Hermann Ungar
Die Klasse
Hermann Ungar

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7. Kapitel

Der Lehrer Leopold wurde in den Pausen von Josef Blaus Schülern umringt. Josef Blau stand wie immer an seinem Platz am Ende des Gangs, in den die Türen der Schulzimmer mündeten. Er hörte Lehrer Leopolds laute Stimme und das Lachen der Knaben.

In den Schulstunden ereignete sich nichts. Karpel wich seinem Blick aus, er hob die Augen nicht vom Pult. Wenn der Lehrer ihn rief, antwortete er mit abgewandtem Gesicht.

In einer Pause trat Lehrer Leopold auf Josef Blau zu. Er erkundigte sich nach Selmas Befinden. Josef Blau antwortete kurz. Er forderte den neuen Lehrer nicht auf, ihn wieder zu besuchen.

Auf dem Heimweg sah Josef Blau vor sich Karpel und Laub mit einem schwarz gekleideten Mann. Josef Blau erkannte Modlizki. Es mußten besondere Dinge vorgehen, wenn Modlizki die Schüler nach der Schule erwartete. Er mußte Modlizki aufsuchen.

Als er am nächsten Tag nachmittags von der Lehrerkonferenz heimkehrte, erfuhr er von Selma, Modlizki sei dagewesen, ihn zu sprechen. Er habe nicht gesagt, was er wollte. Kein Zweifel, daß sich wichtige Dinge vorbereiteten. Es war heute zu spät, Modlizki aufzusuchen, Josef Blau mußte es auf den morgigen Tag verschieben. Es war klar, daß etwas im Zuge war. Vielleicht hatte Josef Blau in seinem Rausch durch Worte und Gebärden heraufbeschworen, was nun eintreten sollte. Er mühte sich, alles in sein Gedächtnis zurückzurufen, was in jener Nacht geschehen war. Aber das meiste war wie in einem großen Lärm von Stimmen versunken. Er wußte – und er erstarrte bei diesem Gedanken –, daß er in dieser Nacht den Gedanken an die Verantwortung verloren hatte. Der Gedanke war fremd und ohne Schrecken gewesen, wie ein Ding, das er ruhig betrachten konnte, als berühre es ihn selbst nicht. Er wußte, daß er Onkel Bobek bedroht hatte und daß der Lehrer Leopold Selma angesehen hatte, als sei Josef Blau nicht anwesend oder gestorben und er hörte noch Selmas Lachen am Ende aus dem Schlafzimmer durch die geschlossene Tür.

Er durfte nichts verloren geben, trotz allem. Er mußte trotz allem mit der Macht seines Gedankens, mit der Kraft der Anrufung dorthin zu gelangen suchen, wo die Schicksale, seines, Selmas und des zu Gebärenden Schicksal, sich entschieden. Denn es gab keinen Zufall. Eines zog das andere nach sich. Alles war verbunden, Worte, Taten und Menschen. An einem Ort liefen sie zusammen und dort entschied sich Leben und Tod.

Er wollte morgen zu Modlizki gehen, nachmittags, wenn Modlizki am besten zu sprechen war. Er überlegte nachts, was er ihn fragen wollte: wegen der Pläne der Knaben und wegen des Lehrers Leopold. Modlizki würde ihn ansehen, mit geneigtem Kopf, und sprechen. Es waren merkwürdige Dinge, die Modlizki sagte, wenn sie auch lächerlich waren, in gewissem Sinne beschränkt. Modlizki fehlte vielleicht nichts als eine gründliche Bildung. Aber Modlizki lehnte ab, sich zu bilden. Er wollte nichts von den anderen, nicht einmal ihr Wissen. Er haßte sie, er haßte Josef Blau, trotzdem Josef Blau der Sohn eines Gerichtsdieners war und nicht mehr besaß als ein Metalldreher. Aber darauf kam es nicht an, sondern auf das andere, das Josef Blau mitmachte, auf den guten Ton, die feine Bildung und das ganze Getue, wie Modlizki es nannte. Warum begann Modlizki immer von seinem Vater zu sprechen, der von einer Leiter gefallen und gestorben war? Josef Blau wußte es doch. Er war selbst dabeigestanden, durch den Lärm der Leute angelockt, als man Modlizkis Vater aufhob und ins Krankenhaus schaffte. Wollte Modlizki Josef Blau an den Gerichtsdiener erinnern, Josef Blaus Vater, der vom Bürgersteig herunter auf die Straße trat, wenn der Bezirksrichter kam? Josef Blaus Vater war groß und breit und trug einen Vollbart mit ausrasiertem Kinn. Seine Wangen waren wie rote Äpfel. Er hielt sich gerade wie ein Soldat bis zu seinem Tod. Der Bezirksrichter schickte ihn um Würstchen und Bier.

»Springen Sie mir um Würstchen, Blau«, sagte der Bezirksrichter Wünsche.

Der Gerichtsdiener erzählte es dem Sohn mit einem lauten, bösen Lachen. Nicht daß er ihn um Würstchen schickte, daß er sagte »Springen Sie mir«, das beleidigte Josef Blaus Vater, als hätte darin etwas besonders Beleidigendes gelegen, neben dem die zweite Kränkung verblaßte, daß er ihm »Blau« sagte, einfach Blau, und nicht Herr Blau, wie es einem alten und verdienten Mann zukam, der der Vater des Bezirksrichters hätte sein können.

Um fünf Uhr morgens bewegte sich Selma. Josef Blau hörte sie leise stöhnen. Hatte sie einen schweren Traum? Sie richtete sich im Bett auf.

»Schläfst du?« fragte sie. »Ich glaube, es soll jetzt beginnen.«

Er sprang auf, zog rasch Hose und Rock an. Selma stöhnte leise. Sie hatte die Augen geschlossen. Als sie sie öffnete, stand er in der Mitte des Zimmers und sah sie an.

»Rufe die Mutter«, sagte sie.

Die Mutter lag im Bett. Ihr Haar war über den Kopf glatt nach hinten gestrichen und zeigte am Scheitel große, kahle Stellen.

Josef Blau weckte sie.

»Es ist soweit«, schrie er.

Sie erhob sich. Sie stand vor ihm in einem dunklen Unterrock und einer über den Bauch herabhängenden weißen Jacke, die am Kragen von einem roten Muster verziert war.

Die Mutter stürzte in Selmas Zimmer. Sie beugte sich über das Bett der Tochter.

»Die Wehen!« schrie sie.

Josef Blau fuhr zusammen. Es mußte durch alle Räume des Hauses gedrungen sein.

Die Mutter hatte den blauen Schlafrock mit den großen gelben Blumen angelegt. Josef Blau wandte den Blick ab.

»Steh nicht müßig«, rief sie. »Ruf Martha, daß sie die Hebamme holt.«

Josef Blau eilte die Treppen hinunter. Er klopfte im Souterrain an die Tür. Martha öffnete. Sie trug nichts als einen Rock und ein ärmelloses Hemd. Das Haar hatte sie zu einem kurzen dünnen Zopf geflochten, der steif von ihrem Kopf wegstand wie der Schwanz einer Ratte. Ihre Füße waren nackt.

»Zieh dir Strümpfe an, Martha!« sagte er.

Martha sah ihn erstaunt an.

»Es hat begonnen«, sagte er, »hole die Hebamme!«

Er setzte sich ans Fenster und wartete. Im Nebenzimmer hörte er die Mutter auf und ab gehen und mit Geschirr klirren. Die Mutter trat ein. Sie hatte die Ärmel des Schlafrocks bis über die Ellbogen hochgeschlagen. Josef Blau hörte sie nun aus der Küche. Er trat an die Tür zu Selmas Zimmer. Selma hatte die Augen geschlossen. Ihr Mund war offen wie stets, aber um ihre Lippen lagen Falten, die Josef Blau nicht kannte. Selma schien ihm fremd, als habe er sie noch nie gesehen. Er trat näher ans Bett. Auf ihrer Stirn standen Schweißtropfen. Sie atmete unregelmäßig. Ihr Antlitz war entstellt, häßlich. War es Selma, die stets gleiche, mit der glatten, unbewegten Stirn, die hier vor ihm lag? Oder war es eine Andere, Unbekannte?

»Selma«, sagte er leise.

Sie schlief nicht, aber sie hörte ihn nicht.

Sie hatte sich entfernt von allen und war allein; etwas Fremdes, Unbekanntes zu vollbringen, war sie fremd und unbekannt geworden.

Josef Blau hörte Schritte und Stimmen. Er verließ das Zimmer.

Die Hebamme trat mit Martha ein. Die Hebamme hieß Frau Nowak. Sie war grauhaarig, groß und stark mit dickem, rundem Bauch. Auf dem Kopf trug sie eine weiße Haube. Sie entnahm ihrer Handtasche einen weißen Mantel und legte ihn an. Martha brachte warmes Wasser. Frau Nowak wusch sich sorgfältig die Hände. Josef Blau hatte sich gesetzt und schrieb einen Brief an den Direktor. Er gab Martha den Brief und bat sie, ihn dem Schuldiener zu übergeben. Der Schuldiener würde um acht Uhr am Schultor stehen. Sie sollte nichts sagen und keine Frage beantworten, den Brief abgeben und zurückkehren.

Indessen hatte die Mutter aus der Küche Kaffee gebracht. Die Hebamme und die Mutter setzten sich an den Tisch. Josef Blau trank nicht. Er lauschte. Aus Selmas Zimmer drang leises Stöhnen. Frau Nowak sah ihn an.

»Das ist nichts«, sagte sie. Sie hatte ein falsches Gebiß, an dem die Zunge beim Sprechen anstieß. »Das wird noch lange dauern.«

Nun erhoben sich die Frauen vom Kaffeetisch und traten in Selmas Zimmer. Josef Blau folgte ihnen.

»Guten Tag, liebe Frau Blau«, sagte Frau Nowak, »nun, sind wir soweit? Nur Geduld, nur Geduld, sage ich, das ist das Wichtigste.«

»Ich habe solche Angst«, sagte Selma.

»Es wird alles gutgehen«, schrie die Mutter.

»Sie ringt mit dem Tode«, dachte Josef Blau. Er war ins Wohnzimmer zurückgekehrt. Die Hebamme hatte begonnen, Selma zu untersuchen.

»Sie ringt mit dem Tode.« – Er ballte die Fäuste in den Taschen, er wollte alle Gedanken auf das eine richten, daß sie dem Tod entgehe, daß er sie dem Tod entreiße. Nun war sie mit den beiden Frauen allein. Aber vielleicht suchte ihr Blick ihn. Sie verlangte Hilfe von ihm. Er hatte es über sie gebracht. Wenn sie starb, hatte er sie getötet.

Selma stöhnte. Sie hielten ihre Beine und legten die Hände auf ihren Leib. Er hörte die Stimme der Mutter, die Selmas Schreie überschrie.

»Wehen!« schrie sie, daß Josef Blau errötete. Sie hätte auch gerufen »Sie ist gestorben« mit derselben Stimme. Warum sprach sie nicht leise? Er stand da, mit angehaltenem Atem, nichts zu verwirren, auch nicht durch den Hauch seines Mundes. Die Mächte des Lebens und des Todes rangen in Selmas Zimmer miteinander. War der Mutter Taubheit stärker als die eingeborene Scheu vor dieser Stunde? Selmas Mutter stand da mit aufgekrempelten Ärmeln und hörte und begriff nicht. Sie griff mit kräftigen Händen zu, um zu helfen, sie legte die Hand auf den sich werfenden Leib, seinen Krampf zu lösen, und ihre Stimme jagte das Unsichtbare aus dem Raum. Ihre Stimme drang durch Türen und Mauern in die Wohnungen der Nachbarn. Sie verband, was hier geschah, mit ihnen allen, ihrem Alltag, den sie lebten, ihrem Schicksal, mit ihren Gedanken, Worten, Wünschen und Flüchen, die sie ausstießen, den Kopf hebend von dem Kaffee, den sie tranken, von den Stiefeln, die sie putzten, von der Notdurft, die sie gerade verrichten mochten. Sie knüpfte, was noch nicht geboren war und was er bewahren wollte, mit alldem zusammen, mit Schicksal und Schuld und gab es preis.

Martha kehrte zurück. Sie hatte den Schuldiener am Schultor getroffen und ihm den Brief überreicht. Er hatte nicht gefragt, von wem sie komme. Sie hatte mit niemandem gesprochen. Lehrer Leopold wird die Klasse übernehmen, dachte Josef Blau. Er wird in seiner Art den Unterricht leiten, den Knaben Freiheiten geben, die Josef Blau ihnen versagte, die Zucht, die er sorglich hegte, zerstören, daß sie vielleicht nicht wieder aufzurichten war. Er war ein junger Lehrer, der nicht wußte, was er tat. Er wußte nicht, daß die, die vor ihm saßen, nach seinen Blößen spähten, grausam waren, überheblich, den Beruf dessen, der sie lehrte, verachtend als den Beruf von Söhnen armer Leute.

Die Schüler würden morgen, wenn Josef Blau wiederkam, gestärkt sein in ihrem Willen, ihm zu widerstehen, ihre Pläne würden mutiger geworden sein. Er war nicht vorbereitet, ihnen zu begegnen. Heute konnte er die Wohnung nicht verlassen, um Modlizki aufzusuchen. Er mußte bleiben, alles vergessen, alles ausschalten und nichts denken als: Selma.

In Selmas Zimmer war es still. Nun öffnete sich leise die Tür. Die Mutter und Frau Nowak traten ein. Martha blieb bei der Gebärenden. Die Frauen setzten sich wieder an den Tisch.

»Sie brauchen Kraft, Frau Nowak«, sagte die Mutter und goß der Hebamme eine neue Tasse ein, »wenn er auch kalt ist.«

»Das erste Kind«, sagte Frau Nowak und schob mit der Zunge an ihren Zähnen, »das erste Kind, das ist immer so eine Sache.«

»Das will Kraft!«

»Aber sie schwitzt schon, die junge Frau. Glauben Sie mir, darauf kommt es an, ich bin eine erfahrene Geburtshelferin. Auf den Schweiß kommt es an!«

»Wenn die Wehen vor zehn Uhr beginnen«, sagte die Mutter, »wird es ein Knabe.«

»Das ist ein Aberglaube.« Frau Nowak machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Das hat meine gottselige Mutter gesagt. Wir waren elf. Vier starben bei der Geburt und drei noch als Kinder. Meine Mutter wußte, was sie sagte.«

»Wir haben viel gegen den Aberglauben zu kämpfen, auch bei solchen, bei denen man eine Erfahrung vermuten sollte.«

»Wann, denken Sie, daß es da ist, Frau Nowak?«

»Vor dem Abend. Wenn die Öffnung so groß ist wie ein Taler, kommt das Kind vor dem Abend.«

»Ist das gewiß?«

»Das ist kein Aberglaube, meine Liebe«, sagte Frau Nowak verletzt. »Ich bin eine erfahrene Geburtshelferin. Mich hat schon mancher Arzt zu Rat ziehen müssen, wenn er nicht mehr weiter wußte, meine Liebe.«

»Selma hat der Mutter Gottes von Wranau ein Gelübde getan.«

»Das ist sehr gut«, sagte Frau Nowak, »ich hätte ihnen allerdings die Bystritzer empfohlen. Ich habe wirklich gute Erfahrungen mit ihr gemacht. In aussichtslosen Fällen, meine Liebe.«

»Soll man noch...?«

»Es hat Zeit. Dazu kommen wir noch zurecht. Nur nichts übereilen.«

Frau Nowak erhob sich und öffnete die Tür zu Selmas Zimmer. »Sie hat die Augen geschlossen«, sagte sie und setzte sich wieder.

»Wichtig ist, sehr wichtig, daß nichts herausgetragen wird aus dem Zimmer, wo die junge Frau liegt. Das darf man auf keinen Fall zulassen. Darauf sehe ich streng. Sie haben es doch dem Mädchen gesagt?«

»Nichts heraustragen?«

»Sagen Sie es dem Mädchen. Man darf nichts heraustragen, keinen Stuhl, keinen Topf, nicht einmal ein Tuch. Da nützt nichts.«

»Sollte man nicht einen Arzt rufen?« sagte Josef Blau.

Frau Nowak maß Josef Blau mit dem Blick. »Bitte, wenn Sie wünschen, ich habe nichts dagegen. Aber machen Sie sich darauf gefaßt, daß der Arzt alles aus dem Bett schmeißt, alle Decken und Polster. Dann ist es aus mit dem Schwitzen. Der Schweiß treibt die Säfte aus, sehen Sie, das ist wichtig. Sogar der Doktor Frankfurter, mit dem arbeite ich schon sehr lange. Ein alter Herr und sehr zugänglich. Aber auch er ist gegen das Schwitzen. Aber ich muß darauf bestehen, daß Sie einen Arzt holen lassen, wenn Sie kein Vertrauen zu mir haben.«

»Doch, doch!« sagte Josef Blau. »Ich habe Vertrauen.«

Selma begann wieder zu stöhnen.

»Bleiben Sie hier«, sagte Frau Nowak zur Mutter. »Ich gehe allein. Wenn ich Hilfe brauche, rufe ich.«

Sie ging zu Selma. Die Mutter nahm das Geschirr und ging in die Küche.

Um zwölf brachte die Mutter das Essen. Josef Blau berührte es nicht. Er saß am Fenster und lauschte in Selmas Zimmer, aus dem Seufzer, Schreie, das Krachen des Bettes und das gleichmäßige Schwätzen der Hebamme zu ihm drangen. Immer wieder, wenn ein lauterer Schrei zu ihm drang, fuhr er auf, wollte sich erheben, hineineilen, ihr zu helfen. Aber schon verging der Schrei in leises Jammern und Schluchzen. Dann verstummte auch dies; er lauschte. Was war das? Das Blut wich aus seinem Gesicht. Er durfte nicht denken, was er fürchtete, denn der Gedanke konnte es rufen. Dann hörte er wieder Bewegung. Er lehnte den Kopf zurück und schloß die Augen.

Die Hebamme erschien aus dem Zimmer.

»Nur ein bißchen Suppe«, sagte sie, »das andere kommt nachher.«

Ihr Gesicht war rot, die Haare hingen in die vom Schweiß feuchte Stirn. »Es wird schnell gehen. Für ein erstes Kind sehr schnell. Und es ist alles in Ordnung. Man kann es sich nicht besser wünschen.«

Um drei Uhr nachmittags wurde die Mutter in Selmas Zimmer gerufen. Martha kam heraus, holte Wasser, suchte etwas und verschwand wieder. Josef Blau hörte Selma schreien, kurz, abgerissen. Er hatte sich erhoben, er stand nach vorn geneigt, die Hände fest aneinandergepreßt. Man kann es sich nicht besser wünschen, hatte die Hebamme gesagt. Durfte er hoffen? War Hoffnung nicht Überhebung?

Selma begann zu sprechen, schreiend, unverständlich, die Stimme war nicht Selmas Stimme, sie klang wie die Stimme einer Irren. Er lauschte. Erst verstand er nicht, aber dann hörte er, daß sie betete. Die Litanei, die Anrufung der Heiligen, endlos gleichmäßig, gellend, ohne Senkung des Tons, endend in einem langgezogenen wilden Schrei. Dann wurde es still. Beten, dachte er, Selmas Gebet helfen, es aufnehmen. Er begann mit leiser Stimme, die Augen starr auf eine Stelle gerichtet, mit Benennungen des Höchsten, die ihm geläufig waren, um vorzudringen zu ungewohnten, unbekannten, die gehört werden würden, jenes Wort durch alle Anspannung zu finden, das löste und befreite.

Die Tür öffnete sich und Frau Nowak trat ein. Sie fand ihn stehend und, ohne daß er merkte, was um ihn vorging, die Lippen bewegend. Es war fünf Uhr.

Sie griff nach seiner Hand. »Kommen Sie!« sagte sie.

Sie zog ihn hinter sich ohne Mühe. Sie traten in Selmas Zimmer. Selma lächelte ihm zu. Sie flüsterte etwas, aber er verstand es nicht. Ihr Gesicht war glatt, aber nicht ohne die Spur der Falten, die es vorhin verändert hatten. Es schien ihm anders als früher, sanfter, trotzdem es müde war, bewegter als sonst. Er beugte sich über sie. Da zog ihn die Hebamme zur Seite und wies auf einen weißen Ballen von Polstern, der neben dem Bett auf einem Stuhl in einem Korb lag. Selmas Augen folgten seinem Blick. Er sah ein kleines rotes runzliges Gesicht mit geschlossenen Augen.

Selma versuchte zu sprechen. Die Hebamme legte den Finger auf den Mund.

»Ein Knabe«, sagte Frau Nowak.

Da schlug der Knabe die Augen auf. Sie blickten starr auf Josef Blau. Dann öffnete er den Mund und entstieß ihm einen langgezogenen dünnen Laut, der wie ein armseliges Krähen klang.

Selma lächelte müde.

Die Hebamme faßte Josef Blaus Hand und führte ihn zurück ins Wohnzimmer. »So«, sagte sie, »nun lassen Sie sie schlafen.«

»Sie lebt«, dachte Josef Blau, »sie lebt!«

Das Kleine, das neben ihr lag, war sein Sohn. Mein Sohn, sagte er leise, es sich begreiflich zu machen, daß etwas Besonderes in sein Leben getreten sei. Er hörte die beiden Frauen, die aßen und tranken. Die Mutter rief ihn. Er sollte mitessen. Er schüttelt verneinend den Kopf. »Mein Sohn«, dachte er, und »sie lebt, sie schläft.«

»Ich habe es gesagt, Frau Nowak«, sagte die Mutter, »wenn die Wehen vor zehn Uhr beginnen, wird es ein Knabe.«

»Ein Zufall«, sagte Frau Nowak. »Aber sehen Sie, es ist ohne Arzt gegangen!« Sie sah Josef Blau an.

»Ich danke Ihnen!« sagte er.

»Und noch dazu einen Sohn habe ich Ihnen geholt! Ja, ja! Das sagen alle, die Nowak hat eine gute Hand. Ich gratuliere, Herr Professor!« Sie ging auf Josef Blau zu und reichte ihm die Hand. »Ein gesundes, starkes Kind. Und Gott segne ihn!« sagte sie.

»Unberufen«, rief die Mutter, und klopfte mit den Fingerknöcheln auf den Tisch.

»Wie soll er denn getauft werden?« fragte Frau Nowak.

»Josef Albert!« rief die Mutter. »Sein Onkel Bobek wird Pate sein, Albert Bobek.«

»Ach, der Her Bobek! Da hat er sich einen guten Paten ausgesucht. So ein guter und lieber, der Herr Bobek!«

Er würde einen Namen haben und ein ganz Bestimmter sein, dieser Runzelige mit dem Greisengesicht und dem armseligen Krähen, der im Nebenzimmer lag. Josef Albert Blau, daran hatte Josef Blau noch nicht gedacht. Er würde sich allein dadurch von allen unterscheiden, vom alten Hämisch, der im Haus wohnte, von Modlizki, von Onkel Bobek, daß er einen besonderen Namen hatte, einen Namen, der an ihn und an den er gebunden war, und durch diesen Namen ein Einzelner sein. Er lag da und krähte und schlief. Und man gab ihm einen Namen. Man wählte einen aus, Martin oder Franz, wie es einem gefiel, nach dem Heiligen, auf dessen Tag die Geburt fiel, nach dem Paten, nach dem Vater. Josef Albert. Wer hatte es bestimmt? War der Name nichts? Hatte der Name nicht sein Schicksal? Man zeichnete das Neugeborene zum erstenmal, wenn man ihm den Namen gab, nachdem man ihm das Leben gegeben, ihn einem unbekannten, unergründlichen Schicksal preisgegeben hatte, das er bestehen mußte. Josef wie der Vater und Albert wie der Onkel, mit denen er so verkettet wurde. Würde er als Josef Albert bestehen? Wem würde er ausgesetzt sein gerade als Josef Albert? Vielleicht wäre er ein anderer mit anderen Namen und anderem Paten, wie er gewiß mit anderem Vater ein anderer wäre. Sollte Josef Blau aufstehen und sagen: Es ist nach der Lehre unserer Kirche ein geistiges Band zwischen Paten und Patenkind, dem Band zwischen Vater und Sohn zu vergleichen. Ich will nicht, daß Onkel Bobek der Pate ist. Aber wen sollte er vorschlagen, welchen Namen, welchen Paten? Wußte er, daß der andere besser war? War es nicht besser, geschehen zu lassen, nicht einzugreifen, nichts zu ändern, nichts hervorzurufen, nichts zu bewegen?

Es wurde an die Tür gepocht. Martha öffnete: Onkel Bo- bek trat ein, nach Atem suchend. Er ließ sich auf das Sofa fallen, bevor er sprach. Zuerst nickte er mit dem Kopf nach allen Seiten.

»Alle Hochachtung«, sagte er schnaubend, »ich gratuliere! Was ist es denn eigentlich?«

»Ein Junge!« schrie die Mutter.

»Hut ab, Blau!« sagte der Onkel. »Hut ab! Ich weiß es vom jungen Hämisch. Ich habe ihn vor einer halben Stunde auf der Straße getroffen. ‹Kaufen Sie was Schönes zur Taufe›, sagte er. ‹Sie sollen doch Pate sein, mein ich.› Ich hierher und die Treppen hinauf und da bin ich.«

So war das Kind schon mit allen verbunden. Sie sprachen in den Straßen von ihm, verwickelten und verstrickten es in ihren Gedanken, Gesprächen und Beziehungen, in die es nun unlöslich verwirrt war.

Die Mutter war leise in Selmas Zimmer gegangen. Sie kehrte zurück, den weißen Ballen in den Armen. Sie schlug vorsichtig die Tücher auseinander und hielt das Kind Onkel Bobek hin.

»Ein Prachtstück!« sagte Onkel Bobek. »Tututu tatatralla djidjidji.« Er drohte dem Kind mit dem Zeigefinger und begann dröhnend zu lachen.

»Wem ist es eigentlich ähnlich, Herr Bobek?« fragte Frau Nowak.

Onkel Bobek blickte noch einmal auf das Kind. »So wahr mir Gott helfe«, sagte er, »er sieht aus wie die liebe Mathilde.«

Abends brachte ein Bote einen Korb mit Rosen. Eine Karte lag dabei mit Glückwünschen von Lehrer Leopold.

»Ein liebenswürdiger Mensch«, sagte die Mutter. Sie wollte gleich zu Selma, es ihr zu sagen. Selma schlief. Als sie erwachte, standen die Blumen neben ihrem Bett. Selmas Blick lag lächelnd auf ihnen.

»Das ist von Leopold«, sagte Josef Blau.

Verstand sie nicht oder wußte sie es?

Sie sah die Blumen an und lächelte.


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