Hermann Ungar
Die Klasse
Hermann Ungar

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14. Kapitel

Die Ordnung war zerrissen. Sie hatten sich erhoben, sie standen einzeln und in Gruppen, lachten, schrien, stießen Worte hervor, höhnische, beschimpfende und solche, die die anderen anfeuern sollten, sie pfiffen, schlugen auf die Pulte, von Augenblick zu Augenblick lauter und haltloser, erst nur einzeln, dann alle vereint, mit aufgerissenen Mündern, wirrem Haar, roten Gesichtern. Einer riß den andern nach sich, ihre Stimmen überschlugen sich und kreischten, eine irre Erregung hatte sie alle ergriffen, die sie nun die Zucht von sich warfen, in die der Lehrer sie gezwungen hatte, die Ordnung, die er gehalten hatte, weil er wußte, was kommen mußte, wenn sie fiel, das Gleichgewicht der Kräfte, das Übergewicht der Kraft des Lehrers aufgehoben sahen, ihn, Josef Blau, den Lehrer, schwach, hilflos, willenlos, tatenlos sitzen sahen mit vor dem Antlitz gefalteten Händen, das Gesicht über das Pult geneigt. Sie waren nicht mehr aneinander gebunden in der alphabetischen Ordnung. Blum an Bohrer, Christian, Drapal, Fischer, Fleischer, Fuchs, Glaser, Goldmann, Haber, Japp, Karpel, Lebenhardt, Müller, Pazofski, Reis, Vacha, nicht mehr an ihre Sitze gefesselt, alles war aufgehoben, sie standen, sie lachten, sie höhnten, das Ungewohnte verwirrte sie, sie wußten nicht sich genug zu tun. Nun warfen sie spitze Papiergeschosse gegen seinen Platz.

Er unterschied die Stimmen. Er blickte nicht auf, aber er erkannte sie. Das war Pazofskis schon männlicher Baß, das Lebenhardts frauenhaftes Kreischen, das Japps meckerndes Lachen. Aber wo war Karpel? Rief er nicht, lachte er nicht mit den anderen? Josef Blau hörte Karpels Stimme nicht. Er hätte sie unter allen erkannt. Leitete Karpel den Angriff als stummer Befehlshaber? Karpel schwieg? Vielleicht war noch nicht alles verloren. Vielleicht, wenn Josef Blau sich erhob, die Augen auf die Knaben gerichtet mit ruhiger Stimme Ordnung befahl, die Knaben anrief bei ihren Namen, so sie ergriff, stellte, festhielt, bannte er, warf er die Empörung nieder. Vielleicht bedurfte es nur seines Blicks, daß sie zur Besinnung kamen, einander ansahen, um im anderen wie im Spiegel das eigene Gesicht zu finden, verzerrt, den Blick irr verstört, die Haare an die feuchte Stirn geklebt, daß die wilden Schreie verstummten, daß die ekstatische Erregung beschämender Besinnung wich.

Josef Blau erhob sich nicht. Er löste die Hände nicht vom Gesicht. Er wollte nichts mehr hinausschieben. Er suchte keine Milderung mehr zu erlangen, keinen Aufschub. Er wartete. Papierfetzen zu Kügelchen geballt, zu Pfeilen gefaltet, trafen ihn, glitten an ihm ab. Noch flogen nicht feste Gegenstände. Vielleicht würden sie bald die Schulbücher nach ihm werfen, Tintenfässer, Messer. Ihr Zorn stachelte sich an seiner Schwäche, die des Zornes einziger Grund war. Es schien ihm, als hätten sie ihre Plätze verlassen, drängten nach vorne. Nun kam eine Stimme aus der ersten Bank, von Laubs Platz, es war Bohrers Stimme. Die anderen übernahmen den Schrei, sie wiederholten ihn, erst wirr, dann im Takt, mit den Füßen stampfend, mit den Fäusten auf die Tische schlagend:

»Mörder, Mörder, Mör ... der ...!«

»Ich werde mich erheben«, dachte Josef Blau. »Ich werde die Klasse verlassen. Ich werde mich nicht wehren, wenn sie über mich herfallen. Ich werde mich erheben.«

Er fühlte, daß er schon stand, fühlte, daß seine Beine sich bewegten, auch das Buch hatte er zugeklappt, nicht vergessen, es unter den Arm zu klemmen wie stets, und den Hut ergriffen. Nun stand er vor der Tafel mit dem Gesicht zur Klasse. Er hatte sich getäuscht. Sie saßen alle auf ihren Plätzen. War Laubs Platz wieder leer? Nein, Bohrer saß auf Laubs Platz. Aber es gähnte eine Lücke. Es war Karpels Platz, der leer war. War Karpel nicht gekommen? Die Knaben sahen den Lehrer an. Sie schwiegen. Sie erwarteten etwas von ihm, daß er etwas sage, etwas tue. Aber er sagte nichts. Er ging, das Gesicht ihnen zugewandt, als vermesse er sich noch, sie durch seinen Blick zu halten, den gewohnten Halbkreis vom Podium zur Tür beschreibend, kein Zweifel, daß er ging, denn nun hielt er den Türgriff in der Hand und öffnete. Er trat auf den Gang und schloß behutsam die Tür hinter sich, als schliefe jemand in dem Zimmer, das er verließ.

Josef Blau blieb stehen, den Rücken an den Türrahmen gelehnt. In der Klasse war es still. Nun standen sie wohl hinter der Tür und berieten. Sie konnten es nicht glauben, daß er so, ohne sich zu widersetzen, dem ersten Angriff weichend, für immer geflohen war. Er hörte, daß von innen leise die Tür zur Klasse geöffnet und sogleich wieder geschlossen wurde. Sie hatten ihn erblickt. Nun hörte Josef Blau wieder ihre Stimmen, gedämpft, flüsternd. Sie konnten nicht anders denken, als daß er sich sammle, warte, bis sich ihre Erregung gelegt habe, um nach einigen Minuten wieder zurückzukehren. Nun bereiteten sie ihm einen neuen Empfang. Vielleicht standen sie, ihn erwartend, im Halbkreis um die Tür, ihn gleich von allen Seiten handgreiflich zu überfallen. Er mußte sie enttäuschen. Er kehrte nicht zurück. Er sammelte sich, sie hatten recht, er schloß für einen Augenblick die Augen, aber nicht, um ihnen von neuem entgegenzutreten. Er ging. Er würde sie nicht mehr sehen in ihrer ausgeschnittenen Matrosenkleidung, Karpel nicht, Lebenhardt nicht, keinen von ihnen. Er verließ dies alles, ohne sich umzusehen, und Selma und Josef Albert ohne Abschied, um nie zurückzukehren, um allein zu sein, ein Schicksal für sich, ein Leben für sich, nicht verkettet mit anderen, unbelastet von tötender Verantwortung, Josef Albert, Selma, die Knaben nicht mehr zu verstricken, ein Pilger, ein Bettler, ein Knecht auf stillen Gehöften, arm, keusch, gehorsam und einfältig an Gedanken und nicht mehr schuldig. Die Gedanken sterben und sie gehen nicht mehr zu Josef Albert. Er steht auf der Landstraße wie ein Baum. Er atmet, er lächelt, alle Sünde ist von ihm genommen, sein Kopf weiß nicht mehr, von Laub nicht, von Modlizki nicht, von Schule und Lehrer nicht, von Frau nicht und von Kind nicht. Vögel nisten in seinem Haar. Seine Schritte sind unschuldig, denn niemand wird verstrickt und Gott hinter dem langen Tisch mit dem Kruzifix hat den Zeigefinger erhoben, aber er droht nicht, er winkt ihm. Und alle haben die Köpfe gesenkt, die Knaben, Selma, Modlizki, selbst Onkel Bobek schweigt und die Mutter lächelt, als habe auch sie verstanden, was eine leise schöne Stimme spricht oder singt. Es ist der Klang dieser Stimme, der ans Herz greift, denn die Worte vergehen, dieser Klang ist die Rettung, die Erlösung, so voll süßer Rührung, daß Josef Blau die Tränen warm über die Wange rinnen.

Eine Hand legte sich leise auf Josef Blaus Schulter: »Fassen Sie sich!«

Josef Blau öffnete die Augen. Lehrer Leopold stand vor ihm.

»Ich habe hier alles gehört, ich stand auf dem Gang. Es ist nicht so schlimm, Herr Blau, fassen Sie sich. Gewiß, wer hätte das erwartet? Aber man darf die Ruhe nicht verlieren. Sie werden sehen, es ist ein Intermezzo, das die Beziehungen, ja, wirklich, ich meine es ernsthaft, zwischen Ihnen und den Schülern vertiefen wird. Ich möchte Sie begleiten, Herr Blau, ich will mit Ihnen in die Klasse gehen, wenn Sie erlauben. Sie kommen so, als wollten Sie sagen: so, Kinder, jetzt lassen wir die Dummheiten und fangen wieder an, bißchen Schule zu spielen. Habe ich nicht recht? Ist das nicht das Beste?«

»Ich danke Ihnen«, sagte Josef Blau.

»Sie sind einverstanden, Herr Blau? Und glauben Sie nicht, daß es Ihre Stellung schwächt, wenn ich Sie begleite! Sie sagen ein Wort, das zu erklären. Oder ich bleibe draußen. Es ist ja im Grunde gar nicht nötig, daß ich mitkomme. Die Schüler bereuen es schon, kein Zweifel, und sie werden alles wiedergutmachen. Ich glaube, es sind im Grunde brave Jungen in Ihrer Klasse. Also wenn es Ihnen recht ist, treten Sie ein!«

»Ich gehe nicht zurück, Herr Leopold.«

»Nicht zurück, wie soll ich das verstehen? Wollen Sie Meldung machen? Um Urlaub bitten? Tun Sie das nicht, Herr Blau. Oder tun Sie es, aber erst nach glücklicher Beendigung dieser Unterrichtsstunde. Kommen Sie«, sagte Lehrer Leopold, »gestatten Sie, daß ich Sie vor einem nicht wiedergutzumachenden Fehler bewahre, Sie werden es mir danken, ich weiß es, Herr Blau, kommen Sie!«

Er faßte Josef Blau am Arm, schob ihn gegen die Tür und öffnete.

Die Knaben saßen auf ihren Plätzen. Sie erhoben sich, als die Tür aufging. Josef Blau zögerte.

»Gehen Sie«, flüsterte Lehrer Leopold hinter ihm, »gehen Sie!«

Josef Blau trat einen Schritt vor. Nun stand er in der Klasse. Die Schüler bewegten sich nicht. Sie hatten die Köpfe halb ihm zugewandt. Lehrer Leopold hatte recht gehabt. Gewiß, die Schüler bereuten den Zwischenfall, dankten es ihm nun, daß er wiederkehrte, ohne scharfe Maßnahmen mit Hilfe der Schuldirektion ergriffen zu haben. Er wollte Lehrer Leopolds Rat folgen, auf seinen Platz gehen, als ob nichts geschehen sei, den Unterricht beginnen, vielleicht am Ende der Stunde einige Worte sagen, daß er krank gewesen sei und auf die Unterstützung der Schüler rechne.

Die Schüler standen noch immer. Josef Blau gab das Zeichen zum Setzen. Sie zögerten. Nun wandte er sich, wie stets von der Tür aus das Podium zu besteigen. Sein Blick fiel auf die Tafel. An der Tafel war ein großes braunes Blatt befestigt mit einer Zeichnung und einem Text in großen Buchstaben wie ein Plakat. Josef Blau stockte der Atem. Er begriff nicht. Kicherten die Knaben nicht? Es war ein weiblicher Körper, groß, ohne Hüllen, mit mächtigem Busen, breiten Hüften, der Kopf gesenkt, dieser Kopf! Der Kopf war geschoren, nackt, häßlich wie eine glänzende Kugel. Josef Blau las die Worte. Er schloß die Augen. Er verstand nicht. Er wiederholte sie leise:

»Blaus Opfer Selma.«

Er griff hinter sich, das Buch fiel zu Boden. Er stürzte zur Tafel. Er ergriff das Blatt. Er knüllte es, zerriß es. Er wandte sich um. Die Tür stand offen. Lehrer Leopold war auf dem Gang geblieben. Josef Blau sah ihn nicht. Die Knaben hatten sich nicht gesetzt. Ihre Köpfe waren gesenkt. Gewiß, sie lächelten. Er ging auf sie zu, Schritt für Schritt, er stieg vom Podium, langsam, mit offenem Mund, die Hände erhoben, mit gespreizten Fingern auf die erste Bank zu, da saßen sie, mit gepflegtem Scheitel, weißen Halbmonden auf den Nägeln, kurzen Hosen, daß das Fleisch der Beine sichtbar war, und den spitz zulaufenden Ausschnitten der Blusen an den nackten Hälsen, sie bewegten sich nicht, wessen Hals war es nun, den er mit den Fingern umklammerte, daß er das Blut pochen fühlte, er sah das Weiße in den Augen groß werden, das Gesicht sich röten, den Mund sich weit öffnen. Nun umringten sie ihn. Sie rissen an seinen Armen. Er ließ nicht los. Sie zerrten an seinem Rock, an seinen Ärmeln. Seine Hände hielten den Hals fest. Das war Lehrer Leopold, der zu ihm sprach. Er drückte seine Handgelenke, daß Josef Blau die Kraft verließ und seine Finger sich lösten. Er sah das Gesicht des Schülers nach hinten geneigt. Es war Japp, nun erkannte er ihn. Die anderen hielten den Schüler unter den Schultern gefaßt. Sie lagerten ihn auf der Erde. Lehrer Leopold neigte sich über Japp. Josef Blau hörte Lehrer Leopolds Stimme. Die anderen umringten Lehrer Leopold. Sie bildeten einen Kreis. Sie sahen Josef Blau nicht. Josef Blau war allein. Er hielt den Kopf gesenkt. Die Tür stand offen. Langsam schritt er hinaus. Niemand wandte sich nach ihm um.

Er ging langsam geradeaus, ohne Ziel. Sein Herz pochte, er fühlte, daß er bald nicht würde weitergehen können, ein großer Schmerz lag auf seinem Herzen, der es drückte wie eine Last. Das ist der Abschied, dachte er. Er dachte es immer wieder, denn es war ein rührender Gedanke und die Rührung machte seinen Schmerz mild, sie brachte Tränen, die wie streichelnde Liebkosung waren.

Er setzte sich auf eine Bank in den Anlagen. Er stützte den Kopf in die Hände. Das war der Abschied. Morgen würden sie ihn suchen. Sie würden im Schubfach den Brief finden. Selma würde weinen und schwarze Kleider anlegen. Sie hielten ihn für tot, denn sie verstanden ihn nicht. Onkel Bobek würde Selma Mut zusprechen auf seine Art. Lehrer Leopold würde vor aller Welt an Josef Blaus Stelle treten und bald würde die Erinnerung an Josef Blau erloschen sein, nur manchmal nachts wie ein Alp über Selma kommen und wie ein unfaßbarer gestaltloser Traum über Josef Albert. Modlizki würde kommen und unbewegten Gemüts, als erzähle er alltägliches, die Ereignisse der letzten Schulstunde berichten. Denn Modlizki ließ auch nun nicht von ihm. Er ahnte, er witterte seine Spur wie ein Hund das blutende Wild. Er suchte ihn auch jetzt noch zu vernichten, sich zu rächen, ja, ja, sich zu rächen, das war es, er rächte sich an Josef Blau, er war der Bote der Rache, es gab keine Flucht, er war Satan, warum wichen die Kinder vor ihm zurück, hatte Josef Albert nicht in der Wiege geschrien, als Modlizki eintrat? Er hatte Selma ihnen ausgeliefert, ihnen den Weg gebahnt über Drohungen, daß er Josef Blau, daß er das Kind vernichten würde, kein Zweifel, sie hatten sie gesehen, nackt, sie hatten ihre Männlichkeit an ihr erprobt, vielleicht hatte sie gelächelt, als sie ihnen willfuhr, Karpel oder mehreren, denn sie waren jung, ihre Haut war warm und fühlte sich zart und lebendig an, sie waren männlich in ihrer Jugend, sie hatten das Tuch gelöst, den nackten, geschorenen Kopf enthüllt. Josef Blau hätte es ahnen müssen, als sie ihm gegenüberstand bei Bobeks Hochzeit, als sie mit Leopold tanzte, als Josef Blau die Rede hielt, ein lächerlicher Mensch, hatte Onkel Bobek gesagt, sie haßte ihn, als er die Rede hielt, als sie die Haare schnitt. Modlizki hatte begriffen und nun trieb er sie, stachelte sie, bis sie willfuhr. Modlizki verfolgte ihn und ließ nicht ab und erreichte ihn. Was noch, was noch? Es gab keine Flucht, Modlizki war hinter ihm, solange Modlizki ihn witterte, schlug er ihn, wenn er ihn nicht erreichte, würde er andere erreichen, Josef Albert, das Kind! Modlizkis Rache sollte sich nicht fortsetzen, sollte zu Ende sein, Josef Blau rettete nichts, wenn er floh, es setzte sich fort, auch wenn er ging, das wilde Tier mußte gesättigt sein, es wollte ihn, Josef Blau, hier, hier, hier war er!

»Hier bin ich, hier bin ich«, flüsterte er. »Töte mich, hier bin ich!«

Er hatte sich erhoben.

Er wollte ihm entgegentreten, den Kopf geneigt, daß Modlizki ihn spalte! Das war das Ziel, das war das Ende. Das war der Kreis, der sich schloß. Er begriff es erst jetzt, daß Modlizki das Werkzeug war, der Bote, für ihn gesandt, ihn zu beenden.

Er eilte durch die Anlagen. An der Stelle, wo der Weg zu Modlizki abzweigte, bog er ein.

»Das Opfer«, dachte er. »Jemand wird mir eine weiße Binde leihen. Opferknabe, Camillus«, dachte er.

Das war der Kreis, der sich schloß. Er begriff es erst jetzt, daß Modlizki das Werkzeug war, der Bote, für ihn gesandt, ihn zu beenden.

Er drückte auf den Knopf der Klingel. Die Tür sprang auf. Er lächelte, als er die weiße Göttin mit dem lässig erhobenen Arm erblickte. Sie leuchtete in der hellen Sonne, und ihm war, als sähe sie ihn an und als lächle auch sie, da er sie grüßte.


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