Hermann Ungar
Die Klasse
Hermann Ungar

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2. Kapitel

Er mußte die Stadt durchqueren, um zu seiner Wohnung zu gelangen. Er bewohnte mit Selma und deren Mutter eine gemeinsame Wohnung im obersten Stockwerk eines Mietshauses. Das Haus war schwarz vom Ruß des gegenüberliegenden Bahnhofs. Nur dort, wo der Mörtel sich von den Wänden gelöst hatte, war das Dunkel von hellen gelben Flecken durchbrochen.

Die ganze Straßenseite entlang standen Häuser wie dieses. Jedes Stockwerk war von mehreren Familien bewohnt. Aus den Fenstern hing rotes Bettzeug. Dicke hutlose Frauen mit zerrauftem, spärlichem Haar, die Blusen lose um die Hüften flatternd, standen mit Kannen und Taschen vor den Türen. Josef Blau betrat den dunklen Hausflur. Ein Geruch von Feuchtigkeit und Speisen durchzog das ganze Haus. Aus den Wohnungen, an denen er vorbeiging, drang der Lärm von Stimmen, übertönt von langgezogenem Gewinsel von kleinen Kindern und Hunden.

Selma und die Mutter waren nicht zu Hause. Josef Blau nahm die Mahlzeit im Wohnzimmer. Die siebzehnjährige Magd, Martha, klein und flachbrüstig, die Tochter eines Nachbarn, trug die Speisen auf. An das Wohnzimmer stieß von der einen Seite die Küche. Hinter dem Schlafzimmer lag das Zimmer der Mutter, ein einfenstriger schmaler Raum mit besonderem Ausgang in das Treppenhaus. Das Wohnzimmer war zweifenstrig. Vor einem Fenster stand Selmas Nähtisch, an dem sie vor dem Weggehen gearbeitet hatte. An den Wänden hingen Bilder, ein Farbendruck, darstellend eine große Versammlung von Männern, einen Reichstag oder ein Konzil, und einige Familienfotografien, ein Jugendbildnis von Selmas Mutter und ein Bild ihres verstorbenen Vaters, eines stattlichen Mannes mit struppigem Schnauzbart. Die Gardinen waren weiß, die Wände mit einem bunten, auf den Kalk gemalten Muster geschmückt. Trotzdem schien das Zimmer nicht hell. Der Ruß des Bahnhofs drang durch die Fenster, er hatte alles mit einer feinen Schicht bedeckt, die den Farben den Glanz genommen, sie matt, grau und ineinander verschwimmend gemacht hatte. Es war, als seien die Farben ohne Leben, unter dieser Schicht gestorben. Sie erwachten nicht, auch wenn die Rußschicht von den Möbeln, Bildern und Wänden unter dem Staubtuch gewichen war. Die Fenster lagen nach Norden. Das Licht brach sich erst in den Hallen, Gleisen, Schuppen und Kohlenlagern des Bahnhofs, bevor es in die Wohnung drang.

Nachdem Josef Blau gegessen hatte, breitete er die Hefte der Knaben auf dem Tisch aus. Er holte rote Tinte und Federhalter von einem Holzregal zwischen den beiden Fenstern und setzte sich. Er putzte die Feder sorgfältig an einem kleinen hierfür bestimmten Tuchlappen und schlug das Heft des Schülers Blum auf, des ersten in der alphabetischen Ordnung.

In der Wohnung war Ruhe. Josef Blau hörte nichts, als von Zeit zu Zeit ein Klirren, wenn Martha in der Küche einen Teller auf den andern setzte, und den gleichmäßig verworrenen Lärm des Hauses. Er wollte nicht an Selma denken, die auf ihn zutrat, auf ihren Leib weisend, der täglich schwerer wurde, ihm ein Wort zu entreißen, das er nicht sprechen wollte. Sie begriff nicht, daß es gut war, nichts zu sprechen als das Vorgesehene, da man nicht wußte, ob die Worte nicht zu Flüchen wurden. Er wollte die Zeit nützen, ehe Selma mit der Mutter zurück war. Er wollte ruhig die Arbeiten der Schüler durchgehen, Heft um Heft, Fehler um Fehler, alles andere ausschalten, nur an das Vorgesehene, von der Pflicht Aufgetragene denken, an die lateinischen Sätze und sonst an nichts. Er saß über den Heften und zog rote Striche unter den von den Schülern geschriebenen Text. Es waren sechs einfache Sätze. Aber der Unaufmerksame mußte sich in den Fallen verstricken, die der Lehrer gelegt hatte, eine Falle in jeden Satz. Verwundert bemerkte Josef Blau, daß die Knaben fast ausnahmslos den Fallen entgangen waren. Sein Erstaunen steigerte sich, als er bemerkte, daß eine bestimmte Falle im dritten der Sätze allen in gleicher Art zum Verderben geworden war. Er ordnete die Hefte nach der Reihenfolge der Sitzordnung. Er erschrak. Die Übereinstimmung war unzweifelhaft. Hatten die Knaben, unter seinem Blick, der nicht von ihnen wich, einen Weg gefunden, sich gegen ihn zu verschwören, und diesen Weg betreten? Er begriff, daß sie ihn in ihrem Innern verhöhnten. Er hatte sich schwächer gezeigt als ihre List. Sie saßen da, nur äußerlich unter ihn gebeugt, äußerlich ihm unterworfen. Ihre List war nicht erdacht, ihn zufriedenzustellen durch die fehlerlose Arbeit, sei es auch mit Hilfe eines Betrugs. Sie war erdacht, ihn, seine Stärke, seinen Blick zu prüfen. Er hatte die Prüfung nicht bestanden. Ihr Mut mußte nun wachsen. Es war zweifelhaft, ob Josef Blau sich noch retten, die drohende Meuterei ersticken konnte, wenn er das Komplott morgen zerriß und durch neue wohlerwogene Maßnahmen die Knaben wieder unter sich zu zwingen suchte.

Es war eine unterirdische Verschwörung, eine Verschwörung unter den Bänken, eine Verschwörung der nackten Waden bei geduckten, gehorsamen Oberkörpern. Es gab keine andere Möglichkeit als diese: die Knaben brachten die Beine aneinander, vorwärts, seitwärts. In den kurzen Strümpfen und in den Schuhschäften wurden die Mitteilungen zugesteckt und empfangen. Die Starre und Unbeweglichkeit war nur über den Bänken, unter der Oberfläche war Bewegung und Anarchie. Unter den Bänken hatte sein Blick keine Gewalt. Während die Köpfe und Rümpfe gehorchten, hatten die nackten Beine sich empört. Es war der Anfang. Die Zucht löste sich von unten, während er da war, sie fest begründet glaubte, glaubte, daß kein Zeichen der Bewegung ihm entging. Sie fürchteten ihn nicht, wenn er ihnen gegenüberstand. Was geschah, wenn sie seinem Blick entzogen waren?

Josef Blau erhob sich. Er trat ans Fenster. Das Gewirr der Schienen, das sich zum Bahnhof verengte, breitete sich vor ihm aus. Er hatte auf dem Heimweg keinen der Schüler gesehen. Sie verfolgten seinen Schritt nicht. Aber vielleicht umlauerten sie das Haus. Vielleicht lauerten sie auf Selma, hatten Selma schon überfallen, ihr zugeflüstert, daß er einen lächerlichen Schimpfnamen habe, daß er die Schüler fürchte, daß die Schüler aber ihn vernichten würden ohne Erbarmen, wenn die Zeit so weit sei. Sie hatten ihr vielleicht Bilder in die Hand gedrückt, auf denen er, Josef Blau, verzerrt, ein armseliges behaartes Gerüst von Knochen dargestellt war, vielleicht mit ihr, die von ihm unförmig war. Gewiß fühlten sie, daß er mit seinem Leben an ihr hing. Sie machten vor Selma nicht halt. Die Lüsternheit der Knaben, gestachelt vom Anblick der Schwangerschaft, wühlte in Vorstellungen von Selmas Gemeinschaft mit ihm, deren Folgen an ihr sichtbar waren. Karpel, der in den Lüsten erfahren war, flüsterte Selma vielleicht zu, daß andere Männer stärker seien in ihrer Männlichkeit, und daß sie, Selma, schön sei, prächtigen Leibes und verdorren müsse neben ihm.

Er war der Sohn eines Gerichtsdieners aus einer kleinen Stadt. Er war mager, gelb und armselig. Seine Haut war rauh, wie mit Grießkörnern übersät. Sein hüpfender Adamsapfel trat aus dem dürren Hals wie ein zweites Kinn. Er hatte seinen Körper nie bei Licht vor ihr enthüllt. Ihre Haut war weiß und glatt. Der Körper war rund von festem Fleisch. Was wollte er von ihr? Er reichte ihr bis zur Stirn, knapp unter den Ansatz des hellen Haares, der nach hinten gekämmt und im Nacken zu einem tiefen Knoten gebunden war. Sie drehte beim Gehen den Körper in den breiten Hüften wie Frauen, die Krüge auf dem Haupt tragen. Zwischen roten, stets halb geöffneten Lippen glänzten ihre weißen feuchten Zähne. Er wußte, daß die Männer sich nach ihr umsahen, wenn sie an ihnen vorbeiging. Es waren lächelnde Männer, die das Fleisch steinhart schwellen machen konnten, wenn sie die Muskeln spannten. Es waren Männer, die den Frauen zuwinkten und zulächelten. Vielleicht verglich Selma ihn schon mit einem, der größer, stärker, männlicher war als er. Hatte sie schon begriffen, daß er armselig war an Körper und zu geringen Herzens, als daß er sich erheben und die Kläglichkeit seines Körpers vergessen machen könnte? Er wußte, daß er sich wehren mußte, wenn er Selma nicht verlieren wollte. Wenn der andere, der sie ihm entreißen würde, kommen mußte, Josef Blau wollte es durch Klugheit und Planmäßigkeit hinausschieben. Er mußte sein Auge auf ihr halten und nichts durfte ihm entgehen: keine Bewegung ihres Gesichts, kein Blick, er mußte in die tiefste unbewußte Bedeutung jedes Wortes, das sie sprach, jedes Seufzers, den sie tat, eindringen, wenn er das Zeichen, daß sie ihm entglitt, rechtzeitig erkennen wollte. Er wollte Modlizki aufsuchen, daß dieser in die Pläne der Knaben eindringe und sie ihm verrate. Die Gefahr, die von den Knaben drohte, war die gegenwärtigste und unmittelbarste. Die Knaben trieb der Haß gegen ihn. Der Haß würde sie alle Hindernisse überwinden lassen. Wenn sie sich Selma noch nicht genähert hatten, mußte die Annäherung verhindert werden, so gut es ging. Er wollte Selmas Ausgänge auf das Notwendigste beschränken. Niemand sollte sie sehen, die Knaben nicht und kein Mann sonst. Wenn sich die Knaben ihres heutigen Sieges bewußt wurden, würden sie die letzte Scheu verlieren. Das Bewußtsein ihrer Überlegenheit mußte ihre Kühnheit stacheln. Sie konnten versuchen, in die Wohnung einzudringen, wenn Josef Blau abwesend war. Die Mutter war kein Schutz, sie war schwerhörig. Sie hörte nur, was ihr in die Ohren geschrien wurde. Die Knaben konnten es wissen. Sie konnten Selma auf einem Spaziergang mit der Mutter beobachtet und gehört haben, wie Selma die Stimme anschwellen lassen mußte, sich der Mutter verständlich zu machen. Alles hing daran, die Knaben nicht zum Bewußtsein ihres Sieges gelangen zu lassen. Alles hing davon ab, daß Josef Blau imstande war, morgen, durch die Art, wie er das Komplott aufdeckte und wie er es bestrafte, den Sieg in eine Niederlage zu verwandeln. Wenn überhaupt er seinen Willen noch durchsetzen konnte, wenn nicht unter dem Eindruck des Sieges die Knaben, einer vom andern gestachelt, die geheime Empörung in offene verwandelten, und wenn nicht bei seinem Eintritt schon ihm Karpels, Laubs und der anderen lachendes Gesicht entgegensehen würde.

Wenn er sie mit seinem Blick noch halten konnte, wenn sie noch nicht sich offen empörten, war sein Weg vorgezeichnet. Die Entdeckung des Komplotts mußte ohne Erregung geschehen, fast ohne Wort. Nichts durfte verraten, wie nahe die Knaben ihrem Sieg gewesen waren. Er mußte an seinem Platz stehen wie sonst und die Knaben mußten ihm gegenüber, in ihren Bänken sitzend, sechs neue Sätze schreiben. Er wollte über die Knaben statt einer Strafe für die entdeckte und zur Vermeidung neuer unterirdischer Konspiration verhängen, daß jeder während des Schreibens den linken Arm gerade vor sich gestreckt auf das Schreibpult lege und die Finger der Hand um die dem Lehrer zugekehrte Kante der Bank krümme. So würde die Haltung des Körpers fixiert sein, die Beobachtung jeder Bewegung erleichtert. Die rechte Hand würde schreiben, die linke weit nach vorn gebunden sein und durch ihre Unbeweglichkeit wie ein Anker die Bewegung des ganzen Körpers binden, auch des unterirdischen, die Beweglichkeit der Beine in jedem Fall auf das Mindestmaß beschränken. Das über die Knaben verhängt, schien besser als Strafe. Denn die Strafe mußte den Bestraften die Wichtigkeit des Vorfalls erst recht bewußt machen. Sie würde nicht abschrecken, die Knaben vielleicht zu weiteren Herausforderungen verleiten, wenn er ihrem Schlag seinen entgegensetzte, die Partei der Knaben zu der einen, sich zur anderen kämpfenden Partei machte. Das Verhältnis sollte der Möglichkeit solchen Vergleichs entzogen sein. Er entdeckte und blieb entrückt, nicht in die Sache gezogen, wenn er den Vorfall scheinbar straflos ließ, durch die neue Anordnung aber den Knaben körperlich die Unterworfenheit unter seinen Willen sinnfälliger fühlbar machte, als es durch eine der zugelassenen Strafen erreichbar war.

Josef Blau bereitete mit Sorgfalt sechs neue Sätze vor, die die Schüler morgen übersetzen sollten. Wieder war er bestrebt, bei einfachster Formulierung unauffällig in jedem Satz einen grammatischen Hinterhalt zu verbergen, an dem sich die Aufmerksamkeit des Schülers wie die Selbständigkeit seiner Arbeit erweisen mußte.

Während er Formulierungen gegeneinander abwog, hörte er die Stimmen Selmas und der Mutter auf der Treppe. Die Stimme Selmas, die sich der Mutter verständlich machen wollte, war laut, und die sonst tief und angenehm schien, klang schrill und peinlich. Die Mutter antwortete, nicht imstande, die Stärke der eigenen Stimme abzumessen, und es war Josef Blau, als dröhne diese Stimme, tief wie die eines Mannes, in alle Räume des Hauses, gleichsam verstärkt durch das mächtige Instrument des Leibes, aus dem sie drang, wie durch den resonierenden Körper eine Baßgeige. Josef Blau schloß die Hefte. Ihm war, als müsse er den Frauen entgegeneilen, die Tür öffnen, ihr Eintreten in die Wohnung beschleunigen. Er wollte diese laute Stimme vom Haus abschließen, soweit Tür und Mauer dieser Stimme ein Hindernis waren, in die Wohnungen der Nachbarn zu dringen. Er stand der Tür zugewandt und wartete. Nun waren die Stimmen da, der Schlüssel drehte das Schloß auf und Selma und die Mutter traten ein.

Die Mutter ließ sich auf den Stuhl fallen, auf dem Josef Blau gesessen hatte. Sie öffnete sitzend die Jacke und legte den Hut vor sich auf den Tisch. Ihr Atem zog pfeifend aus den Nasenlöchern. Auf der Oberlippe lag ein Schatten von schwarzen Barthaaren. Josef Blau wußte, daß sie nun gleich das Wort an ihn richten würde und daß er ihr würde antworten müssen. Er würde, so entsetzlich es war, die Stimme über ihr Maß anschwellen lassen müssen und doch nicht verstanden werden. Die Mutter würde ihm zunicken, als verstände sie ihn, wie sie immer tat, weil sie nicht durch eine Frage ihr Gebrechen eingestehen wollte. Sie würde ihn böse ansehen, als spreche er, sie zu verletzen, ihr das Gebrechen vorzuwerfen, leise mit ihr, leiser vielleicht als sonst. Sie begriff nicht, daß er alle Kraft aufbot, sie sah nicht, daß seine Wange sich rötete, wenn sein Ohr die eigene überlaute Stimme vernahm, zurückgeworfen zu ihm von den Wänden. Nun richtete sie ihre starren Augen auf ihn und nun begann sie:

»War Bobek da?«

Er schüttelte den Kopf, nachdrücklich und mit Anstrengung, zugleich riß er den Mund auf und formte ein stummes Nein, das er durch abwehrende Bewegung der Hand bestätigte. Er wollte, daß die Mutter die Zeichen verstehe. Er vervielfältigte sie, als könne die Mutter auch die stumme Verständigung nur erfassen, wenn sie übertrieben wurde wie die menschliche Stimme.

»Wo er steckt! Er wollte doch mit dir sprechen. Du weißt, warum. Oder weißt du es nicht mehr?«

Er wußte es. Es war wegen des Geldes. Er nickte rasch und eindringlich mit dem Kopf.

Sie öffnete den Mund, als schnappe sie nach Luft und drückte die Hände an den Körper.

»Das Mieder, das Mieder«, sagte sie, »man erstickt. Es wird niemand mehr kommen. Wenn er noch nicht da ist, kommt er nicht mehr.«

Sie erhob sich und verließ das Zimmer. Die Tür flog hinter ihr ins Schloß. Man hörte ihre Stimme aus der Küche und Marthas ängstliche Antwort. Josef Blau stand am Fenster. Er hatte sich abgewandt. Er wußte, daß die Mutter dem Onkel Bobek gefallen wollte. Onkel Bobek war der Vetter ihres verstorbenen Mannes. Die Mutter preßte ihren Körper in die Panzerstangen des Mieders, zwang das Gewicht ihrer Brüste aufwärts, ihren gealterten Busen einem Mann verlockend scheinen zu lassen. Er mochte nicht davon hören und nicht daran denken. Ihm war, als sei beschämend und beleidigend, was Selmas Mutter tat, nicht allein für sie, in unerklärlicherweise für die Tochter, für Selma.

Selma trat auf ihn zu. Sie ging schwer, als ziehe ihr Leib sie zu Boden. Sie hielt, in Papier geschlagen, ein kleines Päckchen in der Hand und lächelte.

»Rate, was ich bringe«, sagte sie.

Er sah sie fragend an.

Sie öffnete das Päckchen. Ein kleines, gestricktes Jäckchen aus roter Wolle lag darin und ebensolche Höschen. Sie hielt sie ausgebreitet auf dem Papier vor ihn hin. Er wollte die Hand danach ausstrecken, die kleinen Dinge zu berühren, sie zu streicheln, ihnen etwas Liebes zu tun, als er sich besann. Er legte die Hände auf dem Rücken ineinander. Was tat sie? Begriff sie nicht, was sie tat?

»O Gott«, sagte er, »belaste die Zukunft nicht, belaste sie nicht!«

Er sah sie an, als bereite sie ihm Kummer. Warum hatte sie das getan, hatte sie nicht verstanden, warum er nicht davon sprach, was bevorstand? Mußte er es ihr ausdrücklich sagen und so vielleicht alles vergeblich machen, was er sich auferlegt hatte? Sie hielt die Arme noch immer ausgestreckt. Nun ließ sie sie langsam sinken. Das Lächeln schwand aus ihrem Gesicht.

»Man soll nicht sprechen«, sagte er stockend. »Man soll nichts sagen, daß man nichts verdirbt.«

Er wollte auf sie zutreten. Er sah, daß ihre Augen sich mit Tränen gefüllt hatten. Selma wandte sich ab und verließ das Zimmer. Sie ging zur Mutter in die Küche.

Josef Blau blickte ihr nach. Mußte sie nicht glauben, daß er hart und lieblos sei? Er hätte sie zurückrufen, ihr alles erklären sollen. Aber wie durfte man reden? Das Wort, das man sprach, war unwiederbringlich. Es begann seinen Weg. Es machte die Welt anders. Es berief ein Schicksal, das nicht mehr aufzuhalten war. Man konnte ein Wort sprechen oder das andere, man konnte einen Schritt machen nach links, nach rechts, man konnte das Wort, den Schritt nicht zurückrufen, wenn es gesprochen, wenn er getreten war. Vielleicht konnte er es schreiben, jedes Wort abwägen, bevor er es hinschrieb, die Gefahr einschränken, begrenzen. Er sollte ihr alles niederschreiben, daß sie ablasse, von dem Ungeborenen zu reden, es in die Welt zu setzen, bevor das Schicksal entschieden hatte, es in die Welt zu verstricken, bevor es da war. Sie bestimmte sein Geschlecht voraus, erwog, welchen Namen sie ihm geben wollte. Er strich jeden Gedanken daran aus. Denn er durfte das Glück, das er fühlen konnte so stark wie sie, nicht vorwegnehmen, um durch das der Entscheidung vorweggenommene Glück die Vergeltung nicht herauszufordern, die sich nicht über ihm oder ihr, den Schuldigen, sondern über dem Unschuldigen, Neugeborenen, entladen konnte. Es war nicht vorher bestimmt, wie es kommen würde. Er hatte dieses Geschöpf geschaffen, er, der Lehrer Josef Blau, sich vermessen, Gott zu sein und Leben zu setzen. Alles konnte gerächt werden, an ihm, an Selma und an dem Neugeborenen, denn die Schicksale hingen zusammen, eines riß das andere mit, es gab keine Einzelbeziehung zu der Gewalt, die richtete, da war die Gewalt und da war wie die Einheit der Knaben in der Schule die Einheit des Unterworfenen, deren Schicksale ineinander griffen, ineinander verwirrt waren. Vielleicht daß es verstümmelt aus dem Leib der Mutter dringen sollte, mit feurigen Malen gezeichnet, mit dem Schnabel eines Vogels, mit gespaltenen Lippen, mit Fischschuppen im Gesicht, mit gelähmten Gliedern, mit dem Schwanz eines Affen, mit verkrümmtem Rücken, zweiköpfig, vierfüßig wie ein Tier, wie er es gehört und gelesen hatte. Die Bilder waren nicht zu vertreiben, wie er sie auch verjagen wollte, da er wußte, daß das Gedachte in der Welt war und ein Fluch werden konnte und daß man solche Gedanken ausstreichen mußte, wie man böse Träume nicht erzählte, daß das Böse nicht in der Welt sei und eintreffe nach dem alten Glauben, der der Ahnung von dunklen Zusammenhängen entsprang.

Wenn alles vorher bestimmt gewesen wäre, man hätte sorglos sein können. Wenn es ein Schicksal gegeben hätte, ein unausweichliches vorbereitetes Schicksal, dem man verfallen war, man hätte nichts tun und sprechen können als das Bestimmte und hätte es leichten Herzens getan. Aber es lag kein Schritt und kein Wort, unausweichlich und vorbereitet, für einen da. Es war nicht so, daß man nur diesen Schritt tun, nur dieses Wort sprechen konnte, und mit jedem Wort, mit jedem Schritt das Schicksal erfüllte, das diesen folgte. Man wählte den Schritt und das Wort aus vielen. Man übertrat ein hartes, unbekanntes Gesetz, das über einem war, und taumelte in sein Schicksal. Man lud Schuld auf sich, die man nie begriff oder zu spät. Eine grausame Gewalt war da. Sie hütete das Gesetz und richtete mit Strenge. Gott stand da, der Hüter des Gesetzes, wie der Lehrer in der Schule, doch umweht von erdrückendem Geheimnis. Er zeichnete ein, welchen Schritt man gewählt hatte, und er sprach das Urteil. Es wurde vollstreckt an dem Schuldigen und an denen, die er in sein Schicksal verstrickt hatte.

Daß Selma nicht begriff, ohne daß er es aussprach, daß es keinen Plan geben konnte als diesen, da jedes Wort, jeder Schritt in sich Gewalt hatte, die sich unbekannt wann und wie lösen konnte zum Guten wie Bösen: den Plan, nichts zuzulassen, als das in der Ordnung Liegende, Notwendige, Regelmäßige. Das Unerwartete, Unbeabsichtigte, so weit es ging auszuschalten, in der Schule wie zu Hause. Wenn man schwieg, nur das Vorhergesehene, das getan werden mußte, tat, beschränkte man die Gefahr. Daß man hätte den Atem anhalten können, den Lauf der Dinge nicht durch seinen Hauch zu verwirren! Schuldlos blieb nur das Atemlose. Man sollte nichts tun, gleich den atemlosen Bänken in der Klasse, den Bäumen, die die Straßen einsäumten. Aber man atmete, tat, sprach, so sehr man es durch das System beschränkte, und die mit einem verknüpft waren, taten und sprachen und es konnte sein, daß die Taten und Worte sie alle in den Strudel des Schicksals zogen. Nicht daß man sich selbst sein Schicksal bereitete, war so grauenvoll wie das Bewußtsein, das Schicksal anderer mit zu verschulden wie das Schicksal des Ungeborenen, das Selma nicht abließ mit ihren Worten, Taten und Gedanken zu berufen.

Es war dunkel geworden. Die Mutter trat ein mit einer brennenden Lampe. Josef Blau ließ die beiden Fenstervorhänge herab. Es lag kein anderes Haus gegenüber, aus dessen Fenstern man hätte in die Wohnung blicken können. Gleichwohl beunruhigten ihn die nicht verhängten Fenster bei beleuchtetem Zimmer, ihm war, als sei die Abgeschlossenheit, die Begrenztheit des Zimmers aufgehoben, als sei durch das ausströmende Licht die Wand gegen die Straße wie die vierte Wand eines Raums auf dem Theater geöffnet gegen eine unsichtbare Menge. Die Mutter hatte das Mieder abgelegt. Sie trug einen dünnen hellroten Schlafrock mit weiten, bis an die Schultern zurückgleitenden Ärmeln. Wenn sie den Arm hob, wurden die Achselhöhlen sichtbar. Die Arme waren fleischig, die Haut gelb. Um die Hüften war der Schlafrock von einem Gürtel zusammengehalten, über den das Fleisch quoll. Sie legte das Tischtuch auf. Selma kam mit dem Abendbrot. Martha war schon gegangen. Sie schlief bei ihren Eltern, die im selben Haus wohnten.

Selma hatte vom Weinen gerötete Augen. Sie nahm kaum von dem aufgetragenen Käse.

Die Mutter aß schmatzend. Nach dem Käse nahm sie einen Apfel. Er krachte und knirschte unter ihren Zähnen. Josef Blau wartete gesenkten Blicks, daß das Geräusch verstumme. Er wollte Selma bitten, daß sie keine Äpfel mehr kaufe. Er konnte das Geräusch nicht ertragen. Es trieb ihn, aufzustehen und aus dem Zimmer zu stürzen, er mußte alle Kraft anwenden, unbeweglich zu bleiben, auch nicht einen Finger zu rühren, als könnte die geringste Bewegung die anderen unaufhaltsam nach sich reißen.

Als die Mutter gegessen hatte, sagte er: »Du hast geweint, Selma.«

Selma gab keine Antwort. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie barg den Kopf in den Händen und schluchzte.

»Sie hat Angst vor den Wehen«, rief die Mutter so schallend, daß Josef Blau fürchtete, man habe es in allen Wohnungen des Hauses gehört. »Es wird gutgehen. Sie ist stark und gesund.«

Sie klopfte mit dem Fingerknöchel der geballten Linken gegen den Tisch. Sie ahnte die Gefahren, die ihre Worte beschworen, und hoffte, sie so mühelos zu bannen.

»Wenn du wüßtest, wie sie dich liebt. Der Junge soll nicht blond sein wie sie, sondern aussehen wie du! Schön bist du ja nicht. Das glaubst du doch selbst nicht.«

Selma nickte mit dem Kopf. Josef Blau verstand sie. Sie fühlte, daß er an ihr zweifelte; sie wollte, es sollte häßlich sein, ihm ähnlich, mit rotgeränderten Augen, abstehenden Ohren, platter Nase, daß der Vater es erkenne. Die Mutter nahm einen zweiten Apfel. Josef Blau erhob sich. Er entfernte sich vom Tisch gegen das Fenster. Der dunkle Lampenschirm schnitt einen hellen Kreis in den Fußboden. Die Helligkeit drang nicht bis zu Josef Blau. Die Mutter saß mit dem Rücken gegen ihn. Sie sah nicht, daß er sprach, sie würde das Gespräch nicht unterbrechen.

»Du weinst, weil du mich nicht verstehst, Selma«, sagte er leise. »Man soll nicht sprechen. Man weiß nicht, was man beruft. Man soll warten, Selma, verstehst du mich nicht?«

»Ich kann nicht warten«, sagte sie und hob den Kopf. »Ich muß davon sprechen. Wenn ich schweige, fürchte ich, daß ich darunter sterbe.«

»Schweig, schweig, Selma!« sagte er.

»Mit wem soll ich denn sprechen, wenn nicht mit dir?« sagte sie. Ihre großen Augen sahen ihn an. »Ich habe keinen anderen außer dir.«

Seine Hand griff rückwärts nach dem Fensterbrett. Der andere war schon in ihrem Gehirn. Sie wußte schon, daß sie einen anderen nicht hatte. Sie war vorbereitet, den anderen zu empfangen, der ihr begegnen würde, vielleicht ihr schon begegnet war.

»Was ist mit dem anderen?« fragte er.

»Ich habe niemand außer dir.«

»Du liebst mich nicht mehr.«

»Wen sollte ich lieben?«

»Du sagst nicht, daß du mich liebst. Nun ist es zu spät, es zu sagen.«

»Warum glaubst du mir nicht«, sagte sie und trat auf ihn zu. Die Mutter wandte sich um. Dann neigte sie sich über die Zeitung, die sie auf der Tischplatte vor sich ausgebreitet hatte.

»Warum glaubst du mir nicht? Ach, daß ich dir beweisen könnte. Aber ich kann es dir nicht beweisen.«

Josef Blau richtete sich auf. Sie stand einen Schritt von ihm. Ihr Atem streifte seine Stirn. Sein Mund hatte sich verzogen. Er sah sie an, unbeweglich, drohend, aus weit aufgerissenen Augen.

»Doch«, sagte er, »doch!«

Sie senkte den Kopf, als warte sie auf den Spruch eines Richters.

Seine Hand bewegte sich mit vorgestrecktem Zeigefinger stockend gegen ihren Kopf. Seine Lippen formten schon das Wort, das er sprechen wollte. Er sprach es nicht, die Stimme der Mutter dröhnte vorn Tisch her.

»Der alte Skopak ist gestorben!« rief sie.

Josef Blaus erhobene Hand fiel herab. Die Mutter stand auf. Der Stuhl fiel krachend hinter ihr zu Boden. Sie beugte sich über die Lampe, um den Docht zurückzuschrauben.

»Wie soll ich es beweisen?« fragte Selma.

Blau hatte den Rücken an die Wand gelehnt. Er sah Selma nicht mehr an. Sein Kopf war gegen die Brust geneigt, die Arme hingen herab. Nun reichte er ihr kaum an die Schultern.

»Trage lange Kleider«, sagte er tonlos, indes seine Linke abwinkte, wegschob. »Bis an die Erde auf der Straße, das genügt.«

»Man wird über mich lachen.«

»Gut, gut. Trage lange Kleider.«

Selma ergriff seine Hand. Ehe er es verhindern konnte, drückte sie sie gegen ihren Leib.

»Hörst du?« fragte sie.

»Siebzig Jahre ist er alt geworden«, rief die Mutter.

Er hatte Selma die Hand entwunden.

»Geh«, sagte er dumpf. »Wenn du mich liebst, so geh!«

Er betrat das Schlafzimmer gegen Mitternacht. Er hatte die Vorbereitung für die morgige Aufgabe vollendet und die sorgfältig formulierten Sätze in ein Heft mit biegsamen schwarzen Deckeln eingetragen. Sein Bett stand neben dem Selmas. Selma schlief. Josef Blau entkleidete sich leise, um sie nicht zu wecken.

Es war dunkel. Bloß von dem weißen Fensterkreuz ging ein heller Schimmer aus. Dorthin starrte er. Josef Blau lag regungslos. Er hörte Selmas regelmäßigen tiefen Atem. Sie hatte vergessen zu beten, obzwar er nichts von ihr verlangte als ihr Kindergebet, daß sie es spreche. Sie wußte nichts von dem, neben dem sie schlief. Sie wußte nicht, daß er Nacht für Nacht dalag, die Fäuste geballt, daß die Nägel in das Fleisch drangen, die Zähne krampfhaft aneinander gepreßt. Er suchte den Weg zu Gott, von ihm Aufschub, Milderung dessen zu verlangen, was er verwirkt hatte. Gott stand da, wie der Lehrer in der Schule. Er zeichnete ein, welchen Weg man gewählt hatte, und er richtete mit Strenge. Man hatte gedacht zu segnen und es waren Flüche vor ihm, man hatte gewähnt, das Leben zu wählen, und es war der Tod vor dem Richter. Es gab keinen körperlichen Weg dahin. Er war unsichtbar, der urteilte, aber man mußte vor ihn gelangen, ihn um Gnade zu bestürmen. Es mußte durch die Gewalt des Gedankens geschehen, durch härteste Spannung, durch übermenschliche Konzentration. Man mußte wühlen im Vorrat des Gehirns, Anrufungen Gottes zu erfinden, zum erstenmal seit Anbeginn erfundene, unabweisliche Anrufungen. Man mußte den Körper überwinden. Es war gut, ihn durch schmerzhafte Lagen zu unterdrücken, ihn krampfhaft zu spannen, zu schmerzvoller Unbeweglichkeit zu zwingen, den Gedanken hart zu machen wie ein stählernes Geschoß.

Er tastete im Dunkeln nach Selma.

»Hast du gebetet?« fragte er.

Sie fuhr aus dem Schlaf.

»Ich habe daran gedacht«, sagte sie, »ich bin darüber eingeschlafen.«

»Bete!« sagte er.

»Betest du auch?« fragte sie.

Wenn er es ihr sagte, würde sie nicht lachen, daß er sich fürchte wie ein Kind? Er war ein Mann, er fürchtete nichts, nicht Gott, nicht die Knaben, niemanden. Wenn er wollte, konnte er nicht die Matrosenbeine an die Stühle binden und die Zucht verewigen?

»Dein Gebet ist gut«, sagte er. »Gott würde über mich lachen!« Und er lachte selbst laut und flackernd wie ein Irrer.

»O Gott«, sagte Selma, »wie du lachst! Man fürchtet sich, wenn man dich hört.«

Sie hält mich für verrückt, dachte er. Warum habe ich Gott herausgefordert? Ich habe mich in den Abgrund gestürzt. Warum habe ich mich geschämt, ihr alles zu sagen?

Josef Blau schlief noch nicht, als das Fensterkreuz im matten Schein mit dem Fenster verschwamm. Er sah die Umrisse des Gebäudes, das auf der anderen Seite des Hofs lag, sich scharf gegen den grauen Himmel abzeichnen. Er hörte die ersten Geräusche des erwachenden Hauses. Die Mauern waren dünn. Ein Schritt kam die Treppe herauf, eine Tür wurde geöffnet. Es war der Oberkellner, der im zweiten Stock wohnte. Fuhrwerke fuhren durch die Straße der Stadt zu. Jemand hustete keuchend, als sollte er ersticken. Es war der alte Hämisch, der immer vor der Tür saß, wenn Josef Blau aus der Schule kam. Ein Leitungshahn wurde aufgedreht. Das Wasser rauschte, es war, als rauschten die Wände des Zimmers. Josef Blau schien es, als nähme das Rauschen kein Ende. Vielleicht hat ein anderer Hahn den ersten abgelöst, dachte er. Hähne sind die ersten, die erwachen. Er wollte zählen, wie lange es rauschen würde, aber er hielt ein, denn er sah sich umringt von den Knaben, die die Matrosenanzüge trugen. Die Knaben umringten ihn von allen Seiten. Sie lachten. Er stand vor seinem Platz in der Bank, seine Mitschüler aber hatten ihre Plätze verlassen. Er hoffte, daß der Lehrer bald kommen würde, dann würden sie weichen und sich gleich ihm auf ihre Plätze setzen. Sie lachten und sahen ihn an. Er selbst sah an sich herunter und erblickte erschrocken, daß er keinen Matrosenanzug trug wie die anderen Knaben, sondern eine beschämende Weste und lange Hosen und eine dicke, vergoldete Kette um den Bauch, die ihm der Vater geschenkt hatte. Er war der einzige Knabe in der Klasse, der eine Weste trug. Er wollte fliehen, sich verbergen. Aber er konnte nicht. Denn der Richter war eingetreten und nun stand Josef Blau vor dem Gericht. Das Zimmer war wie zu Hause das Zimmer des Bezirksgerichts, an dem sein Vater Diener gewesen war. Hinter dem langen Tisch mit dem Kruzifix stand Gott. Oh, Josef Blau erkannte ihn klar und deutlich. Er hatte den Zeigefinger erhoben, es war, als drohte er ihm. Josef Blau sagte sich eindringlich, daß er wisse, wer dieser war mit dem erhobenen Zeigefinger, daß dieser Gott nicht sein konnte mit dem zerkauten nassen Zigarrenstummel zwischen den gelben Zähnen. Daß er der Bezirksrichter Wünsche war vom Bezirksgericht, den er nicht mehr zu fürchten brauchte, denn er war nicht mehr der Sohn des Gerichtsdieners, den der Bezirksrichter um sein Brot bringen konnte, und was war ein Bezirksrichter hier, wo es Statthaltereiräte gab, Oberlandesgerichtsräte, Präsidenten, den Statthalter! Es war sein, des Bezirksrichters hageres bartloses Gesicht mit den tiefen Falten in den Wangen, die wie aus Wachs waren, den hellen, kaum sichtbaren Brauen über den farblosen Augen, die unbeweglich an einer Stelle hafteten, als seien sie nicht für sich beweglich, sondern bloß mit dem ganzen Kopf, der langen Nase, dem aschblonden, kurzgeschorenen, aufwärts gebürsteten Haar. Es war der Bezirksrichter Wünsche, aber doch nicht der Bezirksrichter, er war weit mächtiger als dieser. Nun stand Josef Blau vor dem Tisch. Neben ihm standen die Knaben. Er erkannte den blonden Schüler Laub neben sich. Alle legten die Hände auf den Tisch. Der Schüler Laub die weißen mit den schmalen Nägeln, an denen man die bleichen Halbmonde sah, Josef Blau seine Hände, die aussahen wie Plattfüße, rot wie nach einem Schwitzbad, entstellt an den Fingern von Frostbeulen und Hühneraugen. Karpel und Selma standen an der anderen Seite des Tischs. Karpel wies auf die Hände, die unbeweglich auf dem Tisch lagen, Selma sah sie an und lachte und wandte sich von Josef Blaus Händen ab und den Händen der Knaben zu. Im Saal war ein Rauschen wie von Flügeln, ein Flattern von Tauben, aber es waren die Knaben, die die Hände schwenkten. Niemand blieb bei Josef Blau als Modlizki, Modlizki nahm Josef Blaus Hände vom Tisch und verbarg sie in Josef Blaus Taschen. Sie verließen das Gericht und Modlizki lachte, als sei ihm eine große Freude widerfahren. Sie kamen an einen Bretterzaun, es war der Zaun des gräflichen Gartens zu Hause. Auf jedes Brett waren mit Kreide schamlose Figuren gezeichnet. Selma stand mit Karpel vor dem Zaun und sah die Figuren an. Sie näherten sich jeder auf wenige Schritte und traten wieder zurück, wie man tut, wenn man wohlgefällig ein Bild betrachtet. Josef Blau wollte hineilen. Doch Modlizki hielt ihn. Er lachte noch immer. Etwas schien ihn zu freuen. Josef Blau fragte ihn nicht, er wollte gar nichts wissen.


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