Hermann Ungar
Die Klasse
Hermann Ungar

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11. Kapitel

Es war alles klar und schloss sich zu einem Ring. Es war nirgends eine Lücke. Alles vollendete sich. Josef Blau fieberte. In den Nächten war sein Körper naß von kaltem Schweiß. Josef Blau hielt die Augen geschlossen. Aber sein Kopf war klar.

Die dunklen Träume der ersten Tage waren gewichen. Er floh nicht mehr, pochenden Herzens, mit Füßen, an denen schwere Klumpen dichten Schlammes hingen. Er sah nicht mehr, wie auf ein fahles Blatt gemalt, flach, das Gesicht des Schülers Laub mit dicker, zwischen den Lippen geklemmter Zunge und hinter Laub Modlizki, umringt von den Knaben der Klasse, schwarz gekleidet, mit wächsernem Gesicht, einen geschweiften Zylinder in der Hand, von dem eine schwarze Schärpe in einem unerklärlichen Wind unheimlich flatterte. Denn es regte sich kein Hauch und es war eine unbewegliche ewige Stille.

Es war nun eine kühle Klarheit in Josef Blaus Gehirn. Wie ein Morgen, dachte er, im Sommer nach einer schwülen Nacht. Josef Blau wollte nichts sehen und nicht sprechen. Er wollte nicht, daß die Klarheit weiche. Er erkannte alles. Er begriff alles. Er weinte nicht und er betete nicht. Nun war es zu spät, zu weinen, zu sprechen oder zu beten. Es war zu spät, Gott zu rufen, die Hände zu ringen, beschwörende Worte zu ersinnen. Der Schüler Laub war tot. Es war kein unausweichliches Schicksal, das ihm den Tod gebracht hatte, der Tod des Schülers Laub begann irgendwo, an einem Punkt wendete sich der Weg zu Laubs Tod, von einem Punkt ging er aus, an einem Punkt lag der Schritt vom Weg des Lebens ab zum Weg des Todes. Man konnte an diesen Punkt nicht zurück, von neuem zu beginnen. Wo begann es? Begann es bei der Zigarre, die Josef Blau gekauft hatte? Ohne Zigarre wäre er nicht in die Kasernengasse gegangen und der Schüler Laub lebte noch. Aber das war nicht der Anfang. Begann es bei dem Gespräch mit Modlizki, bei Selmas Worten, die sie Josef Blau zuflüsterte, als er neben ihrem Bett stand nach Josef Alberts Geburt, mit dem Wechsel, bei Onkel Bobek, bei Josef Albert? Wo auch immer es begann, es war unwiederbringlich, jedes Wort, jeder Schritt hatten den Weg geändert. Jedes Wort, jeder Schritt rissen nach sich, wer tat, lud Schuld auf sich und verstrickte sich und die anderen. Der Weg ging hin und her, von einem zum anderen, von Josef Blau zu Selma, zu Karpel, zur Mutter, zu Bobek, zu Josef Albert, zu Lehrer Leopold, zum Schüler Laub. Alle waren verstrickt, alle hingen zusammen. Was man getan und gesprochen hatte, ging weiter, man konnte nicht sehen, wohin es sich wandte und wo es zu Ende war. Man konnte nicht zurück an den Anfang, es von vorne zu beginnen, und es gab kein Ende. Josef Blau hatte getan, Pläne gefaßt und ins Werk gesetzt. Der Schüler Laub lag in der Erde und in seiner Kammer Josef Albert, aller Verstrickungen, aller Sünden, aller Leiden Erbe. Josef Blau begriff seine Schuld: er hatte getan und hatte gewußt, daß jede Tat die Gewalt neuer Taten in sich hatte, er hatte geatmet und hatte gewußt, daß nur der von Schuld frei blieb, der dem Baum gleich war, atemlos, ausgeschaltet, ohne Gedanken, denn auch das Gedachte war in der Welt. Alle ahnten, daß es so war, aber nur die Gott ergriff, erlebten es bis ans Ende und ihnen blieb kein Ausweg. Oh, daß man nicht den Atem anhalten konnte, da jeder Hauch die Welt veränderte, schuldlos zu bleiben. Mit dem ersten Wort begann es, mit dem ersten Schrei. Vielleicht starb der Schüler Laub schon, ehe er geboren war, als das Werkzeug seines Todes, Josef Blau, kein unverantwortliches Werkzeug, geboren wurde, als Josef Blau zuerst atmete, schrie, die ersten Schritte tat, als Josef Blau an der Hand der Mutter ging. Die Mutter trug Josef Blaus Bruder eingehüllt in den Armen. Sie verdeckte sein Gesicht, daß kein Blick es sehe, denn es konnte ein böser Blick sein, der es traf. Die Frauen traten zur Mutter auf der Straße und sie fragten nach dem Alter des Kindes. Die Mutter ahnte, was ein Wort vermochte, ein lobendes, überhebliches, berufendes Wort, es vermochte das Glück und das Leben des Kindes zu berufen und sie suchte das Kind zu schützen, indem sie log und es für ein einjähriges ausgab, als es sechs Monate alt war. Begann Laubs Tod bei dem Tod dieses Knaben, der als Säugling starb? Bei den Tränen und Gebeten der Mutter, die dem Säugling bald folgte? Sie hatte eingefallene Wangen, sie wusch die Wäsche für den Vater und den Sohn in der Küche, sie hob schwere Lasten und sie haderte mit Gott, bis das Blut aus ihrem Hals kam, daß sie sterben mußte. Alles setzte sich fort und wandelte und nun war das Blut aus Josef Blaus Mund gekommen und wo endete es? Eines ruhte auf dem andern und eines schloß sich an das andere. Man konnte zurückgehen, Schritt für Schritt, aber man konnte nichts zurückrufen. Begann es beim Gerichtsdiener, dem ausgedienten Soldaten, der sich nachts stöhnend im Bett warf, daß die Bretter krachten, dem Vater, der ihn, Josef Blau, ins Leben gesetzt hatte als Josef Blau, unwiderruflich, wie Josef Blau Josef Albert? Dieser hieß Kurt Wünsche und war der Sohn des Bezirksrichters und dieser war Josef Blau, trug eine Weste, diente dem Priester am Altar im weißen Chorrock neben Modlizki, wurde der Lehrer, dieser Josef Blau, weil eines dem andern folgte, unzählige Worte und Schritte, weil dieser der Vater war und ihn zeugte und so war, und diese die Mutter, das das Zimmer, in dem er geboren wurde, das der Name, den er erhielt, diese die Nacht, die er wach lag, und diese die andere, die er schlief, weil er diesem begegnete und anderem entging, eine unendliche Kette. Er stand vor den Knaben und tat und sprach und der Schüler Laub war tot und was noch war schon gesetzt, floß schon unaufhaltsam und niemand ahnte es noch? Er stand vor ihnen und sagte und bewegte sich und setzte ihren Plänen Pläne entgegen. Er befahl ihnen, und allein, daß er schweigend vor ihnen stand, war unauslöschlich in ihnen, ob es Liebe erweckte oder Haß oder Gleichgültigkeit. Andere waren Bauern oder Kaufleute oder Beamte und sie verstrickten und verantworteten nicht so die Schicksale vieler vor dem göttlichen Gericht wie Josef Blau. Sie erkannten nicht wie Josef Blau erkannte, über den die Klarheit gekommen war, daß es keine Rettung gab, keine Flucht und keinen Ausweg, daß man nicht entfliehen konnte, daß es nichts gab, was nicht nach sich zog, es nützte nichts, die Augen geschlossen zu halten, es ging nicht, alles auszuschalten, bis auf den Atem, man durfte nicht denken, aber die Gedanken gingen durch das Gehirn, einer folgte dem andern. Vielleicht sollte er zählen, wie er als Kind getan hatte, wenn der Schlaf nicht kommen wollte, nichts mehr tun als zählen, bis alles zu Ende war.

Jemand neigte sich über ihn. Er öffnete die Augen. Es war heller Tag. Selma stand neben seinem Bett. Der wie vielte Tag war es, seit Modlizki ihm die Nachricht von Laubs Tod gebracht hatte? Damals lag Selma noch fiebernd im Bett. Sie war wieder schön wie damals, bevor ihr Leib Josef Albert trug. Um ihre Augen lagen nun keine Falten und ihre Wangen waren gerötet. Sie hatte den Mund geöffnet, die Hände halb gehoben. Was erschreckte sie? Wo war Josef Albert? Er hörte ihn nicht. Schlief er oder lebte er nicht mehr? Er wollte nicht denken, er wollte zählen, es gab nichts als zählen, aber er zählte doch schon, er zählte mit lauter Stimme, deswegen war Selma an sein Bett getreten. Er winkte ihr mit dem Kopf. Sie neigte sich über ihn.

»Papier«, flüsterte er.

Sie brachte einen Bogen und einen Bleistift. Er legte den Bogen auf seine Knie. Josef Blau schrieb. Er schrieb Zahlen auf das Papier, vielstellige Zahlen. Er zählte sie zusammen und zog sie voneinander ab. Selma saß neben ihm. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm.

»Was ist das«, sagte sie, »o Gott, was ist geschehen?«

Sie weinte.

Er hörte es. Aber wie sollte er es ihr erklären?

Wer konnte es begreifen, den es nicht ergriffen hatte?

Sie zog ihre Hand zurück. Sie wandte die Augen nicht von ihm, bis er über das Papier gebeugt ermattet in Schlaf fiel.

Als er erwachte stand Modlizki am Fußende des Bettes. Es mochte vier Uhr nachmittags sein. Modlizki hielt den Kopf seitwärts geneigt. Seine Stimme klang eintönig wie die des Vorsängers in der Kirche. Wo hatte er den Zylinder? Er hielt ihn vielleicht so, daß die Bettwand ihn verbarg.

»Es ist vorüber«, sagte Modlizki, »und es ist kein Anlaß zur Besorgnis. Deswegen bin ich gekommen. Es ging so, wie es vorgesehen war. Die Beisetzung der sterblichen Reste des jungen Herrn war von großer Feierlichkeit. Der schwergeprüfte Herr Vater, die tiefgebeugte Frau Mutter, der trauernde Lehrkörper und die jungen Herrn aus allen Klassen nahmen an den Begräbniszeremonien teil. Es war eine wohlgelungene Feierlichkeit mit gewähltem musiklischem Programm, das dem Stande des Verblichenen entsprach. Ich selbst schloß mich dem Trauerzug an. Der junge Herr Karpel war sehr bewegt. Ich begleitete ihn auf dem Heimweg, um ihm zuzusprechen.«

Es ist eine Erscheinung, dachte Josef Blau. Es ist aus einem Traum.

»Wie gesagt, es ist kein Anlaß zur Besorgnis. Die Untersuchung wurde oberflächlich geführt. Soll ich darüber berichten?«

»Ich danke«, sagte Josef Blau.

Er nahm den Bogen, der neben dem Bett lag, und beugte sich über ihn. Er multiplizierte sechsstellige Zahlen.

Als Josef Blau wieder aufblickte, saß Martha neben seinem Bett. Sonst war niemand im Zimmer. Als Josef Blau Martha sein Gesicht zuwandte, schrak sie zusammen. Sie saß aufrecht auf der Kante des Stuhls mit offenem Mund, bereit aufzuspringen und um Hilfe zu rufen.

Am späten Nachmittag trat Lehrer Leopold ein. Er setzte sich neben das Kopfende des Bettes. Selma war mit ihm zugleich ins Zimmer getreten. Sie hatte ihm wohl geöffnet. Sie setzte sich Lehrer Leopold gegenüber an das Fußende des Bettes. Er trug einen blauen Anzug, aus dessen linker Brusttasche der Zipfel eines weißen Seidentuchs herabhing.

»Es freut mich, Sie wieder munter zu sehen«, sagte Lehrer Leopold. Also war er während Blaus Krankheit dagewesen, oft, vielleicht täglich, da er ihn auch anders gesehen hatte. »Sie beschäftigen sich wieder, das ist ein gutes Zeichen. Haben Sie ein bestimmtes Problem vor, Herr Blau?«

»Multiplikationen«, erwiderte Josef Blau, »sechsstellige Multiplikationen.«

»Oh, ich verstehe«, sagte Lehrer Leopold ernst.

Sie werden mich für verrückt halten, weil sie es nicht begreifen, dachte Josef Blau.

»Es zerstreut«, sagte er, »und man muß nichts denken. Ich glaube, ich ruhe dabei aus. Es gilt nichts, meine ich.«

Selma hielt die Hände im Schoß. Ihre Finger knüllten ein kleines Taschentuch. Lehrer Leopold sah sie an. Niemand war da, sich in den Weg zu stellen. Josef Blau konnte es nun nicht mehr. Er wollte rechnen, das zog nichts nach sich, niemand mußte darum sterben. Warum hatte er versucht, es zu entschuldigen? Mochten sie ihn für verrückt halten. Was änderte es? Er hatte die Wahrheit erkannt, hat man nicht schon oft die für verrückt gehalten, die die Wahrheit zuerst erkannten?

»Ich soll Sie von Ihren Schülern grüßen, Herr Blau«, sagte Lehrer Leopold. »Ich habe für die Zeit Ihrer Krankheit die Klasse übernommen. Die Schüler nehmen warmen Anteil an Ihrer Erkrankung. Der Schüler Karpel wollte Sie besuchen, aber ich habe es nicht gestattet. Er fragt mich täglich nach Ihrem Befinden. Er hängt mit großer Liebe an seinem Lehrer. Hätten Sie seinen Besuch gewünscht?«

»Nein«, sagte Josef Blau.

»Es ist schön, zu sehen, wie die Schüler Ihnen ergeben sind. Das ist der Lohn unseres verantwortungsreichen Berufs. Es ist ein schöner Beruf, gnädige Frau. Ich habe ihn aus Neigung gewählt. Mein Vater, der ein hoher Beamter war, wollte mich zum Juristen machen. Ich habe noch nie bereut, daß ich Lehrer geworden bin. Die Schüler, wenn man sie zu behandeln weiß, sind Wachs in den Händen des Lehrers. Man bemüht sich, sie zu formen, sie zu dem zu machen, was einem als menschliches Ideal vorschwebt. Dieses Ideal muß man klar und fest umrissen vor sich sehen. Sonst kann man Fehler machen, nie wieder gut zu machende Fehler. Das Material, in dem der Lehrer arbeitet, ist kostbarer als der kostbarste Marmor. Gewiß, wir haben nicht alle das gleiche Bild vom vollkommenen Menschen. Mein Ideal ist dem griechischen, klassischen verwandt. Ihr Ideal, Herr Blau, mag ein anderes sein. Es kommt nicht darauf an, welchem Ideal man zustrebt, sondern darauf, daß man ihm zustrebt.«

Was sprach er? Wessen vermaß er sich? War er ohne Ahnungen von der Verantwortung, die man trug, daß es anders wurde, als man wollte? Seine Stimme ging über alles hin, sie klang angenehm und lockend, sie bedeckte wie dünnes Eis im Herbst den unter der gefrorenen Fläche wogenden See. Er sollte gehen. Josef Blau wollte nicht hören, was Lehrer Leopold noch zu sagen hatte. Er schloß die Augen.

»Sie sind müde. Sie werden sich rasch erholen, wenn Sie wieder in die Schule gehen«, sagte Lehrer Leopold. »Tätigkeit, Bewegung wird alles wieder in Ordnung bringen. Wir werden darauf achten, daß Sie etwas für sich tun, Herr Blau. Wir haben jetzt herrliche Sommertage. Sowie der Arzt es erlaubt, werden wir Sie an die frische Luft bringen. Sie wirkt Wunder!«

Selma schüttelte den Kopf.

»Glauben Sie mir, gnädige Frau! Die Zimmerluft macht alles schlimmer, als es ist. Alles ist leichter, als es aussieht. Das ist so ein Stück von meiner Philosophie. Gewiß kein tiefer, aber ein guter Glaube. Ich will gehen und morgen wiederkommen. Herr Blau braucht Ruhe. Kommen Sie mit mir, Frau Selma. Eine Stunde in der Sonne und Sie werden sehen, es ist wirklich alles leichter zu ertragen.«

»Er soll gehen«, dachte Josef Blau. »Mit ihr oder allein, nur nicht bleiben und sprechen.«

Selma hatte Blaus Hand ergriffen. Er öffnete die Augen.

»Ich bleibe«, sagte sie.

Lehrer Leopold stand neben ihr, als überlegte er, ob er allein gehen sollte.

»Wenn er mich braucht«, sagte Selma.

»Sie sind hier überflüssig. Herr Blau wird sich mit seinen Multiplikationen beschäftigen. Die Zeit wird ihm rasch vergehen.«

Josef Blau sah Lehrer Leopold an.

»Ich bin nicht verrückt«, sagte er.

Selma schrie auf.

»Was sprichst du«, rief sie. »Es ist eine Sünde, so zu sprechen, hörst du?«

Sie warf sich über Josef Blau und umklammerte ihn. Lehrer Leopold legte ihr die Hand auf die Schulter. Dann umfaßte er sie vorsichtig und hob sie auf. Man sah, wie stark er war. Die Mutter war eingetreten. Sie legte Selma den Mantel um die Schultern und setzte ihr den Hut auf den Kopf. Lehrer Leopold führte Selma langsam aus dem Zimmer.

Die Mutter setzte sich auf Lehrer Leopolds Platz an das Kopfende des Betts. Sie atmete laut und tief. Ihr Kopf sank nach hinten. Ihre Augen waren halb geschlossen. Um den offenen Mund lag ein Lächeln. Warum lächelte sie? Träumte sie vom eigenen Glück, von der Hoffnung auf neue späte Zärtlichkeit, die sie vom dicken Bobek noch erfahren wollte? Oder träumte sie von der Tochter, die nun mit dem neuen Lehrer, der stark war und von der Sonne gebräunt, durch die Straßen ging, und machte sie das Glück der Tochter lachen? Die beiden gehörten zueinander, Selma und der neue Lehrer, alle wollten es, die Mutter holte ihr den Hut und den Mantel, alle wußten es, und sie lächelten, weil eintraf, was sie von Anfang an gewußt hatten. Niemand widersetzte sich. Niemand stellte sich in den Weg.

Nun hatte die Mutter die Augen geschlossen. Sie schlief. Wie lange mochten sie nun weg sein? Vielleicht saßen sie auf einer Bank in den Anlagen. Es saßen immer Männer mit Frauen auf den Bänken, wenn es dunkel wurde, aneinandergedrückt. Man hörte sie flüstern und plötzlich flammte ein Streichholz auf, um gleich zu verlöschen, und die leuchtenden Pünktchen aufglühender Zigaretten zogen Kreise im Dunkel. Lehrer Leopold hielt den Arm um Selmas Schulter, sie schwiegen. Selma lehnte an seiner Brust, sie weinte, aber es war nicht mehr Schmerz, schon Glück und Freude. Vielleicht saßen sie im Kino und hielten einander an den Händen. Auf der Leinwand zogen Bilder vorbei, schöne Männer, schöne Frauen, die einander liebten, alles besiegten, einander in die Arme sanken, wie es bestimmt war. Josef Blau stellte sich nicht mehr in den Weg. Josef Blau durfte nichts denken, nicht denken, wenn sie ging, nicht denken, wenn sie weg war, nicht denken, wenn sie wiederkam. In seinem Gehirn mußte alles ausgestrichen sein, er durfte nun nichts mehr hervorrufen zu dem, was hervorgerufen war, über ihn gebracht, über sie, über das Kind und über noch einen, noch einen, den Schüler Laub, würde sein Platz in der Schule von einem anderen besetzt sein? Wer würde auf diesem Platz sitzen? Aber sie hatten den Platz freigelassen, der Platz war leer, es war ein Loch, eine Lücke im Zusammenhang der Schüler, sie schlössen die Lücke nicht, sie war wie ein höhnisches Lachen im offenen Mund, sie wollten, daß er es sage, daß die Lücke sich schließe. Vielleicht hatte es Karpel vorgeschlagen, die anderen hatten zugestimmt, sie zwangen ihn, es zu sagen, zu befehlen, denn der Platz durfte nicht frei bleiben:

»Vacha, setzen Sie sich auf den Platz des Schülers Laub.« Seine Lippen brachten es nicht hervor, er konnte es nicht sagen, er konnte es nicht bekennen: Er war unschuldig, er hatte Laub nicht den Tod gebracht. Modlizki hatte Laubs Tod gewollt, er trieb sie bis in den Tod, alle waren in Gefahr, Karpel wie die anderen, sie konnten sich nicht entziehen, man sollte sie befreien. Modlizki war schuldig, Modlizki verfolgte Josef Blau, er ließ nicht von ihm, seit sie Knaben waren, was verzieh ihm Modlizki nicht, er konnte sich nicht losreißen von Modlizki, Modlizki hatte ihn in die Kasernengasse geschickt, Modlizki hatte es gewußt, wie es kommen würde, ihn hätte Josef Blau töten sollen, wenn er noch etwas tun wollte, mußte es das sein, er mußte aufstehen und hingehen, sich von Modlizki zu befreien, das sollte das letzte sein, dann sollte es zu Ende sein, denn es gab doch nichts mehr für ihn, da er alles erkannt hatte, da diese große Klarheit über ihn gekommen war, er konnte nicht wie der Lehrer Leopold vor den Schülern stehen, denn er hatte es erkannt, daß alles weiterging, und man ahnte nicht, wohin es sich wandte, er mußte versinken. Sie hielten ihn für verrückt, er hatte den Blick des Lehrers Leopold gesehen. Vielleicht war gut, in einer Zelle zu sitzen und irrsinnig zu sein. Oder in einer Zelle zu sitzen und zu beten. Den drei evangelischen Räten zu gehorchen, die die heilige Kirche gab, die freiwillige Armut auf sich nehmen, die stete Keuschheit und den vollkommenen Gehorsam unter einem geistlichen Oberen. Ja, mit dem Geld und mit der Unkeuschheit begann es. Wer es begriff, lebte ohne Schuld. Er saß und konnte gehorchen wie ein Knabe in der Schule und die Verantwortung des Lehrers trug er nicht und die Strafe des Richters traf ihn nicht. Er verstrickte niemanden, denn er hing mit niemandem zusammen als mit dem Herrn. Aber Josef Blau hing nun schon mit vielen zusammen. Da lag Josef Albert im Zimmer der Mutter. Für Josef Blau war zu spät, den Räten, zu folgen. Was blieb dann, was blieb dem, der erkannt hatte, wie alles, was man tat, Verantwortung auflud, Schuld, wie jedes Wort, jeder Gedanke weiterging, unaufhaltsam, und zerstören konnte und töten? Blieb dem, der es erkannt hatte, etwas anderes als das Ende, der Tod? Konnte man dieses überhaupt erkennen, ohne an diesem Wissen zu sterben? Man konnte nicht leben, wenn man es erkannt hatte, und vielleicht konnte nur einer, in dessen Herzen schon der Tod war, es erkennen. War es wirklich die Klarheit eines kühlen Morgens, die Josef Blau erhellte? War es nicht Klarheit von anderer, eisigerer Kühle, Klarheit der Stunde vor dem Tode? Oh, er starb, Josef Blau starb. Darum hatte Selma geweint. Sie hatte es verstanden, bevor er es noch verstand. Aber sie sollte nicht weinen. Es war gut so, es war zu Ende.

Es war dunkel. Josef Blau hatte sich zurückgelehnt und die Augen geschlossen.

»Komme, mein Erlöser«, flüsterte er.

Die Mutter schlief. Aber Josef Albert im Nebenzimmer begann leise zu weinen. Oh, er fühlte, daß der Vater starb.

Er sollte sich freuen! Nun würde nichts mehr ausgehen von seinem Vater, nichts mehr bei ihm seinen Anfang nehmen, es war zu Ende.

Josef Blau setzte sich im Bett auf. War es zu Ende? Mit ihm war es zu Ende, aber auch bei ihm? Setzte sich nicht alles fort, unaufhaltsam, endlos, was er gelöst hatte, auch wenn er tot war? Er hörte auf, aber es war kein Ende! Es sollte zu Ende sein, bei ihm zu Ende, alles, das Ererbte, das Hervorgerufene, sich nicht fortsetzen, o Gott, o Gott, nicht weiter mit sich reißen, den Sohn nicht, der in der Wiege lag ohne Schuld, die Knaben in der Schule nicht, Selma nicht, es sollte aufhören, stillhalten, abbrechen, nicht mehr weitergehen, versiegen wie ein Bach in der Wüste, er mußte ein Zeichen haben, daß nichts mehr, was von ihm kam, lebte, wenn er starb, wenn er es nie gekonnt, jetzt wollte er vordringen durch alles bis dorthin, wo es entschieden wurde, er wollte ein Zeichen, daß er gehört würde, bevor er starb ein Zeichen, denn er mußte sterben, ein Zeichen, daß es bei ihm zu Ende war, ein Zeichen, ein Zeichen!

Er erhob sich. Die Mutter schlief. Er tastete sich bis zur Tür des Schlafzimmers. Er trat ein. Die Vorhänge waren zugezogen. Das Zimmer war dunkel. Auf dem Tisch brannte in einem Wasserglas auf einer Ölschicht ein flackerndes Licht. Josef Blau hob das Licht auf, er hielt es über den Korb, in dem Josef Albert lag. Josef Albert sah ihn an. Der Mund des Kindes war zum Schreien geöffnet, aber Josef Albert schrie nicht. Schrie er nicht, weil der Anblick des Vaters ihn erschreckte und stumm machte, oder erkannte er ihn? Josef Blau beugte sich über den Korb.

»Josef Albert, mein Sohn«, flüsterte er, »ich bin es, wir sind allein, dein Vater und du, fürchte dich nicht. Erschrick nicht, mein Sohn, wenn ich mich über dich neige, schreie nicht, daß niemand kommt und uns hindert, fürchte dich nicht, es sind meine Zähne, die klappern, ich friere, ich bin krank, eine böse Krankheit, du bist mein Sohn und mein Erbe, o Gott, o Gott, wirst du ihr widerstehen? Kannst du mir da alles verzeihen? Ich muß sterben, Josef Albert, mein Sohn, oh, ich weiß nicht mit welchem Kosenamen sie dich nennen werden, wie soll ich dich nennen? Ich möchte dir einen zärtlichen Namen geben, daß du mich begreifst, so jung du bist. Du wirst einen Matrosenanzug haben wie die anderen, ich werde es nicht mehr sehen, vielleicht aber wird eine Erinnerung an diese Nacht in dir bleiben, eine große, unbestimmte Erinnerung und du wirst alles verstehen. Es ist zum letztenmal, mein Sohn, siehst du, wir sind allein, deine Mutter ist weggegangen mit dem Lehrer Leopold. Weiß Gott, was geschieht, nie werde ich wissen, was geschehen ist, aber siehst du, mein Sohn, ich hindere nun nichts mehr. Ich bete, daß du mich begreifst. Es ist nicht um mich, mein Sohn, es ist um dich und um die anderen. Es ist eine entsetzliche Flucht von einem zum ändern, es beginnt bei einem Wort, einem Schritt, einem Gedanken, den man gedacht hat, wo hat es begonnen, siehst du, das bohrt im Gehirn, nun ist einer tot, siehst du, ich sehe ihn noch, er hatte blondes Haar, und die Sonne fiel darauf, und nun ist die Zunge geschwollen und die Farbe des Gesichts hat sich verändert, sagen sie. Aber vielleicht ist es noch nicht zu Ende, mein Sohn, es wandert noch, es wandelt, auch wenn ich tot bin, zu dir, mein Erbe, zu den anderen. Es ist gut, daß ich sterbe. Nun wird nichts Neues mehr von mir ausgehen. Aber auch das andere will ich, soll zu Ende sein, einhalten, aufhören. Ich will nichts mehr, als daß es zu Ende sei, ich will ein Zeichen, daß ich gehört wurde, daß es aufhört, ein Zeichen, daß es nicht weitergeht, Gnade, Gnade für dich, nur für dich, daß dir kein Blut aus dem Hals dringt, ein Zeichen, daß ich erhört bin, ein Zeichen, ehe ich sterbe, siehst du, mein Sohn, ich bete!«

Er hatte das Licht auf den Tisch gestellt und ließ sich vor dem Korb auf die Knie.

»Einziger, Einziger, Allmächtiger – hilf mir, hilf mir, mein Kind, es ist der Abschied, steh mir bei, deinem Vater, ich werde dich nicht mehr sehen, du wirst mich vergessen, hilf mir, ahne, daß ich deiner Hilfe bedarf, Josef Albert, Liebling, in der Stunde meines Todes – Gewaltiger, Einziger, ein Wunder, Wunderbarer, Wundertäter, ein Zeichen, daß es zu Ende ist, Herr, Herr, Herr, ein Zeichen!«

Er schlug die Stirn gegen den Boden.

Er lag unbeweglich und wartete. Er hielt den Atem an. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Was bewegte sich? War es Josef Albert in seinem Korb? Es war, als werfe sich jemand im Bett und nun erhob sich ein Seufzer, schwer und langgezogen. Er kam aus Josef Alberts Bett, aber es war die Stimme, der Seufzer, tief aus der Brust eines Greises. War nicht Josef Alberts Antlitz alt und runzlig von Anfang an? Josef Blau hatte das Antlitz nicht erkannt. Nun erkannte er die Stimme. Sie kam aus dem Mund des Enkels, aber es war seine Stimme, die Stimme des Gerichtsdieners, seines Vaters, von dem Josef Blaus Leben seinen Anfang genommen hatte, seinen Beginn, seinen Ausgang, nichts starb, alles lebte, alles wandelte wie dieser Seufzer vom Großvater auf den Enkel, das war das Zeichen, es gab kein Ende, das war die Antwort, die Josef Blau gegeben wurde von Gott, zu dem er in der Stunde des Todes gedrungen war. Der Anfang stand auf als klagender Seufzer anklagend an Josef Blaus Ende.

Josef Blau erhob sich. Er wandte sich ab. Er wollte Josef Alberts Gesicht nicht sehen. Vielleicht waren Josef Alberts Wangen schon hohl wie die Wangen von Josef Blaus Mutter, vielleicht lag Josef Albert die Zunge schon zwischen den Lippen wie dem Schüler Laub. Josef Blau wollte kein neues Zeichen.

Als er ins Wohnzimmer trat stand Selma in Hut und Mantel vor ihm. Josef Blau wankte. Selma umfaßte ihn und geleitete ihn zu seinem Bett. Er schluchzte und sie verstand, daß er wie in verzweifeltem Schmerz mehrmals »Mein Kind, mein Kind« flüsterte, als sei Josef Albert etwas Schlimmes zugestoßen. Sie fragte ihn, aber er hörte nicht, was sie zu ihm sprach. Nun lag er im Bett, schwer atmend, das Gesicht fahl und die Augen geschlossen.


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