.

»Es ist ein Knabe?« fragte Modlizki. Josef Blau nickte. »Er wird das Glück haben, eine sorgfältige Erziehung zu genießen. Mir wurde dieses nicht zuteil. Mein Vater...«

»Ich weiß«, sagte Josef Blau.

Modlizki verneigte sich und schwieg.

Er hätte ihn nicht unterbrechen sollen. Nun mußte Josef Blau wieder beginnen.

»Von wem hast du davon erfahren, Modlizki, von dem Kind, meine ich?«

»Der junge Herr Karpel kam gestern vorbei. Ich pflege des Abends vor dem Haus zu stehen. Die Abende sind warm, als wäre es Sommer.«

»Der Schüler Karpel? Ihr habt über mich gesprochen?«

»Wir sprachen dieses und jenes. Der junge Herr zeichnet mich durch sein Vertrauen aus. Ich glaube, ich habe mir erlaubt, es einmal zu erwähnen.«

»Was sagte er?«

»Wir hatten heute den neuen Lehrer, sagte er. Ich fragte, ob Herr Blau erkrankt sei. Nein, sagte der junge Herr. Bei der Frau klappt es. Aber jetzt wird das Junge schon da sein. Der junge Herr drückte es so aus. Es steht mir nicht an, es ihm zu verweisen. Es ist ein freudiges Ereignis, eines Kindes zu genesen, erlaubte ich mir, mit Nachdruck zu erwidern.«

Modlizki lächelte nicht. In seinem Antlitz bewegte sich nichts. Die Stimme war eintönig und tief. Sie hob und sie senkte sich nicht. Josef Blau blickte auf den Boden, auf das bunte Muster des Teppichs.

»Der junge Herr liebt eine starke Ausdrucksweise«, fuhr Modlizki fort. »Sie könnte geeignet sein, zarte Hörer zu verletzen. Er ist mit Sorgfalt erzogen. Ich möchte meinen, daß ein gewisser Mutwille es ist, der ihn treibt, die Spuren dieser Erziehung zu verwischen. Ich will mich nicht vermessen, ein Urteil abzugeben, aber ich zweifle nicht, daß der junge Herr von sich reden machen wird.«

»Wann?« fragte Josef Blau.

»Das ist mir nicht bekannt. Ich meine es nicht im besonderen, ich hatte die Absicht, etwas zu sagen, was man als allgemeines bezeichnet.«

»Du glaubst, daß er kein durchschnittlicher Mensch ist, Modlizki?«

»Das wollte ich im allgemeinen sagen.«

»Im Guten oder im Bösen?«

»Ich weiß nicht. Es ist so, daß er besonderes unternehmen wird. Vielleicht wird es einem gut erscheinen und anderen böse. Es kann sein, meine ich, daß es so kommt.«

»Ich glaube, es gibt eine Grenze zwischen gut und böse. Es gibt auch Dinge, die dazwischen liegen. Aber – das Besondere, das nicht Allgemeine kann man doch erkennen, ob es so ist oder so.«

Modlizki sah Josef Blau an. Josef Blau hatte es nicht klug gesagt. Modlizkis Blick machte ihn unsicher. Modlizki wartete.

»Sprich, Modlizki!« sagte Josef Blau.

»Ich habe keine Bildung genossen und ich weiß nicht, meine Meinung zu sagen, daß man sie klar versteht. Ich will ein Beispiel geben. Es könnte sein, daß der junge Herr etwas in der Schule unternimmt, was dem Lehrer böse, den Schülern gut erscheint, zum Beispiel.«

»Was ist es?« fragte Josef Blau.

»Ich sage es als Beispiel. So wäre dem einen gut, was dem anderen böse ist.«

Sah ihn Modlizki nicht merkwürdig an, als beobachtete er jede Bewegung seiner Muskeln? Modlizki wußte.

»Es gibt allgemeine Grundsätze, nach denen man das Gute vom Bösen unterscheiden kann. Das Gesetz, die Religion, Gott.«

»Das Gesetz«, sagte Modlizki. »Es sagt, daß niemand nehmen darf, was des anderen ist. Das ist es, wie mir scheint, im Grunde. Die Religion sagt, daß man den Nächsten lieben soll und daß der Arme ins Himmelreich eingeht.«

»Ist es nicht gut und ein Trost?«

»Es ist gut für die Herren und die Damen.«

»Sie brauchen es weniger als die anderen, Modlizki.«

»Es mag sein, daß mir die Bildung abgeht, es zu verstehen. Es mag der Grund sein, daß ich anderer Meinung bin, wenn es erlaubt ist. Es ist leicht, den Nächsten zu lieben, für einen Herrn. Die Herren und Damen sind nicht veranlaßt zu stehlen. Es bezieht sich mithin das Verbot nicht auf sie. Es ist zu ihrem Schutze. Wenn wir lieben, so uns böses tun, die andere Backe hinhalten und so, ist es den Herren und Damen gut. Dieses ist sozusagen vorübergehend, sagt man uns. Wir gehen ins Himmelreich, was unser Trost ist. Die hier die Ersten sind, werden dort die Letzten sein, worüber sich wieder die Damen und die Herren getröstet haben. Wenn es gestattet ist, ist deswegen unsere Religion verbreitet.«

»Deswegen verbreitet?«

»Ich meine, daß sie gegen uns ist und daß man sie darum überall gelehrt hat.«

»Es ist merkwürdig, wie du es ansiehst, Modlizki. Du glaubst, die Reichen haben sie benutzt, ihre Macht zu erhalten?«

»Die Herren und Damen. Liebe deine Feinde, wird gesagt. Du sollst nicht stehlen, wird gesagt. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Esel, wird gesagt. Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher ins Himmelreich eingeht, wird gesagt. Ich habe es gelesen. Ich habe gelesen, daß es der Glaube der Sklaven gewesen ist. Die Herren und Damen haben ihn bekämpft, sie begriffen ihn nicht. Dann begriffen sie ihn, habe ich gelesen, und sie verbreiteten ihn und richteten seine Zeichen bei allen Völkern auf, die sie unterwarfen. Sie nahmen ihnen alles, denn es war so, daß sie sie liebten und wollten, daß sie leichter ins Himmelreich eingehen.«

Modlizki kannte nur den Haß. Sein Haß machte ihn findig, aber er blieb beschränkt und eigensinnig. Man durfte es nicht in sich einlassen, was Modlizki sagte.

»Ist es nicht von Gott?« fragte Josef Blau leise.

Modlizki schwieg. Er sah starr vor sich hin.

»Ist es nicht von Gott?«

»Vielleicht ist es von Gott«, sagte Modlizki.

»Es gibt eine göttliche Gewalt«, sagte Josef Blau. Er hatte die Augen geschlossen. »Es wäre alles undenkbar, verstehe mich! Es wäre alles Zufall und ein Wahnsinn, Modlizki!«

»Die Gebildeten untereinander leugnen, wie ich es gelesen habe, die göttliche Macht. Es sind Leute aufgestanden, es zu beweisen, daß kein Gott ist. Alles vollzieht sich, sprechen sie, nach natürlichen einfachen Gesetzen. Der menschliche Geist sei an den Körper gebunden und sterbe mit ihm. Der menschliche Geist erst habe Gott erfunden. Die Gebildeten brauchen Gott nicht. Aber wir, sprechen sie, brauchen ihn noch und unseretwegen lassen sie ihn bestehen. Denn wir haben keine Bildung genossen, wir sind ohne Erziehung. Es könnte sein, daß wir nichts fürchten, wenn wir Gott nicht fürchten und die Lehre, die gepredigt wird. Wir könnten meinen, daß ohne den Trost des Himmelreichs es sich nicht lohne, sich zu trösten und könnten beginnen zu begehren, was den Herren und Damen gehört, und wähnen, daß die Rache unser sei. Ich habe nicht oft Gelegenheit, mit Gebildeten zu sprechen. Ich verstehe es so wie ein Mann ohne Bildung und Erziehung es versteht. Ich möchte die Gelegenheit benützen, zu fragen, ob Gott ist, wenn es erlaubt ist?«

»Ich habe es gesagt«, sagte Josef Blau.

»Wie denn, nicht bloß, um mich auf den rechten Weg zu bringen, der für einen Mann meines Standes der ziemliche ist?«

»Wir sind eines Standes, Modlizki, wir sind zusammen aufgewachsen.«

»Ich weiß, daß es mir nicht ansteht, mich dessen zu erinnern. Ich habe es vergessen. Ich gehöre zur dienenden Klasse.«

»Ich auch, Modlizki.«

»Ich begreife den Wunsch, geachtet zu werden, wie es dem Stande zukommt, dem man angehört.«

Josef Blau wich seinem Blick aus. »Dem man angehört«, hatte Modlizki gesagt, nicht »dem man nun angehört«. In seinen Worten war kein Hohn. Seine Stimme hob und senkte sich nicht. Aber war in Modlizkis Augen nicht der Funke des Hasses? Josef Blau wollte aufstehen und gehen. Jeden Augenblick konnte es zu spät sein. Denn jeden Augenblick konnte Modlizkis Haß gegen ihn ungehemmt hervorbrechen. Aber von wem sollte er alles erfahren, wenn nicht von Modlizki? Modlizki würde selbst davon beginnen, was Josef Blau wissen wollte. Josef Blau fühlte es. Er mußte warten.

»Gott will, daß wir unsere Feinde lieben«, fuhr Modlizki fort. »Gott hat eine Lehre gegeben, die für die Herren gut und gewinnbringend ist und uns hat er einen Trost gegeben. Ich vermesse mich nicht, Gott zu leugnen, aber ich verstehe, daß er gegen mich ist. Er ist ein Herr, der täglich gebratenes Fleisch genießt und sich die Schuhe putzen läßt, meine ich. Seine Lehre ist nicht gut für uns. Wir sind eine große Masse und er ist mit den anderen. Man kann nicht auftreten dagegen, meine ich. Du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen!«

»Töten?«

»Ich sage es zum Beispiel. Sie sagen, man könnte die Güter gerecht verteilen. Aber sie werden nicht gerecht verteilt bleiben. Und was ist gerecht, meine ich? Ich sage, wenn es erlaubt ist, daß es darauf nicht ankommt. Die Güter sind es nicht.« Er machte eine Pause.

»Kann man aufhören, Gott zu fürchten, frage ich?« Er sah Josef Blau starr an.

»Schweig, schweig, Modlizki!«

Was sprach er? Was löste er? Was forderte er heraus?

Modlizki verneigte sich gegen ihn und schwieg.

»Warum sprichst du nicht weiter? Ach, was willst du, Modlizki? Ich habe kein Recht und nicht die Absicht, dir das Wort abzuschneiden. Ich bin gekommen, mit dir zu sprechen. O Gott, du bringst mich zur Verzweiflung!« sagte er mit gequälter Stimme.

Modlizki schwieg.

»Sprich, sprich! Was wolltest du? Wo habe ich dich unterbrochen?«

»Ich bin mir bewußt, wie langweilig dieses für einen Gebildeten ist. Aber man spricht dies und das. Ich bin ohne die Schulung der Gedanken, daß man diese versteht. Ich weiß, daß wir ausgeschlossen sind und ich will so bleiben. Wir sind eine Masse gegen die Herren und Damen, aber wir können nichts tun als Masse, worauf es ankommt, wenn man mich versteht. Denn auf die Güter kommt es zuerst nicht an. Wir sind ihnen einzeln gegenüber.«

»Ich verstehe dich gut, Modlizki!«

Er stand allein den Knaben gegenüber, die ihn ausschlössen. Sie verachteten ihn. Sie verwendeten ungewöhnliche Mittel.

»Wir können zu Wahnsinn und Verzweiflung treiben.«

Modlizki konnte es. Wenn er noch lange sprach, trieb er ihn dazu. War nicht jeder Augenblick kostbar? Zu Hause lag Selma. Sie fieberte vielleicht. Das Neugeborene konnte erkrankt sein. In dieser Stunde konnte Karpel mit dem Wechsel etwas unternehmen.

»Wir sind eine große entsetzliche, aufsässige Masse. Ich meine, daß es so sein könnte. Dann würde das andere nachfolgen. Wir können zu Wahnsinn und Verzweiflung treiben, jeder für sich. Wie ein Teig ist es, wenn man mich recht versteht. Wir lächeln nicht und wir weinen nicht. Wir nehmen nicht Anteil, an nichts. Wir sind bescheiden, aber ungelegen, so meine ich es. Gehorsam, aber schnell oder langsam. Wir befolgen alles, aber es macht die irr, die befehlen. Man kann keinen Tadel finden, aber es ist quälend, ängstigend und es ist kein Grund, wenn man es besieht. Wir sind harmlos und gehorsam, wir entwinden uns immer wieder.«

»Wie Kragenknöpfe«, sagte Josef Blau. Modlizki sah ihn fragend an. »Nichts, nichts!«

»Ich meine, daß es so sein könnte. Wir schließen uns aus aus allem. Wir hören keine Musik, nur Befehle. Es sind keine Feste. Es wird eine große Angst kommen, wenn ich es richtig denke. Wir lehnen alles ab. Nichts bewegt uns, an unsere Abkunft nicht zu denken. Man kann nicht sprechen. Denn es ist, daß wir taub sind und gehorchen. Zu mir, meine ich, führt kein Weg von den Herren. Sie werden allein sein und wir werden starr sein und sie ansehen, eine große Masse, daß sie verzweifeln. Ich bin gelassen und der Herr Rat sind unruhig. Ich lasse mich nicht verleiten. Ich bleibe von allem ausgeschlossen. Es ist nicht so, daß sie mich ablehnen, sondern, daß ich es ablehne. Der junge Herr Karpel kommt und sagt, es ist da eine Sache. Ich frage nicht, ich schweige. Herr Rat und die jungen Herren zeichnen mich durch Vertrauen aus. Ich erwidere nur, wenn ich gefragt werde.«

»Eine Sache, Modlizki? Was für eine Sache ist das? Rede, rede!«

»Eine Sache mit einem Wechsel. Er hat ihn gekauft, sagt der junge Herr.«

»Was will er damit? Hat er es gesagt, Modlizki?«

»Der junge Herr hat nichts hinzugefügt.«

»Nichts hinzugefügt? Aber gelächelt vielleicht, gelächelt, die Stimme, klang sie freudig, höhnisch, was hast du bemerkt, erzähle es, wie es sich abgespielt hat und was du sonst weißt, alle Einzelheiten... verschweige nichts, Modlizki, ich bitte dich, wir sind miteinander...«

Er verstummte. Er fühlte, wie Modlizki ihn starr ansah. Nichts bewegte sich in Modlizkis Gesicht, indes Josef Blau hastig atmete, die Worte hervorstieß, die Hände aufhob.

»Es geht vielleicht um alles, Modlizki!« sagte er leise und schloß die Augen.

»Vielleicht, daß der junge Herr gelächelt hat. Aber ich entsinne mich nicht. Ich stand vor dem Haus. Es war abends. Da kam der junge Herr. Er zeigte das Blatt. Da, sagte er, ich habe es gekauft.«

»Er hatte es in der Hand.«

»Ich sah es und sah die Unterschrift. Es ist noch nicht fällig, sah ich. Es wird eingelöst werden zur Fälligkeit, das ist kein Zweifel.«

»Kein Zweifel? Es war für Bobek, Modlizki, verstehst du? Er verfrißt und versäuft es. Ich habe nichts, siehst du, nichts, ich bin nicht weitergekommen, wir sparen, und wenn der Monat um ist, ist nichts da und nun alles das, die Hebamme, der Arzt, alles wird kosten, woher soll ich es nehmen und noch das, wenn Bobek mich im Stich läßt, du glaubst, ich habe zurückgelegt? Nichts, ich bin arm wie die andern, wie du, siehst du, Modlizki, glaubst du, ich bin aufgestiegen, Modlizki? Ich fühle es, leugne es nicht, Modlizki, ich fühle, daß du das glaubst, aber es ist nicht so, ich habe nichts, Modlizki.«

»Darauf kommt es nicht an«, sagte Modlizki.

»Darauf kommt es an, Modlizki, auf nichts sonst, siehst du! Karpel weiß, daß es darauf ankommt, darum hat er den Wechsel gekauft. Er wird hart sein, wenn es soweit ist und ich werde nicht zahlen können, denkt er. So haben sie mich in der Hand. Ich muß mich fügen, sonst legen sie den Wechsel vor. Woher weiß es Selma?«

»Es ist mir nicht bekannt.«

»Wer hat ein Interesse daran, daß sie es weiß, frage ich? Der, der will, daß ich es erfahre. Wenn ich es nicht weiß, hat die ganze Sache keinen Zweck. Deshalb hat man es ihr gesagt. Nur Karpel kann es gesagt haben!«

»Vielleicht, daß der junge Herr es gesagt hat.«

Josef Blau stand auf und Modlizki erhob sich sogleich. Blau setzte sich rasch wieder und winkte Modlizki, sich zu setzen.

»So kennt er sie, spricht mit ihr? Droht ihr, jagt ihr Angst ein, o Gott, was verlangt er von ihr? Wo trifft er mit ihr zusammen, seit wann, du weißt es, du genießt sein Vertrauen, sprich, Modlizki!«

»Es ist mir nicht bekannt.«

»Frag ihn, Modlizki, ich muß es wissen, ich will vorbereitet sein, auf alles, es ist vieles im Gange. Da ist der neue Lehrer, Modlizki!«

»Die jungen Herren sprachen davon.«

»Wovon? Daß er mit Selma gesprochen hat?«

»Sie haben sich lobend über ihn geäußert.«

»Lobend? Und was sonst?«

»Es wurde nicht weiter davon gesprochen.«

»Du sollst fragen, Modlizki! Sie werden es dir erzählen. Du bist klug. Du kannst es ihnen entlocken. Wegen des neuen Lehrers und was mit dem Wechsel ist. Was soll ich tun, Modlizki?«

»Wenn es erlaubt ist, ich glaube nicht, daß der junge Herr den Wechsel gutwillig herausgibt.«

»Was soll ich tun? Du wirst mir helfen, Modlizki!«

Modlizki schwieg. Er sah Josef Blau an. Dann sagte er langsam:

»Vielleicht, wenn man den jungen Herrn in die eigene Gewalt bekäme...« Er stockte. Was war das? Prüfte er die Wirkung seiner Worte?

»Ich verstehe dich nicht. Sprich weiter!«

»Nun, daß der Lehrer den Schüler in die Hand bekommt wie der Schüler den Lehrer.«

»Wie denn? Was meinst du?«

»Wenn der Schüler wüßte, daß er in des Lehrers Hand ist, würde er auch den Wechsel geben.«

»Ach Gott, sprich deutlich, was soll ich?«

»Wenn es erlaubt ist und man es recht versteht. Daß der junge Herr dem Lehrer abends begegnet. Dann würde der junge Herr, meine ich, zu vielem bereit sein. Es steht viel auf dem Spiel, zu Hause und in der Schule.«

»Wie begegnet?«

»Ich meine, »wenn der junge Herr in der Kasernengasse ist.«

»Nein!« Josef Blau sprang auf. »Das ist unmöglich!«

Auch Modlizki hatte sich erhoben.

»Ich meine nicht so, daß der junge Herr dem Lehrer in einem Haus begegnet. Es könnte beim Verlassen des Hauses sein, daß der Lehrer dasteht. Es wird heute nach sieben Uhr sein, daß der junge Herr in einem Haus ist. Wenn es erlaubt ist, wird es das zweite Haus an der linken Seite sein, wenn man von der Kaserne zählt. Es wäre so, daß der Lehrer dort steht und wir verlassen das Haus.«

»Dastehen, Modlizki... es ist...«

»Ich könnte aus dem Fenster sehen und bemerken, wenn es soweit ist. Wir würden das Haus sogleich verlassen.«

»Wie soll ich...«

Ein schrilles Glockenzeichen unterbrach ihn.

»Der Herr Rat sind erwacht«, sagte Modlizki.

»Ja, ich höre, die Glocke, wir sind nicht fertig, Modlizki...«

»Wenn es mir erlaubt ist, ich glaube, es ist alles gesagt. Ich werde in allen Fällen aus dem Fenster sehen. Es ist Zeit, sich zu entscheiden.«

»Ich bin nicht entschlossen, Modlizki. Wenn man mich sieht, ich meine...«

Modlizki näherte sich der Tür.

»Es liegt in der Art meiner Stellung, daß es mir obliegt, den Befehlen des Herrn pünktlich nachzukommen. Verspätungen aus Anlaß privater Gründe wären nicht am Platze. Das Verhältnis des Herrn zu mir ist nicht privat. Es würde sonst nicht entsprechen.«

»Eine Ausnahme, heute, ersuche ihn...«

»Ich werde nicht verstanden.«

Sie standen auf der Freitreppe. Josef Blaus Blick fiel auf die weiße, lässige Göttin.

»Es ist die Nachbildung einer altgriechischen Figur«, sagte Modlizki, »sie ist aus carrarischem Marmor. Herr Rat sagen, daß ihr Anblick tröstlich sei.«

Er verneigte sich, trat ins Haus zurück und schloß die Tür hinter sich. Josef Blau blickte ihm nach. Wie hatte Modlizki erraten, daß er an die Göttin dachte? Man sollte sie zerschmettern, alles, Modlizki hatte recht. Es war da, abzulenken, zu verführen, vergessen zu machen. Nun beobachtete ihn Modlizki aus einem Fenster oder einem Guckloch. Es war beunruhigend, seinem Blick ausgesetzt zu sein und sein Gesicht, von dem die Maske nun gefallen war, nicht zu sehen. Es lachte oder der Haß entstellte es. Josef Blau schritt die Treppen hinab, und über den Kiesweg durch den Garten. Die Gittertür sprang surrend vor ihm aus dem Schloß. Er trat auf die Straße. Es war sechs Uhr abends. Es war eine Stunde Zeit, einen Entschluß zu fassen. Man mußte in Ruhe überlegen. Es war nicht alles besprochen. Was würde dann geschehen, wenn er Karpel und Modlizki gegenüberstand? Wenn Karpel auf ihn losging, alles verloren gebend Lärm schlug, andere Menschen herbeirief. Frauen, betrunkene Männer kamen aus den Häusern, es entstand ein Auflauf, Karpel sprach mit ihm, laut und höhnisch, oder er begann zu bitten, vor diesen Zeugen. Wie leicht, daß Josef Blau nicht entfliehen konnte, weil die Menschen ihn dicht umstanden! Modlizki konnte ihm helfen, wenn er Karpel unterfaßte, die erste Überraschung des Schülers ausnutzte, ihn fortzuziehen. Er hätte Modlizki darum ersuchen, ihn auf diese Möglichkeit aufmerksam machen sollen, an die Modlizki nicht denken konnte.

Josef Blau stand noch immer vor dem Haus. Wenn er läutete, mußte Modlizki öffnen. Josef Blau brauchte nur eine Sekunde, es Modlizki zuzuflüstern. Dem Herrn mußte es nicht auffallen. Es konnte nichts Ungewöhnliches sein, daß jemand klingelte, ein Bote, der Briefträger, die Zeitungsfrau, ein Bettler.

Josef Blau drückte auf den Knopf der Klingel. Er wartete. Die Tür surrte nicht. Modlizki öffnete ihm nicht, er wollte nicht mehr sprechen. Er hatte seinen Rat erteilt. Er überließ es Josef Blau, sich zu entscheiden. Es gab kein Mittel, Modlizki zu zwingen, sich sprechen zu lassen. Josef Blau mußte den Umkreis dieses Hauses verlassen. In kurzem konnte Karpel kommen, Modlizki zu holen. Karpel durfte dem Lehrer nicht vor Modlizkis Haus begegnen.

Josef Blau ging langsam der Stadt zu. Es war Tag. Er mußte, wenn er sich entschloß, Modlizkis Rat zu folgen, den Mantelkragen hochschlagen und den Hut tief in die Stirn drücken. Modlizki würde ihn erkennen, da er ihn erwartete. Josef Blau wollte die Straße aus der Kaserne betreten. Dann hatte er nur wenige Schritte in der Kasernengasse zu gehen. Die Kaserne diente als öffentlicher Durchgang. Vor dem zweiten Haus konnte er etwas verweilen, eine Zigarre anbrennen, auf die Uhr sehen, sich umblicken, als ob er jemand erwarte. Indes mußten sie aus dem Haus treten.

Die Kasernengasse war schmal. Kein Zweifel, daß in den Haustoren, auf der Straße Frauen standen, die ihn anrufen würden. Wenn er darauf vorbereitet war, würde es ihn nicht veranlassen, sich umzuwenden, wie man unwillkürlich tut, wenn man unverhofft angesprochen wird. So konnte er weitere Annäherung abschneiden. Wenn der Schüler ihn erblickt hatte, mußte er den Weg, den er gekommen war, zurückgehen. Der Weg in die Kaserne war kürzer als der nach dem anderen Straßenausgang. Im Torgang der Kaserne, schien ihm, war er gerettet. Dorthin würde ihn Karpel nicht und nicht ein Auflauf der Frauen verfolgen. Zudem würde Modlizki den Schüler hindern, dem Lehrer nachzueilen. Es lag daran, daß Josef Blau nicht den Bruchteil einer überflüssigen Sekunde blieb, nachdem Karpel ihn gesehen hatte. Alles konnte, wenn nichts Unvorhergesehenes dazwischentrat, in wenigen Minuten zu Ende sein. Karpel hatte ihn gesehen. Es brauchte nichts gesprochen zu werden. Nun war etwas, was Josef Blau gegen den Schüler gebrauchen konnte, wenn er dem Rat Modlizkis folgte.

Er trat in einen Zigarrenladen ein und kaufte eine Zigarre und ein Päckchen Streichhölzer. Die Vorbereitungen konnten alle getroffen sein, ohne daß der Entschluß noch gefallen war. Vielleicht fiel dieser so spät, daß keine Zeit mehr zur Besorgung der Zigarre und der Streichhölzer blieb. Die Zigarre war wichtig. Ein Mann, der auf der Straße stehen blieb, eine Zigarre herauszog, umständlich die Spitze abschnitt, das Feuerzeug herausholte und die Zigarre in Brand setzte, war ein alltäglicher Anblick, der nicht auffallen konnte. Außerdem zerfiel dann die Wartezeit in Tätigkeit, war ausgefüllt und erträglicher. Er wußte, was er zu beachten hatte, wenn er wartete: die Zigarre, das flackernde Streichholz, bis die Tür sich öffnete.

Es war halb sieben Uhr, als er in der Stadt war. Von hier zur Kasernengasse war in langsamer Gangart nicht weiter als fünf Minuten. In der Hauptstraße flammten die Laternen auf. Aber es war noch, vielleicht von der ersten Dämmerung gedämpfter Tag. Die Gelegenheit, Karpel zu überraschen, mußte nicht bald sich wiederholen. Gegen Modlizkis Rat ließ sich nichts einwenden. Karpel brauchte ungewohnte Mittel, der Lehrer antwortete in ungewohnter Weise. Daß er zu einem anderen Zweck, als Karpel zu überraschen, die Kasernengasse aufsuchte, konnte niemand, auch Karpel nicht, annehmen. Er stände sonst nicht wartend vor dem Haus, aus dem Karpel trat. Es mußte klar sein, daß dem Lehrer Karpels Unternehmungen angezeigt worden waren und daß der Lehrer nun, den Schüler auf offener Tat zu greifen, hierher gekommen war. War die Straße allzu belebt, sah er es noch aus dem Torbogen der Kaserne. Er gab den Weg auf und kehrte um. Aber vielleicht war die Straße ruhig zu dieser Stunde. Man erkannte jeden, der entgegenkam, von weitem. Solange er in der Kaserne war, war er gesichert. Er konnte ruhig eintreten, ohne sich entschieden zu haben und mit kurzem Blick die Straße überschauen.

Im Tor der Kaserne standen Posten und Gruppen von Soldaten. Er überschritt den weiten Hof. Soldaten standen in Reihen aufgestellt. Ein Offizier verlas mit lauter Stimme ein Schriftstück. Josef Blau trat durch ein zweites Tor in eine düstere Halle. Er schlug den Rockkragen hoch und drückte den Hut tief in die Stirn. Am Ausgang der Halle stand ein Posten. Josef Blau zögerte einen Augenblick. Vor ihm lag die Kasernengasse. Ein einzelner Soldat mit einer Mappe unter dem Arm kam durch die Straße auf das Tor zu.

Die Zigarre und das Streichholzpäckchen waren in Josef Blaus Tasche. Sein Herz pochte. Sein Atem ging schnell. Der Soldat neben ihm sah ihn an. Der Soldat mit dem Buch trat ein. Er rief dem Posten ein Wort zu und ging an Josef Blau vorbei. Aus dem Dunkel der Halle hinter Josef Blau näherten sich Schritte auf den steinernen Fliesen. Die Straße vor Josef Blau war leer. Er betrat sie langsamen Schritts wie ein Spaziergänger. Aus dem Dunkel der Tore lösten sich hutlose Frauen in weiten, ärmellosen Gewändern, Tücher um die Schultern. Josef Blau hatte sie von der Kaserne aus nicht bemerkt. Hinter den Fensterscheiben sah er runde, flache Gesichter, bleich im Schimmer der Straßenlaterne, mit großen, runden Augen. Jemand pochte rechts von ihm mit dem Knöchel an die Fensterscheibe. Er sah sich nicht um. Ein Fenster wurde klirrend geöffnet. Die Frauen unter den Türen winkten mit den Köpfen und riefen ihn mit leisen, zischenden Lauten. Hinter ihm näherte sich jemand wohl auf Pantoffeln. Der Schritt schlurfte auf dem Pflaster. Eine Frauenstimme rief hinter ihm her. Er hielt die Zigarre in seiner Tasche fest umklammert. Nun stand er vor dem zweiten Haus an der linken Straßenseite.

Konnte er stehen bleiben? Von allen Seiten winkte und zischte es. Vor ihm lag der längere Teil der Straße, noch hundert Schritt bis an ihr Ende. Er mußte umkehren in den Schutz der Kaserne. Hatte Modlizki ihn erkannt? Josef Blau hatte den Kragen des Mantels hochgeschlagen und den Hut tief in die Stirn gedrückt. Er wollte sich umwenden und zurückkehren.

Die Tür des zweiten Hauses öffnete sich von innen. Ein Lichtschein fiel auf das Pflaster vor Josef Blau. An einer Frauengestalt vorbei trat jemand auf die Straße. Es war nicht Karpel. Hinter ihm, noch im Flur sah Josef Blau zwei Gestalten. Er erkannte Modlizki an der Haltung des Kopfs. War das Karpel, der neben ihm stand? Nun mußte es sich entscheiden. Josef Blau richtete sich auf. Da ertönte ein Schrei. Die Tür flog ins Schloß. Es war der Schüler Laub, der geschrien hatte. Er stand allein auf der Straße. Nun erkannte ihn Josef Blau. Die anderen waren im Haus. Der Schüler Laub hob die Hände, sein Hut war ihm vom Kopf gefallen. Er hatte hellblondes, gescheiteltes Haar. Er ging auf den Lehrer zu.

Es war keine Zeit zu verlieren. Es konnte ein Auflauf entstehen. Die Frauen würden die Partei des Schülers ergreifen. Josef Blau wandte sich um. Er lief die Straße zurück zur Kaserne. Der Schüler folgte ihm. Er hörte seine Stimme. Sie rief etwas, aber Josef Blau verstand es nicht. Er lief durch die Kaserne. In einer breiten, baumbepflanzten Straße hielt er an. Er lehnte sich an einen Baum. Sein Herz pochte.

»Der andere war der Schüler Karpel«, dachte er. »Er ist in meiner Gewalt.«

Er sah sich um. Der Schüler Laub folgte ihm nicht mehr. Josef Blau atmete tief und richtete sich auf. Er breitete die Arme aus und streckte sich, als sei eine Last von seinem Rücken gefallen. Er lächelte. Er konnte gelassen das Weitere erwarten. Er war umsichtig, planvoll, führte mit Kraft seine Pläne zu Ende. Er konnte gelassen nach Hause gehen.

Zu Hause fand er die Mutter und Bobek im Wohnzimmer. Selma hatte geschlafen. Er warf einen Blick auf sie und Josef Albert. Selma nickte ihm zu.

Er hatte den Überrock noch an. Als er sich anschickte, ihn abzulegen, bemerkte er, daß seine linke Hand noch immer die Zigarre hielt.

Er legte die Zigarre auf den Tisch vor Onkel Bobek.

»Da«, sagte er, »rauche!«

Er lächelte. Er dachte, daß er Bobek hätte auf die Schulter klopfen können und sagen: »Alter Junge.«


 << zurück weiter >>