Hermann Ungar
Die Klasse
Hermann Ungar

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8. Kapitel

Josef Blau schlief diese Nacht im Wohnzimmer.

In seinem Bett, das man von Selmas Bett fortgerückt hatte, schlief Frau Nowak.

Er hörte das Neugeborene schreien. Hatte es Hunger? Die Mutter hatte es noch nicht an die Brust genommen. Es ist die erste Nacht in Josef Alberts Leben, dachte Josef Blau. Josef Albert. Man nannte ihn schon.

Josef Albert schrie und schlief ein, um wieder zu erwachen und zu schreien, erst kräftig, dann immer schwächer, bis er verstummte. Er schlief ein, wenn die Müdigkeit größer war als der Hunger. Er wird noch viele Nächte haben, dachte Josef Blau, in denen endlich die Müdigkeit alles, Angst, Sorge, Gebet, Reue, Schmerz in einem leisen, von Träumen geworfenen Schlaf überwältigen wird. Josef Albert hat sich aus der Mutter losgerissen. Er atmet. Er heißt. Er lebt. In der Mutter war er der Mutter Atem, Herzschlag, Hunger, Schmerz, Freude. Er ist zehn Stunden lang Josef Albert und schon weiß niemand, was in ihm ist. Ist es nur der Hunger, der aus ihm schreit, oder die Angst vor allem, was ihn schreckhaft umgibt, vor den riesigen roten nackten Gesichtern mit den aufgerissenen dunklen Rachen, die sich über ihn neigen und entsetzliche Laute ausstoßen – sie schlagen an Josef Alberts Trommelfell wie Paukenschläge – vor der Helligkeit, vor der Kälte? Er war in Wärme und Dunkel. Erinnert er sich? Weiß er? Niemand dringt zu ihm. Er ist allein. Zwischen ihm und alldem ist eine leere Kluft, die er nie überwinden wird. Er hat Eltern. Der Vater spricht mit dem Sohn. Was sagen sie? Sie begreifen einander nicht. Wird Josef Albert den Vater verstehen, wenn dieser ihn anblickt, zu ihm spricht? Er ist Josef Blaus Fleisch und Blut. Er ist sein Sohn. Er ist hineingeboren in des Vaters Lebenskreis, in seine Verstrickungen, in seinen Namen, in das häßliche Antlitz der tauben Großmutter, das er trägt, heute geboren, warum nicht morgen, in zehn Jahren, in hundert? Wenn der Sohn ihn fragt, Rechenschaft will, wird er des Vaters Worte verstehen, seinen Blick, die stumme Umarmung? Kann er begreifen, was Selma nicht begreift, daß ihre Schicksale zusammenhängen, wird er nicht ihn fragen: warum, warum mit deinem, Josef Blaus Schicksal und nicht mit anderem hängt das meine zusammen? Der Vater wird nicht aufhören, um ihn zu ringen, daß sich am Sohn nicht ein Schicksal entlädt, das der Vater, die Mutter verschuldet, oder auch nur durch ein Wort, einen Schritt gelöst haben.

Die Tür von Selmas Zimmer öffnete sich. Josef Blau fuhr auf. Es war Frau Nowak in einem weißen Jäckchen, unter dem ihr Leib runder und größer hervortrat.

»Was ist geschehen?«

»Nichts, nichts«, sagte Frau Nowak. Sie sprach das s wie ein sch, zischend. Sie hatte die Zähne abgelegt. »Es sind die Blumen. Sie riechen zu stark. Ich stelle sie hierher. Es ist alles in Ordnung.«

Der Duft der Blumen störte die Wöchnerin und das Kind. Man mußte die Blumen des Lehrers Leopold entfernen. Vielleicht, wenn Selma erwachte, blickte sie nach den Blumen und lächelte. Nun waren die Blumen nicht mehr da. Vielleicht fragte Selma die Hebamme nach ihnen. Aber die Hebamme brachte sie nicht wieder. Sie rochen zu stark, sie störten, sie vergifteten die Luft. Niemand hatte daran gedacht, Blumen zu schicken, nur Lehrer Leopold hatte daran gedacht. Er hatte am Morgen, als ihm der Direktor auftrug, die Klasse des Lehrers Blau zu übernehmen, erfahren, daß die Wehen begonnen hatten. Aber wer hatte ihm gesagt, daß das Kind da war? Er hätte die Blumen nicht geschickt, ohne es zu wissen, denn es hätte alles anders gekommen sein können.

Vielleicht hatte Lehrer Leopold durch einen Boten nach Selma fragen lassen. Vielleicht war er selbst im Haus gewesen. Am Ende war die ganze Zeit Leopolds Posten vor dem Haus gestanden, den Blick auf Blaus Fenster gerichtet, ein Schüler aus Blaus Klasse, der diesen Dienst übernommen hatte. Er hatte den Lehrer am Fenster stehen sehen, Selmas Schreie gehört, die Stimme der Mutter. Er war zu Lehrer Leopold geeilt, ihm zu berichten.

In seiner ersten Stunde atmete Josef Albert den Duft von Lehrer Leopolds Blumen. Er wußte noch nicht, und Lehrer Leopold war schon um ihn, Lehrer Leopold, der Josef Alberts Mutter ansah, als sei Josef Blau schon lange vergessen. Seine Mutter hatte gelächelt, als sie die Blumen sah. Sie fragte nicht und lächelte. Sie wußte oder sie ahnte. Aber alle wußten es, von jenem Augenblick an, als Lehrer Leopold ins Zimmer trat, unbekümmert sie ansah und zu ihr sprach, als stehe nichts zwischen ihm und ihr. Alle wußten es, alles, auch daß er ihr Blumen schicken würde. Sie rochen stark. Sollte er aufstehen, das Fenster öffnen, die Blumen auf die Straße werfen? Was wollte der Lehrer Leopold? Was würde das Nächste sein? Was nun? Wenn es geschehen sein würde, würde allen sein, als hätten sie es von Anfang an gewußt. Nun war Josef Albert dabei. Josef Blau mußte an sein Bett treten, mit ihm sprechen. Man bekam Kopfschmerzen von dem scharfen Geruch, der das Zimmer erfüllte. Josef Albert mußte zu Josef Blau stehen, der sich in den Weg stellen, die Blumen aus dem Fenster werfen würde. Er würde mit ihm allein sein. Die Mutter und Selma waren nicht da, weg vielleicht mit Leopold, nur er mit dem Sohn und er umfaßte den Sohn und sprach: »Liebe deinen Vater, Josef Albert, komme, was komme!«

Josef Blau fuhr auf. Er öffnete die Augen. Hatte er es laut gesagt? Ihm war, als habe er den Klang seiner Stimme gehört. Er stand auf und öffnete das Fenster. Auf dem Bahnhof bewegten sich Lichter. Ein Zug pfiff in der Ferne. Jemand sang mit grölender Stimme auf der Straße ein Lied.

Frische Luft, dachte Josef Blau.

Er legte sich wieder ins Bett. Josef Albert schrie. Auch Selma war wach. Er hörte sie mit der Hebamme sprechen. Sie fragt nach den Blumen, dachte Josef Blau.

Als er erwachte, wärmte die Hebamme in seinem Zimmer Milch auf dem Spirituskocher.

»Etwas Fieber«, sagte sie, »aber es ist nicht schlimm. Sie hat schon mehrmals nach Ihnen gefragt. Aber ich sollte Sie nicht wecken.«

Josef Blau trat bei Selma ein. Die Vorhänge im Zimmer waren herabgelassen. Selma lag auf dem Rücken. Ihre Hände knüllten ein Tuch. Das Haar war zerrauft und hing in die Stirn. Sie lächelte nun nicht mehr wie am Abend zuvor. Das Gesicht war gerötet, die Augen gingen unruhig hin und her. Sie waren groß und das Fieber flackerte in ihnen. Josef Blau erschrak. Das war schlimmer, als er nach den Worten der Hebamme gedacht hatte. O Gott, er hatte gehofft, daß die Gefahr vorüber sei.

»Man muß den Arzt holen«, sagte er leise zu Frau Nowak.

»Ich werde Martha schicken«, erwiderte die Hebamme, ohne zu widersprechen.

Er trat nahe an ihr Bett. Sie versuchte sich aufzurichten. Dann ergriff sie seine Hand und zog ihn nahe zu sich. Ihre Hand war heiß und trocken. Frau Nowak hatte sich entfernt.

»Für alle Fälle«, sagte Selma. »Gut, daß ich dich noch sehe.«

»Selma«, sagte er. Er konnte nicht weitersprechen. Er hielt ihre Hand und drückte sie, als könne er so Selma festhalten. Selma warf sich unruhig unter dem schweren Federbett. Sie stützte sich auf die Linke und brachte ihren Mund nahe an sein Gesicht.

»Karpel hat den Wechsel«, sagte sie und fiel in die Polster zurück.

Josef Blau ließ ihre Hand los.

»Was... was sagst du... Selma?«

Sie hatte die Augen geschlossen. Sie atmete laut. Ihre Brust hob und senkte sich ungleichmäßig. Hörte sie ihn nicht mehr? Schlief sie? War es zu Ende? Hatte sie alle Kraft gespart, ihm noch das eine zu sagen, ehe sie ging? Sie liebte ihn! Selma liebte ihn! Sie hatte nicht nach den Blumen gefragt, im Fieber nichts anderes gedacht als daran, daß er kommen sollte, so lange sie noch sprechen konnte, daß sie ihn warne.

Frau Nowak trat wieder ein.

»Schläft sie?« fragte sie. Sie sah Josef Blau an. »Es ist nicht schlimm. Das ist das Gewöhnliche. Sie müssen sich nicht aufregen, Herr Professor!«

Sie schob ihn, der keinen Widerstand leistete, aus Selmas Zimmer.

»Es ist nichts«, sagte die Mutter, die ihm den Kaffee auf den Tisch stellte.

»Es ist nichts«, sagte der Arzt, der bald darauf bei Selma eintrat.

Wenn es nichts war, so war es doch etwas. Josef Blau hatte es zuerst nicht erfaßt. Aber jetzt sah er es. Karpel hatte den Wechsel. Er konnte ihn nur von Berger gekauft haben, von Bobeks Freund, der das Geld geliehen hatte. Aber woher wußte es Selma? Selma mußte gestehen, von wem sie es wußte. Wer hatte ein Interesse, es Selma zu sagen. Nur der, der wollte, daß Josef Blau es erfahre: Karpel, der den Lehrer in Schrecken halten, ihn erniedrigen, den Wechsel benutzen wollte, den Lehrer in der Schule wehrlos zu machen. Hatte er Selma auf der Straße überfallen, es ihr zugeraunt, oder trafen sie einander, sprachen miteinander, hatten wenigstens einmal miteinander gesprochen? Selma hatte gezögert, es dem Gatten zu sagen, daß er nicht mit Fragen in sie dringe, woher sie es wisse. Hatte Josef Blau je den Namen Karpel genannt? Sie hatte ihn gesagt, als sei er ihr ein geläufiger, oft gesprochener Name. Woher hatte Karpel von diesem Wechsel gewußt? Auch von Selma? Sie mußte alles sagen, sowie man ihn zu ihr lassen würde, er wollte in sie dringen, nichts durfte verborgen bleiben. Sie hätte vielleicht nie verraten, daß sie es wußte, aber das Fieber hatte sie reden gemacht, die Angst des Todes, die Ermattung der Geburt, schreckhafte Bilder, die der Halbschlaf der Krankheit ins Gehirn brachte, und die Sorge um das Neugeborene. Wenn es Sel- mas Zustand zuließ, wollte er heute zu Modlizki. Solange der Wechsel in Karpels Händen war, war der Lehrer dem Schüler ausgeliefert. Es waren ungewöhnliche Dinge, die Karpel plante, erschreckende Pläne.

Wie hatte Karpel sich Selma genähert? Was hatte er ihr vorgespiegelt, sie zu Zusammenkünften zu veranlassen? Vielleicht drohte ihr Karpel lange schon mit seiner Rache, daß er den Lehrer vernichten würde, und Selma kaufte den Gatten los. Sie sollte sprechen. Am Ende wußten es alle, die Schüler, die Mutter, Modlizki, nur er wußte es nicht, daß er gerettet wurde, nicht durch sein Gebet, sondern durch Selma, die ihn loskaufte bei den Schülern. Was war der Preis, den Selma zahlte? Was hatte sie schon getan, wie weit war sie gegangen? Was verlangte Karpel nun, daß er Josef Blau mit dem Wechsel schone?

Selma schlief jetzt. Sie hatte Suppe gegessen und das Kind zum erstenmal an die Brust genommen. Das Fieber hatte nachgelassen. Die Mutter und Frau Nowak saßen im Wohnzimmer. »Es ist keine Gefahr«, sagte Frau Nowak. Er konnte gehen. Es war halb acht, als er die Wohnung verließ.

Lehrer Leopold stand auf dem Korridor, bereit, Josef Blau auch heute zu vertreten. Er trat auf Josef Blau zu und streckte ihm mit weiter Bewegung die Hand entgegen.

»Meine herzlichsten Glückwünsche! Es ist alles, wie es sein soll, da Sie kommen.«

Josef Blau reichte ihm wortlos die Hand.

Er betrat die Klasse, wie immer, von der Tür aus das erhöhte Podium besteigend, beim Gang an seinen Platz die Schüler nicht aus dem Blickfeld zu lassen. Er hängte den Hut an den Nagel und machte seine Eintragung in das Klassenprotokoll. Alles ging schnell. Er wollte nicht, daß die Knaben, wie es bei anderen Lehrern üblich war, durch eine vortretende Abordnung ihn beglückwünschten. Er stand am Fenster und begann den Unterricht, dort fortsetzend, wo er in der letzten Stunde geschlossen hatte.

Der Schüler Karpel saß da wie die anderen, unbeweglich, mit gesenktem Kopf.


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