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Deutsche Hiebe

Eines der gewaltigsten Bauwerke der Welt ist die chinesische Mauer, die über tausend Kilometer lang sich über Berg und Tal hinzieht, Zeugnis gebend von der Macht und Energie früherer Herrscher und dem Fleiße des Chinesenvolkes.

Weit nach Norden hin waren unsre Freunde getrieben worden, ihren Weg zwischen Soldatenhaufen, friedlich gesinnten Einwohnern und Räuberbanden suchend, weiter als sie beabsichtigten, und die große Mauer lag vor ihnen.

Wenig hatten sie auf ihrem Wege, der mit großer Vorsicht genommen werden mußte, über die Kriegsbegebenheiten gehört, doch überall war das Land beunruhigt.

Sie ritten durch eine rauhe felsige Gegend, deren Wege durch andauernden Regen überaus schwierig geworden waren. Es war ihnen in ihrem letzten Nachtquartier die Nachricht geworden, daß starke Soldatenhaufen in der Nähe ständen, und so setzten sie ihren Weg unter der Führung zweier Eingeborenen, die Fung-tu angeworben hatte, mit größter Vorsicht fort.

An einer Wegbiegung erblickten sie lagernde chinesische Truppen vor sich und entzogen sich deren Blicken nur dadurch, daß sie rasch in ein Seitental einbogen, um dort einen Ausweg zu suchen.

Zu ihrem Schreck aber mußten sie erfahren, daß die Höhen ringsum von chinesischen Soldaten besetzt waren.

Ein Gebüsch entzog die Reisenden notdürftig deren Blicken.

Fernher tönte Gewehrfeuer – dem sich der Knall von Gebirgsgeschützen zugesellte.

Es war klar, sie waren zwischen fechtende Truppen geraten.

Aber die Angreifer oder Angegriffenen – wer konnte es entscheiden? – mußten Europäer sein. Das Gefecht kam näher; jetzt wußten sie, es waren Europäer, die angriffen, und freudig pochte das Herz der Deutschen, und innig wünschten sie ihnen den Sieg.

Jetzt begannen die Chinesen auf den Anhöhen ringsum zu feuern.

Aber ununterbrochen und sich immer mehr verstärkend knatterten auch die Gewehre von unten und mit guter Wirkung, wie stürzende Chinesen zeigten.

In hoher Aufregung lauschten alle dem kriegerischen Lärm, harrten alle auf den Ausgang des Gefechtes.

Da, gleich einem elektrischen Schlage ging es durch die drei Deutschen – Trommelschlag – der deutschen Trommel furchtbar aufregender eintöniger Schlag, der die Truppen beim Sturm begleitet. Welches deutsche Kind kennt diesen Ton nicht?

»Deutsche –« sagte Gerhardt mit leuchtenden Augen »– sie rücken an!«

Die Chinesen feuerten wie Rasende – aber das Trommeln dauerte fort – und jetzt – Hurra! Der letzte Angriff – die Trommeln wirbeln.

Das deutsche Hurra! erschütterte die Luft, hallte an der chinesischen Mauer wider.

Die Deutschen stürmten mit dem aufgepflanzten Seitengewehr – todesmutig – vor, dem Angriff widersteht kein Chinese – sie weichen, reißen aus in Todesangst – ihre Zöpfe fliegen um die Schultern – da – auf den Höhen erscheinen die ersten der Deutschen – die Anhöhen sind genommen – der übermächtige Feind geschlagen.

siehe Bildunterschrift

Ein buntes kriegerisches Bild entwickelte sich.

Marinetruppen und Infanterie kamen über die Höhe heran, ein Vizefeldwebel mit seiner Mannschaft dringt das Tal herab – sie kommen näher – Gerhardt, der wie seine Freunde noch chinesisches Kleid trägt – fürchtet, daß sie in der Aufregung des Kampfes von den eigenen Truppen Feuer bekommen könnten. »Schreit alle, was ihr könnt, Hurra!« ruft er.

»Hurra! Hurra!« rufen alle aus Leibeskräften.

Der Vizefeldwebel biegt die Büsche auseinander, aus denen das Hurra! hervordringt: »Wat 's denn dat hier?«

Er sieht Chinesen vor sich.

»Na nu – det is 'ne merkwürdige Chose.«

»Ran hier oder ick jebe Feuer!«

»Nein, nein,« ruft Gerhardt, »wir sind Freunde, gute Deutsche – schießt nicht!«

Gleich darauf sind sie zwischen den Truppen, die sie erstaunt anschauen.

»Ne,« ruft ein Marinesoldat, »det is ja der Steuermann aus de Gesandtschaft un der starke Mann mit det Pulverfaß; ne, wat ick mir freue, det sie Ihnen nich massakriert haben.«

»Vorwärts, Leute!« ruft der Vizefeldwebel, »wir müssen vor; Sie, Knutschke,« das war der Marinesoldat, »können die Leute zurückführen, daß sie nicht aus Versehen niedergeschossen werden.«

Fort stürmte der Feldwebel mit seinen Leuten, den weichenden Chinesen nach.

»Kommen Sie man,« sagte Knutschke, »ick bringe Ihnen hinter de Linie.«

Die Flüchtlinge ließen ihre Pferde zurück und gingen durch das Felstal nach oben. Von dort sahen sie eilig flüchtende Chinesen, hinter denen die Deutschen hersetzten. Auf der andern Seite standen noch Reserven, die langsam nachrückten. Zu ihrer Rechten wurden einige Berggeschütze mit vieler Mühe von Mannschaften einen steilen Berg hinaufgezogen.

Ein buntes kriegerisches, ein stolzes Bild, deutsche Soldaten an der alten Chinesenmauer mit einem an Zahl weit überlegenen Feind siegreich ringen zu sehen.

Knutschke stellte Gerhardt einem Hauptmann vor und ging dann zurück zu seinem Truppenteil.

Doch der Kampf war bereits entschieden, die Chinesen rannten in toller Flucht davon; das Ersteigen der von ihnen besetzt gehaltenen Felskuppen hatten sie einfach für unmöglich gehalten.

Die Flüchtlinge wurden von den Soldaten freundlich aufgenommen, besonders Jan, dessen Heldentaten durch Knutschkes Erzählungen unter ihnen bekannt waren, wie sein gesunder Appetit. Man speiste sie und holte ihre Pferde aus der Schlucht.

Hier erfuhren sie, die so lange abgeschlossen von der Welt im Innern des Riesenreiches umhergeirrt waren, daß zwanzigtausend Mann deutscher Truppen von Tientsin bis Peking standen, daß Graf Waldersee in Peking kommandiere und in der Purpurstadt wohne, und daß diese Expedition ausgesandt war, chinesische Truppen, die sich angesammelt hatten, zu zerstreuen.

Am Abend wurden sie zu dem Befehlshaber entboten, dem Erich Gerhardt einen kurzen Abriß seiner Erlebnisse im Lande gab. Der Kommandant hieß sie als Landsleute willkommen und sagte ihnen seinen Schutz zu. Ein besonderes Interesse zeigte er für den aus der chinesischen Gefangenschaft geretteten Wilhelm Stromberg.

»Du kannst Dolmetscher bei uns werden, kleiner Mann.«

»Ja, Herr, gerne, aber erst muß ich zu Mutter, dann komme ich mit ihr wieder.«

»Recht, mein Junge.«

Wilhelm war über die Soldaten außer sich vor Freude, ist doch jedem deutschen Kinde die Liebe zum Soldatenstande von Jugend auf eigen.

Am Abend saßen sie mit Knutschke und anderen um ein Wachtfeuer, und nun erzählte der Treuenbrietzener: »Sie haben uns aufrichtig leid getan, Herr Gerhardt, Sie und Jan mit dem guten Appetit, als die Jelben Ihnen wegschleppten. Aber wir hatten nich viel Zeit dazu, denn det fing immer wieder von vornen an mit det Jeschieße. Uff eemal hatten wir Frieden beinah drei Wochen lang, und wir mußten bei die Chinesen ooch mächtige Freunde haben, denn et jing uns Reis un Fleesch un andre jute Dinge zu. Uff eemal aber jing et wieder los, toller als vorher, jeden Tag, mit Kanonen und Gewehr. Aber wir hielten feste. Wir waren schon am Rande, als wir uff eemal draußen de Kanonen donnern hören – un wie nu de Amerikaner un de kleenen jelben Japaner kamen, un dann unsre Jungens – ne – ick sage Ihnen, die Freude – det begreift nur eener, der mit dabei jewesen is, det war Rettung in der Not.«

»Ja, der Kampf der Gesandtschaften gehört zu den größten Waffentaten der Weltgeschichte.«

»Und wie nu erst der Feldmarschall kam mit de Kakisoldaten, un sich in det Kaiserpalais inquartierte, alle Chinesen waren ausjerissen, als es Ernst wurde – ick sage Ihnen, Herr Gerhardt, da wurde unsereenem janz stolz zu Mute, det wir doch nu Deutsche sin, un mitten China mang.«

Erich Gerhardt berichtete nun auch von seinen Fahrten, die von allen aufrichtig bestaunt wurden, und auch hier am Wachtfeuer erregten Wilhelms Schicksale große Teilnahme.

»Da haben Sie aber wat durchjemacht, Herr Steuermann.«

»Ja, es ist für längere Zeit genug.«

Unter anregenden Mitteilungen verlief die Zeit, bis sie endlich Ruhe suchten. Gerhardt benützte die nächsten Tage, um sich mit Arnold und Wilhelm die große Mauer anzusehen, wie das mit fabelhafter Pracht ausgestattete kaiserliche Lustschloß Jeho, um dann unter dem Schutz der Truppen den Rückweg nach Peking anzutreten, das sie wohlbehalten erreichten.

Fung-tu fand seine Kinder wohl und bemächtigte sich rasch seines konfiszierten Hauses wieder, in dem die Deutschen seine Gäste waren. Was noch von den Verteidigern der deutschen Gesandtschaft übrig war, freute sich außerordentlich, Gerhardt und Jan wiederzusehen, und alle bemühten sich, Jans Appetit entgegenzukommen, was diesen in rosige Stimmung versetzte.

Gerhardt und Arnold schrieben an die Mutter, schilderten auch das Auffinden des kleinen Stromberg. Auch vergaß Gerhardt nicht, Herrn Hellmuth zu benachrichtigen; Arnold gab dem Mutterhause in Schanghai einen ausführlichen Bericht über das Schicksal der Mission und deren Pfarrkinder.

Alle hatten alsbald wieder europäische Tracht angelegt und auch für Wilhelm Kleider beschafft. Unter friedlicheren Umständen besuchten sie jetzt die Purpurstadt, ihr Gefängnis im Palaste Tuans, den Kohlenhügel mit der verhängnisvollen Weide und den Tempel der Erkenntnis, der sie vor Gefahren geschützt hatte.

Jetzt standen deutsche Soldaten vor den Hauptgebäuden, und die deutsche Flagge wehte von dem Palaste, in dem der Feldmarschall residierte. Endlich bot sich Gelegenheit zur Reise nach Tientsin. Fung-tu, der die Freunde mit der Gastfreundschaft des vornehmen Mannes bewirtet hatte, unterstützte sie reichlich mit Geldmitteln, und sie schieden von ihm mit aufrichtigem Danke. »Grüßen Sie den Freund, Herr Fung-tu,« sagte Gerhardt noch, »dem wir so viel verdanken, und wiederholen Sie ihm, daß wir seiner stets in treuer Liebe gedenken werden.«

»Tun Sie es, er ist die Hoffnung Chinas.«

In Tientsin empfing sie Herr Hellmuth mit offenen Armen, ebenso die gesamte deutsche Kolonie und besonders Herr Lange. Der »Wittekind« war schon lange fort. Hier erfuhr Gerhardt auch, daß man den spitzbübischen Bankier richtig erwischt habe, der sich unkenntlich und unter fremden Namen schon seit zwei Jahren als Bediensteter eines schwedischen Hauses in Tientsin herumtrieb.

Von Schanghai war an Arnold die Nachricht gelangt, daß die Missionstätigkeit im Innern Chinas für längere Zeit eingestellt werden müsse, und es ihm frei stehe, Deutschland zu besuchen, wenn er nicht in Schanghai bleiben wolle. Da beschlossen die Brüder, gemeinsam zur Mutter zurückzukehren, und waren bald darauf mit Jan und Wilhelm auf dem Meere, um die Heimat aufzusuchen.

*

In dem kleinen Hause in Charlottenburg war die Freude eingekehrt; die Söhne weilten bei der geliebten Mutter, die ihr ganzes Glück in ihren Kindern sah. Auch Wilhelm war in dem Hause in Charlottenburg. Man hatte dem Knaben doch schließlich andeuten müssen, wie leidend seine Mutter sei.

Auf den Rat des Arztes hatte man für den Knaben einen gleichen Anzug beschafft, wie er ihn zur Zeit seiner Abreise trug.

Heute saßen Frau Gerhardt und Frau Stromberg plaudernd im Parterrezimmer des Hauses. Seit die Frau Professor die Nachricht empfangen hatte, daß Wilhelm gefunden sei, hatte sie die Jugendbekannte oft zu sich geladen.

Die Arme harrte mit unerschütterlicher Zuversicht auf die Rückkehr des Gatten und des Kindes, ihres süßen Willi, und ging noch wöchentlich zur chinesischen Gesandtschaft, um sich nach diesen zu erkundigen. Man hatte Wilhelm vorbereitet und abgemacht, er solle wie absichtslos das Zimmer betreten, damit man prüfe, ob die Mutter den so lange von ihr getrennten und herangewachsenen Sohn wieder erkennen werde.

Mit klopfendem Herzen, zagend und doch wieder hoffend, stand der Knabe vor der Tür, endlich trat er langsam ein – doch als er die liebe Mutter, nach der er sich in bitterer Gefangenschaft so heiß gesehnt hatte, bleich und abgehärmt vor sich sah – vergaß er alle Vorsicht – ein Tränenstrom entstürzte seinen Augen und mit einem geschluchzten »Mutter, liebe Mutter!« stürzte er auf sie zu und begrub sein Antlitz in ihrem Schoß. Frau Stromberg saß starr mit weitgeöffneten Augen da – dann bewegte es sich in ihren Zügen, sie hob das tränenüberströmte Antlitz des Knaben auf – schaute in das Gesicht, das noch fast das des Kindes war, das sie verlassen, und sagte: »Willi, süßer Willi, bist du endlich da?«

»Ja, ja,« schluchzte der Knabe.

»Und der Papa?«

»Ach, Mutter, Papa – Papa – ist beim lieben Gott –«

Sie sank ohnmächtig zurück.

Ängstlich waren Frau Gerhardt und Wilhelm um sie beschäftigt, die Brüder traten herein; schon wollte man nach einem Arzte schicken, als sie die Augen wieder aufschlug, mit heißer Inbrunst den Knaben umarmte und dann in einen lindernden Tränenstrom ausbrach. Kein Auge blieb in dem kleinen Zimmer trocken.

Endlich sagte sie: »Ich habe lange, lange geträumt. O süßer, süßer Willi, so hat Gott doch dich mir wieder gegeben. Ich ahnte es ja, ich fühlte es ja – mein Gatte, mein armer Gatte!« – Nach einer Weile fuhr sie fort: »Nein, ich will nicht murren, Gott ist gnädig, ich habe mein Kind wieder. O Willi, wie du groß und stark geworden bist, o geh nie wieder von deiner armen Mama fort!«

»Nein, nein, nein!«

Das Licht der Vernunft kehrte in die durch Kummer umnachtet gewesene Seele zurück; die Freude hatte die Mutter gesund gemacht. – Wie glücklich waren alle!

Mit inniger Dankbarkeit aber gedenken die Brüder ihres Schutzgeistes im fernen China, der sie aus so schweren Gefahren gerettet, doch auch heute nennen sie nur ganz leise seinen Namen, den Namen, den die Brüder des »Großen Friedens« so sehr verehren.

*


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