Hermann Ungar
Die Klasse
Hermann Ungar

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

12. Kapitel

Onkel Bobek nickte und winkte Josef Blau zu der zwischen dem alten Hämisch und Modlizki am unteren Ende der Tafel saß. Onkel Bobek lachte. Er trank den Gästen zu und legte seine Hand auf die Hand der Mutter, die die Augen niederschlug und lächelte. Sie trug ein tief ausgeschnittenes Kleid ohne Ärmel und hatte eine Rose angesteckt.

Onkel Bobek aß und sprach und lachte. Er schmatzte und schlürfte, er zerknackte die Knochen mit den Zähnen und saugte das Mark aus ihnen. Onkel Bobek knöpfte die Weste auf. Er trank der Mutter und Josef Blau zu. Er stellte das Bierglas hin und breitete die Arme weit aus.

»Wir wollen beieinander bleiben, bis der Tag kommt, meine Lieben, ja, ja! Wir wollen essen, trinken und dazwischen sprechen! Ihr werdet den guten Bobek nicht allein lassen. Eßt und trinkt, was in euch hineingeht, sag ich, mir zu Ehren, Blau zu Ehren, weil er wieder auf den Beinen ist, meinem Patenkind zu Ehren oder Enkelkind, da sie ja nun mal eine Großmutter ist, die junge Frau, das hätte ich auch nicht gedacht, daß es doch so kommt, aber seht ihr, ich bin niemandem böse. Es ist ein schwaches Kind, mein Patenkind, das hat es vom Vater, aber mit Gottes Hilfe wird es leben. Warum soll man nicht auf Gottes Hilfe vertrauen, pflege ich zu sagen? Seht mich an, sage ich, ich vertraue auf Gott und ich bin niemandem böse. Hat nicht alles einen milden Schein, wenn man ißt und trinkt?«

Sie hatten erst einen Korn getrunken und dann aus großen, tiefen Tellern Suppe mit Hühnerlebern und Pilzen gegessen. Onkel Bobek hatte dicke Brotwürfel hineingeschnitten, die er vom Löffel aufschnappte. Dann brachte Martha auf einem hölzernen Küchenbrett in große Stücke geschnittenes Kalbfleisch und Schweinefleisch und in Schüsseln Kraut und Knödel. Ein Faß Bier stand zwischen den Fenstern. Onkel Bobek hatte das Faß selbst angeschlagen. Nun aß man gefüllte Hühner. Onkel Bobek zerbiß die Knochen und spie sie auf den Teller zurück. Er trank in kurzen Abständen ein Glas Schnaps, das er mit weit geöffnetem Mund zurückgelehnt in den Schlund goß.

Onkel Bobek aß und trank. Er lachte, er winkte, er schlug sich mit den kleinen gepolsterten Händen auf die Schenkel.

Er seufzte selig, wenn er einen besonderen Bissen an den Gaumen preßte. Alles hatte einen milden Schein, wenn Onkel Bobek aß und trank, dachte Josef Blau. Onkel Bobek ergriff Gott nicht, ihn nicht.

Lehrer Leopold saß zwischen Selma und der Mutter. Er schnitt das Fleisch in kleinste Stücke und kaute die Bissen unermüdlich mit fest geschlossenem Mund.

»Essen Sie, essen Sie, Herr Professor«, sagte Onkel Bobek, »Sie halten nicht Schritt, sehen Sie! Ja, ja, so sagen sie jetzt. Kaue jeden Bissen auf jeder Seite des Mundes, sagen sie, ich weiß nicht wie oft. Aber wohin käme man, frage ich? Man könnte kein Drittel essen, glauben Sie mir, Herr Professor, die Zeit reichte nicht und man würde schneller satt und müde. Man muß hineinhauen, sag ich, daß es eine Lust ist.«

Lehrer Leopold erwiderte nicht. Er sprach mit Selma. Josef Blau verstand ihn nicht in dem Lärm der Teller, Messer, Gabeln und Stimmen. Aber er sah, daß Selma lächelte. Nun holte der neue Lehrer sie täglich ab. Josef Blau saß den ganzen Tag am Fenster, in warme Decken gehüllt. Abends kam die Hitze über ihn und nachts war sein Körper naß von kaltem Schweiß.

Josef Blau saß rechts von Modlizki an der schmalen Seite des Tischs, Onkel Bobek gegenüber. Rechts von Josef Blau saß der alte Hämisch. Der alte Hämisch schnitt das Weiche aus dem Brot und schichtete die Rinden zu einem Haufen vor seinem Teller. So oft Onkel Bobek sein Glas hob, tat der alte Hämisch ihm Bescheid.

»Viel Glück auch«, wiederholte er jedesmal. Dann sah er verlegen vor sich auf den Teller.

Zu Onkel Bobeks Linken saß der Mehlagent Pollatschek. Er war klein, kahlköpfig und Bobeks Jugendfreund. Pollatschek trug eine Blume im Knopfloch. Er sprach mit hoher krähender Stimme. Von Zeit zu Zeit legte Frau Pollatschek, die in hellblaue Seide gekleidet, hochgeschnürt, zwischen ihrem Gatten und dem alten Hämisch saß, Pollatschek die Hand auf den Arm und flüsterte mahnend:

»Pollatschek!«

Sie hatte kleine, tiefliegende Augen, eine scharf vorspringende Nase und eine herabhängende Unterlippe.

»Alles wie damals, Pollatschek«, sagte Onkel Bobek, »ist es nicht so?« Er ließ seine Hand schwer auf Pollatscheks Schulter fallen. »Sieh mir ins Auge, Pollatschek, alter Freund, sieh mir ins Auge!«

Pollatschek hob sein Glas. »Das junge Paar soll leben!« rief er.

Alle hoben die Gläser und tranken. Lehrer Leopold erhob sich und verneigte sich, das Glas vor sich haltend, gegen Onkel Bobek und die Mutter. Er trug einen schwarzen Rock und eine schwarze, weißgestreifte Krawatte, in der eine Perlennadel steckte.

»Und ihr alle daneben«, rief Onkel Bobek. »Ihr seid ja alle so gut zu mir, ich weiß es, alle seid ihr gekommen, ihr habt mich nicht allein gelassen, nein, nein, ich dachte, am Ende werde ich diesmal allein sein, sie werden nicht kommen wie damals –« er blickte schwermütig vor sich hin – »aber da sind sie, meine Lieben, siehst du, da sitzen sie, und trinken und essen mir zu Ehren, meine Freunde, sage ich, meine Freunde! Damals sind wir auch so gesessen, es waren ihrer mehr, da kannst du sagen, was du willst, Pollatschek, daß es so ist wie damals, mehr waren es doch, sage ich aber wozu dem nachhängen, frage ich? Da sitzen wir und wir essen und trinken noch immer, wir wollen zufrieden sein. Haben wir uns verändert, Pollatschek? Nein, nein, sage ich, ich bin derselbe geblieben, so wahr mir Gott helfe, der Bobek sitzt da wie damals als er die selige Martha nahm, sage ich, wie sie aussah, eine Jungfrau, so wahr mir Gott in meiner letzten Stunde beistehen möge, ich, der Bobek, bin der erste gewesen und sonst keiner. Aber ich bin heute niemandem böse, nein, nein, liebe Mathilde, du bist unschuldig, was kannst du dafür, aber es ist nicht wegzuwischen, die Braut ist nicht wie die von damals, Pollatschek, nur du bist derselbe geblieben, da sitzt du, du trinkst Bier und Schnaps, du ißt Suppe, Kalbfleisch und Hühnchen und das Schweinefleisch, siehst du, läßt du noch immer stehen!«

»Ich bin ein moderner Mensch, ein Freidenker, Bobek, du kennst mich. Aber als ...«

»Pollatschek«, rief Frau Pollatschek und errötete. Sie blickte vor sich auf den Teller.

»Rosa, warum soll ich es verheimlichen? Bobek ist mein Freund und seine Freunde sind meine Freunde. Ich halte nichts, Bobek, aber das habe ich immer gehalten. Schon wegen der Kinder. Man kann nicht wissen, Gott soll hüten und es geht nicht alles, wie man möchte. Ist Roubitschek kein Freidenker, Bobek? Hochfein, der erste am Platz, ein hochbedeutender Mensch, ein Genie, wenn er schlecht geschlafen hat, ist die Produktenbörse flau, laß mich zu Ende erzählen, Bobek, nun, er hat auch Kinder, drei prächtige Jungen. Etwas zu klein, das haben sie nach der Mutter, Gott, sie ist keine Schönheit, aber alle hochbegabt fürs Geschäft. Was macht der älteste, Adolf heißt er? Einen Ausflug macht er ins Gebirge und ist nicht zu finden, die Hoffnung vom Geschäft. Roubitschek geht nie in die Synagoge, aber da geht er. Er tritt vor und ruft laut, die ganze Produktenbörse war da, es hat sich herumgesprochen, ich weiß nicht wie, ruft laut Gott an, jawohl, und leistet ein Gelübde, der größte Mann am Platz, allen ist es über den Rücken gelaufen, wenn der Sohn zurückkommt, sein Adolf, ändert er sein Testament, gelobt er, alles Geld, was er hat ...«

»Pollatschek«, sagte Frau Pollatschek mahnend und legte Pollatschek die Hand auf den Arm. Pollatscheks Gesicht war rot, seine Stimme überschlug sich. Er schüttelte die Hand der Gattin ab.

»Alles Geld, was er hat, sage ich«, ruft Roubitschek, und schlägt sich die Brust, »Millionen schätzt man ihn, Bobek, wenn Adolf zurückkommt, gesund, alles Geld bis auf den letzten Kreuzer, die eigenen Kinder enterbt er, und vermacht es, was er für ein großer Mensch ist, Roubitschek, wem? Wem? frage ich: Adolf, wenn er zurückkommt, die anderen bekommen es nicht, nur er, sein Liebling, der schon im Geschäft ist. Man kann sagen, Adolf wäre zurückgekommen auch ohne Gelübde. Aber ist das sicher? Vielleicht hat das Gelübde geholfen. Was tut Roubitschek jetzt, ein Genie? Geht herum, kauft Häuser, kauft Wirtschaften, kauft Parzellen. Das Geld bekommt Adolf, die anderen bekommen die Häuser. Warum sollen sie leer ausgehen, sein Fleisch und Blut? Wem hat es geschadet, wenn er in die Synagoge gegangen ist? Alles ist in Ordnung. Wem schadet's, wenn ich kein Schweinefleisch esse und dafür mehr Hühnchen? Freidenker hin, Freidenker her, das ist so eine Sache!«

Onkel Bobek schob ihm ein Glas Kümmel zu.

»Trink«, sagte er, »was erzählst du uns da für Sitten und Gebräuche? Was kümmert's mich, was der Jud für ein Gelübde abgelegt hat? Bring mich auf gute Gedanken, Pollatschek, sag ich! Es ist keine Stimmung wie damals!«

»Pollatschek«, mahnte Frau Pollatschek. »Er verträgt nichts.« Sie wandte sich an den alten Hämisch. »Er ist schon zu nichts mehr. Essen oder Trinken... Stückchen Wurst und er liegt Ihnen die ganze Nacht und stöhnt. Er müßte etwas für sich tun, sag ich, und mein Ältester redet in ihn hinein, er soll eine Kapazität aufsuchen. Schön, es kostet, aber dafür weiß man doch. Aber er! Reden Sie mit ihm!«

Der alte Hämisch nickte verlegen mit dem Kopf.

Modlizki neigte sich zu Josef Blau: »Wenn es erlaubt ist, es fällt mir gerade ein«, flüsterte er, »wenn man die Buchstaben tauscht, ist Laub und Blau nicht dasselbe?«

»Was willst du?«

»Weil es mir einfällt. Aber es ist wohl ohne Bedeutung.«

Onkel Bobek schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Weiter, weiter, Wein sage ich, Martha, bring Wein. Wenn der Bobek feiert, da gibt es nichts, was zu gut und zu teuer ist, Essen und Trinken! Seht mir in die Augen, meine Lieben, trinkt mir zu und sprecht mit mir, wir sind Freunde, Onkel Bobek ist jedes Freund, Onkel Bobek hat keine Feinde, erzählt mir und ich will euch erzählen. Da gibt es Leute, seht ihr, die begreifen es nicht, trinkt nicht, sagen sie, es wird euch ins Grab bringen und Gott wird es euch nicht zum Guten zuzählen. Aber sage ich euch, der Wein wächst aus der Erde wie das Brot, wir wollen das Brot miteinander brechen und den Wein trinken, woran erinnert es mich, seht ihr, es hat mich ergriffen, ja, ja, man möchte einmal weinen, so richtig weinen, weiß Gott, wie das so über einen kommt, aber vielleicht ist das gar nicht das Schlimmste, wenn es einen mal überwältigt, mag man auch ein Mann sein, der was mitgemacht hat, gib ihnen allen, Martha, mein Kind, auch sie wird es ergreifen, es wird ihre Zungen lösen, wir werden trinken und sprechen bis zum Morgen.« Er hielt das gefüllte Weinglas in der Linken, er winkte einem nach dem andern mit der Rechten und trank das Glas leer.

Pollatschek hielt das Weinglas gegen das Licht. Er nahm einen Schluck in den Mund, lehnte den Kopf zurück und gurgelte, bevor er schluckte.

»Pih, pih«, sagte er und schaukelte wohlgefällig den Kopf. »Ringsherum Wein.«

Dann erst trank auch er sein Glas leer.

Was war das, was Modlizki Josef Blau zugeflüstert hatte? Nun erhob sich Modlizki. Er nahm Martha die Weinflasche aus der Hand und stellte sich ehrerbietig hinter Onkel Bo- beks Stuhl. Wenn Onkel Bobek sein Glas geleert hatte, trat Modlizki vor und goß es voll.

Warum war Josef Blau nicht an jenem Abend gestorben, als er an Josef Alberts Bett gebetet hatte? Warum war er nach jener Nacht wieder erwacht? Wozu war er hier? Er wollte aufstehen, ins Nebenzimmer gehen zu Josef Albert, seinem Kind. Es war ein schwaches Kind, aber man sollte auf Gott vertrauen. Was bedeutete das mit den beiden Namen, o Gott, o Gott, Deus Deus meus, quare est tristis anima mea et quare conturbas me? Warum, warum verwirrst du meine Seele?

»Es ist nicht so, wie es damals war, Pollatschek«, sagte Onkel Bobek. Er seufzte und blickte wehmütig vor sich hin. »Nein, nein. Da kannst du sagen, was du willst! An die dreißig Menschen um die Tafel, die Horitzer nicht gerechnet. Da sitzen wir neun wie die Totengräber und sehen einander an. Damals haben sie geschrien und gesungen, daß man sein eigenes Wort nicht hören konnte und nichts war genug, war von den Schüsseln und Tellern verschwunden, ehe man Zeit hatte, hinzusehen, so wahr ich derselbe geblieben bin, und ein Lied nach dem ändern, ja, und Musik, daß man tanzen konnte, da sehe ich mich noch, Pollatschek, wie ich so dasitze und in die Hände klatsche und die Melodie mitsinge, ich habe sie noch im Ohr, so wahr ich auf Gottes Beistand rechne, denn auf die Beine konnte ich nicht mehr, ich hatte zu viel getrunken, hahaha – weiß Gott, woran es liegen mag, aber es ist anders, als es damals war, es kann sich nichts wiederholen...«

Die Mutter hatte den Kopf in die Hände gesützt und weinte.

»Da weint sie nun, Pollatschek, wie eine Jungfer«, sagte Onkel Bobek. »Sieh dir sie an, Pollatschek! Was sitzt ihr da und schweigt? Trinkt, sage ich, singt, sage ich, Musik, Musik, damals war auch Musik, Mathilde, warum auch hast du das vergessen? Es hat doch alles so schön begonnen.«

Lehrer Leopold hatte sich erhoben. Er hielt das Weinglas in der Hand. Er sah sich still im Kreise um.

»Pst, pst«, machte Pollatschek.

»Es sei mir erlaubt«, sagte Lehrer Leopold, »wenn auch in kurzen Worten dem jungen Paar meine Glückwünsche darzubringen. Ich bin kein Redner und bitte um Nachsicht. Ich hebe das Glas auf das Wohl des Herrn Bobek und seiner ihm heute vermählten Gattin und auf das Wohl des kleinen Josef Albert. Ihm wünsche ich das Schönste, was der Mensch besitzen kann, den gesunden Geist im gesunden Körper, mens sana in corpore sano! Das junge Ehepaar und sein Enkelkind, sie leben hoch!«

Er ging auf Onkel Bobek zu, der ihn umarmte und schmatzend zweimal auf jede Wange küßte. Lehrer Leopold küßte der Mutter die Hand.

»Ein feiner, gebildeter Mensch«, schrie die Mutter.

Modlizki hatte seine Mundharmonika aus der Tasche gezogen. Er stand hinter Onkel Bobek und blies: Hoch soll er leben! Onkel Bobek schwenkte das Glas in der Luft, er wandte sich zu Modlizki und winkte ihm zu:

»Spiel«, rief er, »wer hätte das gedacht, hat der Junge nicht seinen Mundhobel mitgebracht, er ist ein goldener Junge. Ich muß ihm was abbitten, seht ihr. Man wird die Angst nicht los bei ihm, pflege ich zu sagen, alles, was recht ist, ich möchte nicht von seiner Gnade leben. Aber nun ist es gut. Komm an mein Herz, mein Sohn, böse Menschen haben keine Lieder, ich habe mich getäuscht, umarme mich und gestatte mir das kleine Tiroler Wörtchen Du.« Er stieß mit Modlizki an und küßte ihn auf die Wange. »Ja, ja, siehst du, siehst du, Mathilde, wenn der Bobek feiert, wendet sich alles zum Guten.«

Einer nach dem anderen trat an Onkel Bobek heran, mit ihm anzustoßen. Jedesmal trank Onkel Bobek sein Glas leer. Als Josef Blau mit ihm angestoßen hatte und trank, ergriff Onkel Bobek Blaus herabhängende Linke:

»Da bist du ja, da bist du. Ich bin dir nicht böse. Wenn es auch nicht so eilig war. Aber trinke, trinke, Wein macht Blut, pflege ich zu sagen, und das ist es, was du brauchst Blau, Blut, sag ich, Blut, damit du was übrig hast zum Abgeben, wenn es wieder über dich kommt.«

Modlizki spielte weiter. Onkel Bobek klatschte in die Hände und schaukelte den Oberkörper, daß der Stuhl schwankte. Nun blies Modlizki einen Marsch. Onkel Bobek stützte sich auf die Tischplatte, erhob sich und marschierte schwankend und pfauchend im leeren Raum zwischen Fenstern und Tisch.

»Tanzen«, rief er, »spiel zum Tanz, mein Junge!«

Modlizki spielte einen Sechsschritt. Onkel Bobek drehte sich, die Hände kokett in die Hüften gestemmt, nach rechts und links. Alle hatten sich erhoben. Martha und Pollatschek rückten die Stühle zur Seite. Josef Blau stand an den Tisch gelehnt. Er sah, daß Lehrer Leopold Selma um die Hüften faßte, Selma hob ihre langen Röcke mit der Linken hoch und schlang sie fest um ihre Beine. Sie drehte sich mit Leopold auf engem Raum, die Augen fest geschlossen, den Kopf zurückgelehnt. Onkel Bobek, ein Weinglas in der Hand, dessen Inhalt bei jedem Schritt über den Rand schwappte, hüpfte hinter ihnen von einem Bein aufs andere, schreiend und glucksend.

»Mit mir, mit mir, meine Tochter, seht sie an, meine Tochter, nun mit mir!«

Selma hörte ihn nicht.

»Genug«, sagte sie.

Lehrer Leopold ließ sie auf einen Stuhl gleiten. Sie hielt sich mit beiden Händen am Sitz fest, hatte die Augen geschlossen und lächelte. Eine Locke ihres Haares hatte sich gelöst und hing ihr in die Stirn. Lehrer Leopold stand neben ihr.

»Trinke, trinke! Reicht ihr Wein, sage ich«, rief Onkel Bobek. »Trinke, Selma, meine Tochter. Und was nun, Mod- lizki, was nun?«

»Vielleicht daß jemand eine Rede hält. Vielleicht Herr Blau, er wäre der Berufene.«

»Bravo, bravo, er soll eine Rede halten! Er ist der Berufene!« Onkel Bobek ließ sich auf das Sofa fallen. »Komm zu mir, Pollatschek, an meine Seite. Und Blau soll eine Rede halten, sage ich!«

Onkel Bobek hatte den Arm um Pollatscheks Schultern gelegt. Modlizki goß Wein in das Glas, das Onkel Bobek in der Hand hielt. Onkel Bobek führte das Glas an den Mund. Seine Hand zitterte, daß der Wein über seinen Rock floß.

»Modlizki, gib ihm zu trinken. Das löst die Zunge, sage ich. Ein Glas Wein... so, mein Junge, so und einen Schnaps... und nun los, sage ich, nun los, mein Junge.«

Josef Blau widersetzte sich nicht. Er trank, was ihm Modlizki reichte, den Wein und den Schnaps. Er hielt sich mit den Händen an der Stuhllehne fest.

Selma stand vor ihm, ihre Augen glühten.

»Sprich«, sagte sie, »du sollst auch sprechen, hörst du?«

Sie trat zurück. Nun stand sie neben Leopold an der Fensterwand. Aber jemand ergriff Josef Blau am Arm. Es war der alte Hämisch.

Josef Blau erkannte ihn an der Stimme.

»Ich bin nur ein Gast bei Ihnen, und das ist sehr schön, Herr Bobek«, sagte der alte Hämisch. »Ich bin ein alter Mann, und wie so der Herr Bobek gesagt hat, ‹Sie dürfen nicht fehlen, wenn ich Hochzeit mache›, nun ich kenne Sie alle ja auch schon so lange und ich habe es mir immer gedacht: aus der Frau Kosterhoun, denke ich, und aus dem Herrn Bobek wird noch ein Paar. Warum auch nicht? Warum auch nicht? Und warum soll ich nicht kommen, denke ich?«

Der alte Hämisch brach ab. Es war, als erwartete er eine Antwort. Niemand sprach.

Der alte Hämisch räusperte sich. Er hielt noch immer Josef Blaus Arm.

»Ja, ja«, sagte der alte Hämisch leise und blickte vor sich auf den Boden.

»Richtig!« rief Onkel Bobek.

»Es ist, weil von einer Rede die Sprache war, Herr Bobek. Und nichts für ungut. Aber ich habe gedacht, ja... wenn ich auch nur ein Gast bin, und wenn man mir so zuhört... aber ich will niemanden beleidigen, das ist fern von mir, ich bin ein gottesfürchtiger Mensch, und wie der Herr Pollatschek auch gesagt hat: ‹Es ist so eine Sache›, hat er gesagt. Aber der Herr Professor ist krank, nicht wahr, der Schweiß steht ihm auf der Stirn, es ist, wie es bei meiner Tochter gewesen ist, wenn er sich aufregt, kann er wieder Blut husten.«

»Wer sagt, daß er sich aufregen soll, Herr Hämisch, nichts dergleichen. Wenn er schweigt, sehen Sie, es drückt die Geselligkeit, und wegen der Geselligkeit sind wir schließlich zusammengekommen, oder habe ich Unrecht? Warum spricht er nicht? Alle sagen, daß er sprechen soll, aber er spricht nicht. Vielleicht, wenn Sie sich setzen, Herr Hämisch, entschließt er sich! Gib ihm zu trinken, Modlizki!«

Der alte Hämisch ließ Josef Blaus Arm los. Er ging mit gesenktem Kopf gegen die Wand und setzte sich dort auf einen Stuhl.

»Auf das junge Paar!« rief Pollatschek.

»Gewiß«, sagte Bobek, »warum nicht? Sprich auf das junge Paar meinetwegen.«

Josef Blau sah Selma neben Leopold. Sie schienen ihm weit entfernt, als sähe er sie durch ein umgekehrt an das Auge gehaltenes Opernglas. Hielt Leopold sie noch? Umfaßte er sie noch?

»Ja, ja«, sagte Josef Blau. »Alle wußten es, von Anfang wußten wir es. Das junge Paar. Aber man konnte sich nicht in den Weg stellen. Niemand weiß, wie es endet.«

»Er hat recht, Pollatschek«, sagte Onkel Bobek, »siehst du, er hat recht. Niemand weiß, wie es endet. Weiter, sprich weiter!«

Josef Blau machte einen Schritt auf Selma und Lehrer Leopold zu. Er streckte die Hand aus.

»Küßt euch, warum küßt ihr euch nicht?« Seine Stimme war laut.

Er behielt die Hand ausgestreckt und wies mit dem Zeigefinger auf Leopold und Selma.

»Blau«, rief Selma. Sie sank auf einen Stuhl und hielt sich die Hände vor die Ohren. »Schweig, schweig, schweig«, rief sie.

»Er ist betrunken«, schrie die Mutter.

Lehrer Leopold stand vor Josef Blau.

»Schweigen Sie«, sagte er.

»Das Brautpaar.« Josef Blau nickte mit dem Kopf.

Lehrer Leopold ergriff ihn an der Schulter. Er drehte Josef Blau herum und drängte ihn gegen die Tür, die zum Schlafzimmer führte. Josef Blau widersetzte sich nicht. Selma war aufgesprungen. Sie warf sich zwischen Leopold und Josef Blau und versuchte Leopold zurückzustoßen.

»Lassen Sie ihn los«, rief sie, »sofort! Ich sage Ihnen, berühren Sie ihn nicht!«

»Verzeihung«, sagte Lehrer Leopold. Er verneigte sich gegen Selma und ging langsam gegen das Fenster zurück.

»Du bist ein lächerlicher Mensch, Blau«, sagte Onkel Bobek. »Nein, nein, Pollatschek, das ist nicht, wie es damals war! Gib mir einen Schnaps, Modlizki!«

Josef Blau trat ins Schlafzimmer. Er schloß vorsichtig die Tür hinter sich. Niemand folgte ihm. Er saß beim schlafenden Josef Albert. Auf dem Tisch flackerte müde ein Nachtlicht, das schwankende Schatten gegen die Wand warf. Von nebenan klang die laute Stimme Onkel Bobeks zu Josef Blau. Was war das mit den Buchstaben, wenn man sie vertauschte? Mußten sie einander Schicksal sein, der Lehrer und der Schüler, vielleicht nur aus diesem nichtigen Grund, weil ihre Namen die gleichen waren? War ein Name mehr als Schall, gehörte der Name dazu, konnte man nicht einen anderen haben und derselbe sein? Hängt man an einem Namen oder hängt der Namen an einem? Weil er Josef Blau war, war diese sein Weib, dieser sein Sohn, diese seine Schüler, oder war er Josef Blau, weil diese sein Weib, dieser sein Sohn und diese seine Schüler waren? Wenn er als Schüler durch eigene Hand gestorben wäre, wäre er dann Laub gewesen oder wäre dann der Schüler Blau gestorben? Wenn er, Josef Blau, als zweites Kind seiner Eltern geboren worden wäre, wäre er selbst dann Josef Blaus Bruder und als Kind gestorben? Wer wäre dann Josef Blau oder wäre Josef Blau überhaupt nicht? Bin ich nicht, dachte Josef Blau, nur ein einziger, der nur einmal in der Zeit vorgekommen ist, und habe ich nur ein einziges, selbstverschuldetes Schicksal, oder kann ich viele Namen haben und viele Schicksale? Kann ich das Schicksal des Schülers Laub aufnehmen, es fortsetzen, sühnen, wiedergutmachen? Was hat das alles für einen Zusammenhang, was bedeutet es? Je mehr man dachte, desto mehr verwirrte sich alles.

Nun spielte Modlizki wieder auf der Mundharmonika zum Tanz. Vielleicht tanzte Selma wieder mit Leopold und alle sahen ihnen zu und lachten. Die Tür öffnete sich. Jemand trat ein und schloß sie wieder hinter sich. Josef Blau hob den Kopf nicht.

»Onkel Bobek hat recht«, sagte Selma. Sie stand knapp vor Josef Blau. Ihre Stimme hatte einen harten Klang. »Du bist ein lächerlicher Mensch.«

Sie setzte sich auf das Bett.

Josef Blau antwortete nicht.

»Was willst du, o Gott, begreifst du denn nicht, daß ich dich liebe, nur dich? Ich wache an deinem Bett, hier, siehst du, das Kind ist unser Kind, und du vertraust mir nicht!«

Sie erhob sich. Sie trat auf ihn zu und legte ihren Arm um seine Schulter.

»Was glaubst du? Glaubst du, ich liebe den Leopold? Er nimmt sich meiner an. Ich habe Kummer, auch deinetwegen ... aber... aber...«

Sie ließ ihn los. »Soll ich dir schwören«, schrie sie, »hier–« sie wies auf Josef Alberts Korb – »bei seinem Leben...«

»Schweig«, bat er.

»Haha, du würdest mir nicht glauben, auch dann nicht. Was habe ich getan... keine andere hätte es getan... Ich trage lange Röcke wie ein altes Weib, aber du glaubst mir nicht... Was noch, was noch, sag doch, was du verlangst, daß du mir glaubst!«

Er rührte sich nicht.

Sie trat einen Schritt zurück. Sie sah ihn fest an, der zusammengesunken, die Hände vor dem Gesicht, vor ihr saß. Sie verharrte so einen Augenblick, dann neigte sie den Kopf zurück.

»Ich weiß«, sagte sie leise. »Du wolltest es einmal schon sagen, aber dann... du sagtest etwas anderes. Ich wußte, was du wolltest. Gut, gut... es wird geschehen, was du willst.«

»Ich will nichts, Selma.«

»Es wird geschehen. Dann wirst du nicht mehr glauben, daß ich geheime Zusammenkünfte habe mit Leopold oder mit... Karpel.«

»Woher wußtest du es, mit dem Wechsel?«

»Modlizki hat es mir gesagt. Ich mußte ihm versprechen, es niemandem zu sagen, daß ich es von ihm weiß. Er sagte, das Kind soll verflucht sein, wenn ich es sage. Aber das sind Dummheiten, sagt Lehrer Leopold. Wenn du mir nicht glaubst, frage Bobek, bei wem der Wechsel war! Er hat ihn heute bezahlt. Die Mutter hat das Geld erst heute gegeben.«

»Bei wem?«

»Bei Berger, der Bobek das Geld geliehen hat.«

»Nein, nein«, sagte Josef Blau.

»Bei Berger, frage Bobek, die Mutter, frage alle!«

»Nein, nein«, dachte Josef Blau. »Es kann nicht wahr sein. Es darf nicht wahr sein. Weswegen wäre ich sonst in die Kasernengasse gegangen? Deus, Deus meus!«

Die Mutter öffnete die Tür. Sie rief Selma. Im Nebenzimmer verabschiedeten sich die Gäste.

Onkel Bobek saß auf dem Sofa. Neben ihm stand die Mutter und goß ihm das Glas voll.

»Sie haben mich verlassen, alle haben mich verlassen. Es ist nicht, wie es damals war«, sagte er wehmütig. »Nein, nein, es ist nicht so, sie haben mich im Stich gelassen, ich habe niemanden, dem ich nun ins Auge sehen könnte, niemanden, keinen Freund, der alte Bobek ist allein und... und... ja, ja... er schämt sich nicht, der alte Bobek, daß er weint.«

Die Tränen rannen Bobek über die Wangen.

Die Mutter neigte sich zu ihm.

»Du bist nicht allein, Bobek«, schrie sie, »ich bin bei dir und ich bleibe bei dir, mein Liebling.«

»Kusch«, sagte der alte Bobek mit tränenerstickter Stimme und schob sie mit dem Arm von sich weg.


 << zurück weiter >>