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Der Geist des Mingkaisers

Die beiden Gefangenen blieben allein im Dunkeln, denn es war längst Nacht geworden.

Jans Laune war viel durch das Abendbrot verbessert worden, und er sah die Dinge wieder in hoffnungsvollerem Lichte an.

Gerhardt aber dachte über die seltene Schicksalsfügung nach, die ihm hier in Peking, innerhalb der kaiserlichen Stadt einen Freund zuführte, den er sich durch eine höchst einfache Höflichkeit in Berlin erworben hatte. Wie wunderbar hingen oft die Dinge im Menschenleben zusammen.

Auch er war hoffnungsfreudiger.

»Dat is 'n sehr netten Mann, die eene Chines', die ook Deutsch sprekt, Stürmann.«

»Ja.«

»Sei kennet em von früher?«

»Ja, von Berlin, wo er bei der Gesandtschaft war, aber das darf niemand wissen.«

»Ick segg nix! Wenn hei uns nur ut den ollen Kasten hier helpt, ick möt binah ersticken.«

Auch Gerhardt, der gleich dem Koch an die reine Luft des Meeres gewöhnt war, war in dem engen schwülen Raum unbehaglich zu Mute, aber er faßte sich in Geduld.

Jan, der gut gegessen hatte, streckte sich auf der Bank aus und war bald fest eingeschlafen.

Gerhardt aber, der keine Müdigkeit fühlte, saß aufrecht und lauschte auf jedes Geräusch von außen; er zweifelte nicht, daß Kau-ti ihm Hilfe zu bringen versuchen würde.

Aber wie? Er hatte die verbotene Stadt passiert und ihre Mauern gesehen, er war in die Purpurstadt eingetreten, die noch höher und fester umwallt war als die Tatarenstadt, dazu angefüllt mit Truppen und Dienern, welche Macht sollte ihn aus diesem Gefängnisse befreien?

War der junge Chinese so einflußreich? Er mußte eine hohe Stellung einnehmen, das war zweifellos. Also der finstere Mongole war der kaiserliche Prinz Tuan, der die Fremden mit seinem nachdrücklichsten Hasse beehrte? Und Kau-ti schien sein Vertrauter zu sein? Seltsam.

Er zweifelte nicht, daß er sich im Palaste des Prinzen Tuan und in dessen besonderer Verwahrung befinde, die wehrlose Maus in der Klaue des Tigers.

Aber es mußte Mittel geben, diese Klaue abzustumpfen, sonst hätte Kau-ti, der ihn ja nur einfach als Fremden behandeln konnte, mit dem er einmal flüchtig in Berührung gekommen war, ihm nicht Aussicht auf Rettung gemacht.

Also galt es geduldig zu warten.

In der Unruhe seines Herzens beneidete er Jan um seinen gesunden Schlaf, und dessen kräftiges Schnarchen war ihm in dieser Stimmung Trost.

Er vernahm Schritte draußen, die Tür wurde geöffnet, die Wärter traten ein, Laternen in der Hand, und sahen nach den Gefangenen, sie stellten einen Krug Wasser hin und entfernten sich wieder. Durch die geöffnete Tür hatte Gerhardt Soldaten mit Musketen bemerkt. Man wollte sie also die Nacht hindurch scharf bewachen. Unnötig, an einen Fluchtversuch war nicht zu denken.

Die Aufregung verscheuchte alle Müdigkeit und er saß, lauschte und wälzte immerfort dieselben Gedanken durch den Kopf.

Er ging zur Tür. Durch die Ritzen erkannte er, daß der Gang, an dem das Gefängnis lag, erhellt war, auch glaubte er das Atmen Schlafender zu vernehmen. Wenn dies von den Soldaten stammte, und er vernahm nichts weiter, was auf die Anwesenheit von Menschen draußen deutete, so mußten sie es mit ihrer Wache nicht sehr genau nehmen.

Während er noch stand und lauschte, vernahm sein feines Ohr einen leichten Schritt, der langsam näher kam. War es ein hin und her gehender Posten? Der Schritt hielt vor der Tür an. Gerhardt trat zurück.

Geräuschlos öffnete sich die Tür und im trüben Scheine, den die Papierlaternen draußen verbreiteten, stand – nur mit Mühe unterdrückte Gerhardt einen Schrei – eine furchtbare, Schrecken einflößende Gestalt vor ihm. Er sah, in lange weiße Gewänder eingehüllt, ein Wesen vor sich, mit einem riesigen seltsamen Kopfe, der karikierten Nachahmung eines Chinesengesichts, dessen Augen und Mund, geöffnet, dunkle Höhlen vorstellten.

Gerhardt war starr.

Die Gestalt trat ein, winkte mit der Hand, Schweigen gebietend, und dann erhob sich die Hand, nahm den kunstvoll gearbeiteten Kopf ab und darunter erschien – Kau-tis lächelndes Gesicht.

Leise sagte er: »Wir sind genötigt, zu absonderlichen Mitteln zu greifen, ich gehe umher als der Geist eines längst Verstorbenen, um euch zu befreien.« Der staunende Gerhardt vermochte nur zu murmeln: »Und die Soldaten?«

»Sie schlafen. Wecken Sie Ihren Gefährten und folgt mir.« Gerhardt trat zu dem schlafenden Jan und rüttelte ihn, dazu ihm ins Ohr flüsternd: »Alle Mann an Deck.«

Der befahrene Matrose schüttelte alsbald bei diesen Worten den Schlaf von sich und sprang empor, scheu um sich blickend.

siehe Bildunterschrift

Gerhardt sah einen Mann mit seltsam maskiertem Kopfe vor sich.

»Keinen Laut, Jan, es geht ums Leben.«

»Ick bin still, Stürmann. Wat nu?«

»Ich führe euch nur zu einem Versteck, meine Freunde, die Gärten sind mit Bewaffneten gefüllt und deren Pfeile tragen weit. Sie können die kaiserliche Stadt erst in nächster Nacht verlassen, dann wird kein Soldat am Wege sein. Ich hatte Angst, der Tiger könnte morgen früh Lust verspüren, euch töten zu lassen, oder mindestens zu foltern, darum hole ich euch jetzt.«

»Sie scheinen sehr mächtig zu sein, Herr Kau-ti.«

Lächelnd erwiderte der junge Chinese: »Ich habe Freunde hier, die mir beistehen.«

Er winkte und trat in den Gang, Gerhardt und Jan folgten.

Sechs Soldaten lagen schlafend ringsum; der Schlaf konnte kein natürlicher sein. Teegefäße deuteten an, daß sie ihre Abendmahlzeit genommen hatten.

»Ohne Sorge,« sagte Kau-ti, »sie schlafen sanft und werden erst spät am Tage erwachen.«

Er schritt zwischen ihnen hindurch, die Gefangenen gingen hinter ihm her. Einen dunklen Gang entlang führte ihr Weg, dann öffnete der Chinese eine kleine Tür und lauschte hinaus.

Totenstill war alles.

»Folgt mir schweigend in einigen Schritten Entfernung und in gebückter Haltung. Kommt uns irgend jemand in den Weg, werft euch zur Erde nieder.«

Er setzte den aus Papiermasse kunstvoll gearbeiteten Kopf auf und trat vorsichtig in die Nacht hinaus. Gespenstisch hob sich die hohe, weißgekleidete Gestalt von der dunklen Baumgruppe gegenüber ab.

»Komm, Jan, und tritt uns jemand in den Weg, faß zu mit aller Kraft, hörst du?«

»Woll, Herr.«

»Aber vermeide Geräusch.«

»Wenn der, den ick grip, noch een Wort seggt, will ick keen Schipp wedder siehn.«

Sie traten hinaus in die wundervolle mit Blütenduft geschwängerte Nachtluft, der Wind rauschte leise in den Bäumen, sonst war alles still. Vor ihnen her schritt unhörbar die gespenstige Gestalt, deren weite Gewänder im Luftzuge wehten, gebückt schlichen Gerhardt und Jan hinterher, zwischen Büschen und niedrigen Bäumen hindurch.

Alles war leblos ringsum.

Sie erreichten einen mit duftenden Lotosblumen überdeckten See und schritten daran hin bis zu einem umfangreichen Hügel.

Vor einem verdorrten, aber noch aufrecht stehenden Weidenbaum blieb Kau-ti stehen. Durch die Mundöffnung der Maske drang seine Stimme leise aber vernehmlich zu den beiden Deutschen.

»Ihr steht an heiliger Stätte, ihr Söhne des fernen Westens. An diesem Baume endete nach langem, heldenhaften, aber unglücklichen Kampfe Tsung-cheng, der letzte Kaiser der glorreichen Dynastie Ming, die China so manchen weisen und kraftvollen Herrscher gegeben, hier endete das Leben eines großen Fürsten, hier starb der Kaiser, hier an dieser Weide. Weib und Kinder hatte er mit eigener Hand vom Leben befreit, um sie nicht in die Hände der räuberischen Mandschu fallen zu lassen, die ihn vom Drachenthrone stürzten. Den Seinen folgte er und mit ihm alle seine Treuen.

Aber Millionen beten noch täglich für seine Seele, daß sie Ruhe und Friede genieße im Jenseits, und auch ich bete täglich für seine Ruhe. Auch ihr dürft die Fürbitte für ihn erheben, denn sein Schatten ist es, der euch Rettung bringt.«

Die tiefe Stille, der verdorrte Baum an dem Hügel, von dem lange Ketten herabhingen, die feierliche Weise, in der der Chinese sprach, dies alles verbunden mit der Gefährlichkeit ihrer Lage, dazu die gespenstische Maske, aus deren weiter Mundöffnung dumpf die Stimme des Redenden klang, dies alles übte eine erschütternde Wirkung auf die Hörer, selbst auf Jan, dem es mehrmals eiskalt über den Rücken lief.

Kau-ti schwieg, nur der Wind rauschte in den Bäumen.

»Horch!« flüsterte Gerhardt.

Ein fester Tritt ließ sich hören, ein Zeichen, daß Soldaten kamen.

»Legt euch nieder.«

Gerhardt und Jan verschwanden im Grase.

Hochaufgerichtet stand die weiße gespenstische Gestalt an der dürren Weide. Das massige Haupt, die flatternden Gewänder verliehen ihr etwas Riesenhaftes.

Der Schritt kam näher. Laternenschein fiel auf die unheimliche Gestalt an der Weide. Plötzlich verstummte der Schritt – ein Schrei furchtbaren Entsetzens durchdrang die Nacht – dann hörte man ein eiliges sinnloses Davonlaufen einer Zahl von Menschen.

Wiederum herrschte tiefe Stille.

»Es ist der Geist Tsung-chengs, der sie jagt.«

Die dumpfe Trommel kündete von dem Tempel des Konfutse herab Mitternacht.

Nach einiger Zeit, während sie schweigend harrten, sagte Kau-ti wieder: »Kommt – jetzt wird niemand mehr im Parke weilen.« – Er verließ den Weidenbaum und ging die verschlungenen Wege entlang, die bald von riesenhaften Bäumen überschattet, bald von wunderlich gezogenen und gebogenen niedrigen baumartigen Gewächsen umsäumt waren, bald durch Blumenbeete führten, die die seltensten Blüten Chinas trugen.

Kein lebendes Wesen begegnete ihnen.

Zwischen uralten Platanen hervortretend sahen sie ein wenig umfangreiches, tempelartiges Gebäude vor sich, dessen Ecke ein hochragender Turm entstieg. Diese Pagode lag im Schatten der Bäume, deren Kronen aber von dem Turm weit überragt wurden, in tiefer Einsamkeit da.

Ringsum führten Stufen zu ihm hinauf.

Leise sagte Kau-ti: »Es ist der Tempel der Erkenntnis, den die Vorfahren Tsung-chengs erbauten. Nur einmal im Jahre wird er geöffnet, damit der Kaiser sein Gebet darin verrichte, nur einmal im Jahre tönt seine riesige Glocke über die Purpurstadt hin; er ist ein Gegenstand scheuer Verehrung. Hier sollt ihr harren bis zu nächster Nacht, ihr seid hier sicher.«

Er stieg die Stufen hinan und öffnete oben eine kleine Tür. Gerhardt und Jan schlichen nach und folgten ihm in das Gebäude.

Kau-ti zündete Licht an.

Sie befanden sich in einem hohen Raum, der gespenstisch mit Abbildern von Menschen und Tiergestalten geschmückt und gefüllt schien, soweit das Licht zu sehen erlaubte. Vor ihnen standen zwei riesige Elefanten aus Bronze.

»Sie sind hohl,« sagte Kau-ti und öffnete einen der Kolosse, der in der Bauchwand eine nur bei genauer Besichtigung bemerkbare Tür hatte. »Zwar wird niemand am Tage hierherkommen, doch könnte ein ungläubiger Priester, der die Heiligkeit dieses Ortes nicht respektiert, es bei Nacht wagen, darum zieht euch im Notfall hier hinein zurück, die Tür ist von innen zu verschließen. Speise und Trank findet ihr dort,« er deutete auf einen nahen Verschlag. »Nun will ich die Purpurstadt noch mehr erschrecken.«

Er trat zu einem am Altar herabhängenden bunten Tau, zog es kräftig an und dumpf hallte von oben dreimal ein mächtiger, seltsam vibrierender, metallischer Ton.

»Nun faßt euch in Geduld. Morgen um Mitternacht bin ich hier, euch zu holen.«

Er blies das Licht aus und ging hinaus, die beiden Deutschen in Finsternis, umgeben von Götzenbildern, zurücklassend.

Kaum war er verschwunden, als ein furchtbares Gewitter losbrach, dessen Donner unter dem Dache der Pagode widerhallten, dessen Blitze den Raum mit seinen seltsamen Gestalten vorübergehend erleuchteten.

Doch rasch wie es gekommen, ging es vorüber.

Jan hatte während des Aufruhrs der Elemente von oben bis unten gebebt und auch jetzt war ihm sehr unheimlich zu Mute in der so fremdartigen Umgebung

»Stürmann, verlaten Sei mi man nich,« bat er in kläglichem Tone.

»Gewiß nicht, Jan.«

»Der chinesche Herr mag jo woll een ganz gauden Kirl sin, aber et is doch 'n slimme Sak mit die gelen Heiden; wenn wi man nur nich abmurkst weern.«

»Um uns davor zu bewahren, hat uns Herr Kau-ti ja hierher geführt.«

»Ick wulld, ick wer man all weg von hier.«

»Diesen Wunsch teile ich durchaus.«

»In dat grote Elefantenbeest ga ick nich in, dar is keen Luft in.«

»Wir werden wohl müssen, Jan, und Raum zum Atmen wird auch wohl vorhanden sein.«

Nach einem längeren Schweigen fragte Jan, und seine Stimme bebte: »Gläuwen Se an Geisters, Stürmann?«

»Nein, Jan, oder wenigstens nur an gute Geister.«

»Dat is hier so 'n oll Geisternest, Stürmann.«

»Ich fürchte nur lebendige Erscheinungen.«

»Mit die werd ick all fartig, blot mit die Geisters is dat man gruslick.«

Nach einer Weile äußerte Jan wieder: »Der chinesche Herr hat wat seggt von 'n beeten tau eeten hier –«

Gerhardt lachte.

»Ja, da in dem Verschlage zur rechten Hand, taste dich nur hin, sollen Nahrungsmittel für uns sein.«

Jan tastete vorsichtig umher, erreichte den Verschlag und fühlte dort einen Korb, dem ein einladender Duft entquoll. Er öffnete den Deckel und seine Hand berührte ein gebratenes Huhn. Das machte dem guten Hamburger viel Vergnügen, und augenblicklich beschäftigte er sich mit dem Braten in sehr eingehender Weise.

Gerhardt ließ ihn essen. Seine Gedanken weilten bei ihrem Retter Kau-ti. Welch ein seltsamer Mensch! Der Vertraute des Prinzen Tuan und – ein Feind der gegenwärtigen, der Mandschudynastie? Wie war das zu erklären? Wie mächtig mußte der junge Mann sein, über welche Mittel mußte er hier innerhalb der Purpurstadt gebieten, um sie ihrem Gefängnis entführen und hier bergen zu können? Die Geisterkomödie war entschieden auf den Aberglauben der Chinesen berechnet, und die Wirkung der Erscheinung hatte Gerhardt am Kohlenhügel gesehen, als die Soldaten kamen.

Sehr angenehm war der Aufenthalt in dieser Pagode nicht, aber doch weit besser gegen den in der Zelle mit dem Henkerschwert im Hintergrunde.

Wenn es nur erst Tag wäre.

Erstens sollte am Tage es niemand wagen, diesen Tempel zu betreten, was ihnen doch Sicherheit vor Überraschung verbürgte, und dann war auch ihm die Dunkelheit lästig.

Aber es war Juni und die Sonne konnte nicht mehr lange auf sich warten lassen; Gerhardt faßte sich in Geduld. Es wurde allgemach heller in dem weiten Raum, durch die mit bunt bemaltem Papier verklebten Fenster brach sich ein seltsames Dämmerlicht Bahn.

Jan saß da und starrte mit großen Augen auf alles, was nach und nach den nächtlichen Schatten entstieg. Dicht vor ihnen die kolossalen Elefanten – weiterhin ein Löwenpaar – dazwischen phantastische Gebilde von Mensch oder Tier in den seltsamsten Formen.

Heller wurde es und heller und immer mehr absonderliche Gebilde zeigten sich dem Auge.

Plötzlich zuckte Jan zusammen, sein Blick war auf ein Bildwerk gefallen, das unweit in einer Wandnische angebracht war.

»Kieken Sei da, Stürmann,« sagte er zitternd, »dar sit 'n Kirl.«

Gerhardt sah nach der angedeuteten Richtung, auch er zuckte unwillkürlich zusammen.

Da saß eine menschliche Figur, in prächtige von Edelsteinen blitzende Gewänder eingehüllt, deren Augen auf sie gerichtet waren.

Starr blickten diese und schienen Leben zu haben. Das Entsetzen des Kochs war erklärlich.

Sich seines Schrecks schämend, trat Gerhardt auf die Figur zu. In der Nähe erkannte er deutlich das wundervoll geschnitzte Bildwerk, dem eine getreue Nachahmung des menschlichen Auges aus Porzellan oder Emaille eingesetzt war. Jetzt erst erkannte er auch den ganzen Reichtum von edlem Gestein, der über die gold- und silbergestickten Gewänder ausgegossen war.

In der Hand hielt die Gestalt, die auf einem reich verzierten Stuhl saß, ein Papier mit chinesischen Schriftzeichen.

Jan, der seine Angst abgeschüttelt hatte, kam jetzt näher, es war schon hell genug, um das Bildwerk, für ein solches erkannte es jetzt auch der Koch, deutlich sehen zu können.

»Nu kiek eens,« sagte der verwunderte Mann, »wat de Chinesers nich all maken? Dat's ganz wie bei de Wachsfigurens up St.Pauli. Ick heww mi doch bannig verfirt.«

Er betrachtete die Figur jetzt mit kindlichem Vergnügen und besonders schienen ihm die glitzernden Edelsteine der Gewänder zu gefallen.

»Nu kiek eens! Von den Steinchens künnt wi all een paar mitnehmen, Stürmann, wat meent Sei?«

»Das lassen Sie nur sein,« erwiderte dieser barsch, »wir wollen uns nicht an fremdem Eigentum vergreifen.«

»So heww ick dat nich meent, ick dachte man blot, um den gelen Kirl tau ärgern, der uns inspunnt hädd.«

Er schwieg, staunte aber immer von neuem den Reichtum der edlen Gesteine an.

Immer heller wurde es, obgleich das Licht nur gedämpft in den Raum drang.

Sie sahen sich in einer großen Halle, die mehrere Altäre enthielt und neben den riesenhaften Tiernachbildungen aus Bronze und Stein noch einige Figuren ähnlich der, die Jan einen so großen Schreck eingeflößt hatte. Wallende Seidenvorhänge, auf denen fünfklauige Drachen in Gold und Silber, oder chinesische Sinnsprüche eingestickt waren, fielen von den Wänden herab. Kostbare Vasen aus Porzellan und edlen Metallen, Räuchergefäße standen ringsum.

Eine Nische war mit einem dunklen Vorhang bedeckt, auf dem einige chinesische Charaktere standen, Stufen davor und eine Art Betpult deuteten darauf hin, daß hier in diesem »Tempel der Erkenntnis« der Besucher seine Andacht verrichten mußte.

Zwei kleine Altäre, die die Leuchter für die Räucherkerzen trugen, standen daneben.

Jan vermochte seine Neugier nicht zu bezwingen, er lüftete den Vorhang der Nische und fuhr entsetzt zurück, ein gebleichtes menschliches Gerippe stand vor ihm. Er ließ den Vorhang schleunigst wieder fallen. Gerhardt hatte auch gesehen, was der Vorhang barg; das war es also, was der Herrscher des gewaltigen Reiches der Mitte erkennen sollte: daß alles eitel ist, daß alles Irdische vergeht. Eine ernste Mahnung für den Herrn über Millionen, wie für den gewöhnlichen Sterblichen.

Gerhard ward auf seinem Rundgang von immer neuer Verwunderung über die hohe Kunstfertigkeit der Chinesen und den ringsumher sichtbaren Reichtum erfüllt, dem der Tod als mahnendes Sinnbild gegenübergestellt war.

Doch seinem Sinnen entriß er sich. Nach Kau-tis Andeutung waren sie mindestens den Tag über in voller Sicherheit, das Bedürfnis nach Nahrung machte sich geltend und er suchte den Verschlag in der Nähe des Elefanten auf, wo er reichlich auch für einen guten Appetit gesorgt fand.

Er griff zu den Speisen, denen kalter Tee und Wasser zugesellt war, und frühstückte. Jan leistete ihm hierbei treulich Gesellschaft und machte eine nicht unerhebliche Lücke in die hier aufgestellten Vorräte.

*

In der Purpurstadt herrschte Entsetzen, in den Palästen wie in den Zimmern der Diener und der Kasernen. Die Glocke des Tempels der Erkenntnis, der nur selten betreten wurde und streng verschlossen war, hatte sich geheimnisvoll hören und der Geist des toten Kaisers Tsung-cheng hatte sich neben dem Baum sehen lassen, an dem er in Verzweiflung sein Leben endete. Genug, um alles mit Schrecken zu erfüllen.

Der Chinese, der keinen Gottesbegriff, ähnlich dem unsern, kennt, bevölkert dafür Erde und Luft mit guten und vor allem mit bösen Geistern, die ihm Glück oder Schaden bringen.

Die Erscheinung am Kohlenhügel, der Glockenton von dem unzugänglichen Tempel der Erkenntnis, dazu das heftige Gewitter hatten die abergläubischste Furcht erweckt. Überall sah man Gruppen von Dienern, Hofleuten, Soldaten beieinander stehen, welche die Ereignisse der Nacht besprachen und jedem die Purpurstadt Betretenden das Wunderbare, Schreckliche mitteilten.

Seiner Sänfte entstieg am Tore der Kaiserresidenz Kau-ti, um mit seinem sanften Lächeln grüßend an einer Gruppe von Palastbeamten vorüber zu gehen.

Man lud ihn ein, näher zu treten, und nun erfuhr er von den Ereignissen der Nacht. Der junge Gelehrte lauschte den Mitteilungen mit anscheinend steigendem Entsetzen.

»Die Erscheinung des toten Mingkaisers hat dem erhabenen Geschlecht der Tsing, das zehntausend Jahre in Glückseligkeit verharren möge, noch stets Unheil bedeutet,« sagte leise der Vorstand der kaiserlichen Ställe, »alle guten Geister mögen es schützen.«

»Es müssen in allen Tempeln Opfer dargebracht werden,« äußerte ein andrer, »um das Unheil abzuwehren.«

»Es ist grausig,« fügte ein dritter hinzu.

Ähnlich sprachen Umstehende. Der augenscheinlich tiefbetroffene Kau-ti lauschte ehrfurchtsvoll den Reden und neigte nur manchmal zustimmend das Haupt, dann aber empfahl er sich mit großer Höflichkeit, da Prinz Tuan ihn erwarte.

»Ein bescheidener und trefflicher junger Mann,« sagte man, als er außer Hörweite war, »er wird noch hoch steigen, er besitzt des Prinzen Tuan volle Gunst.«

Kau-ti nahte sich dem Palaste des Prinzen und suchte dessen Gemächer auf.

Nach einiger Zeit wurde er vorgelassen und warf sich vor dem mächtigen Manne nieder, der mit finsterem, zornigem Gesicht auf seinem Polster saß.

»Weißt du es schon?« schrie er ihm heftig entgegen.

»Ich habe es beim Eintritt in die Purpurstadt erfahren, Kaiserliche Hoheit,« erwiderte Kau-ti mit trauervollem Ernst.

»Was? So weiß man es schon überall und ich erfahre es erst eben? Was sagst du denn dazu?«

»Ich stehe, wie alle, vor einem geheimnisvollen finsteren Rätsel, mögen alle guten Geister das Unheil abwehren, das die Menschen aus der Erscheinung folgern wollen.«

»Was sprichst du? Von was sprichst du?«

»Von der Erscheinung Tsung-chengs am Kohlenhügel, Allergnädigster –«

»Was?« schrie der Prinz auf und erhob sich; in seinen Augen war zu lesen, daß er erschreckt war.

»Und dem Ertönen der Glocke auf dem Tempel der Erkenntnis.«

»Sprichst du wirr?«

»Ich wiederhole nur, was ich eben erfuhr.«

Prinz Tuan schlug an ein metallenes Becken. Auf den weithin vernehmlichen Ton trat sein erster Diener ein.

»Was ist diese Nacht geschehen?«

Dieser berichtete von den Vorgängen.

»Warum meldetest du mir das nicht?«

»Ich wagte es nicht, Erhabenster, bis nähere Feststellungen gemacht worden sind; die Verhöre sind unter dem Vorsitz des Oberaufsehers des Palastes im Gange.«

Tuan sah nachdenklich vor sich hin.

»Laß mir die Vorstände des Astronomiehofes, der kaiserlichen Gärten und den Oberpriester des Ahnentempels herrufen.«

Der Diener wollte sich niederwerfen, aber Tuan fragte noch: »Ist noch keine Nachricht von den entflohenen Hunden eingetroffen?«

»Noch nicht, großmächtiger Herr.«

»Geh.«

Der Diener entfernte sich eilig.

»Ja, was sagst du, Kau-ti? Die beiden fremden Teufel sind entflohen?«

Erstaunen prägte sich in des jungen Mannes Gesicht aus.

»Entflohen? O, unmöglich, Großmächtigster.«

»Sie sind fort, das Gefängnis war leer, als die Wächter kamen; die Soldaten schliefen und schlafen noch. Aber sie sollen alle sterben.«

»Entflohen?« sagte Kau-ti leise.

»Was denkst du?«

»Daß furchtbare Geister hier am Werke waren.«

Der Prinz war vom Aberglauben nicht frei und sah nach diesen Worten düster vor sich hin, doch war er nicht ganz im Banne der herrschenden Vorstellungen und dazu sehr mißtrauisch.

»Wir werden ja hören,« sagte er dann.

Die hohen Beamten und der Priester, die er zu sich befohlen hatte, wurden gemeldet, auf des Prinzen Wink eingelassen und warfen sich vor ihm nieder.

»Ist der Park, sind alle kaiserlichen Gärten durchsucht? Hat man Spuren gefunden?«

»Es ist alles durchsucht, großmächtigster Herr, tausend Soldaten, fünfhundert Diener durchforschten alles, es ist nichts Verdächtiges gefunden worden.«

»Keine Spuren?«

»Nein.«

»Die Hunde können doch nicht durch die Luft geflogen sein. Geh!«

Der Vorstand der kaiserlichen Gärten entfernte sich unter dem üblichen Zeremoniell.

Tuan wandte sich an den Astronomen, der auch zugleich Astrolog war.

»Du kennst die Vorgänge der Nacht, weißt von der Erscheinung, dem Glockenton?«

»Ja, Gebieter.«

»Was sagen dir die Sterne? Was sagst du?«

»Den Sternen nach steht ein Unglückstag bevor.«

»Für mich?«

»Nein, Erhabenster, dein Stern strahlt heller als alle andern.« Ein Zug des Stolzes zeigte sich in Tuans Gesicht.

»Hat der Unglückstag etwas mit dem angeblichen Erscheinen eines Geistes, dem Läuten der Glocke zu tun?«

»Auch sie künden ihn an.«

»Ist morgen der Unglückstag?«

»Nein, Großmächtigster, doch ist er nahe.«

»Glaubst du an die Erscheinung?«

»Wie ich an die bösen Geister glaube, die unsrem Leben Unheil bringen.«

»Geh und halte dich meines Befehls gewärtig.«

Der Astrolog ging.

»Was sagst du, Priester?«

»Ich bin tief in der Seele erschüttert.«

»Was sagt dir die Erscheinung Tsung-chengs am Weidenbaum?«

»Ich fürchte, sie bedeutet Unheil für ein erhabenes Haupt.«

»Das könnte sein,« murmelte der Prinz.

»Doch du bist eingeweiht in alle Geheimnisse der Tempel, Tu-fu, und in noch andre. Könnte hier nicht eine Täuschung vorliegen?«

»Es ist nicht ausgeschlossen,« erwiderte der Bonze vorsichtig.

Tu-fu war vor dem Tode Kaiser Tschung-tschis, des Vorgängers des jetzt regierenden Herrschers, selbst in einer Maske, die an den längst verstorbenen Mingherrscher erinnern sollte, im Parke der Kaiserresidenz erschienen und hatte dessen Bewohner in Schrecken gesetzt, um reiche Opferspenden zu erlangen.

»Aber der Ton der Glocke? Kann sie nicht auf natürlichem Wege in Bewegung gesetzt sein?«

»Es kann niemand in den Tempel gelangen, Erhabenster.«

»Außer dir, der die verborgenen Türen kennt.«

»Deine Erhabenheit spottet Ihres Dieners.«

»Ich will dir etwas sagen, Tu-fu, ich will das Geheimnis aufgeklärt wissen. Waren es Geister, die in die Erscheinung traten, will ich mich beugen und sie durch Opfer versöhnen; liegt ein Betrug vor, decke ihn auf, Priester, und ich will dich mit Schätzen überhäufen.«

Auf dem Gesicht des Bonzen erschien ein schwaches Lächeln.

»Ich gehorche dir, gewaltiger Herr, und erstatte dir Bericht! sind Menschen hierbei im Spiele, werde ich sie entdecken.«

»Ich will es dir wünschen. Harre draußen, vielleicht brauche ich dich noch.«

Tu-fu ging.

»Er hat noch Freunde, der Knabe auf dem Drachenthrone,« murmelte er, »aber ich will sie und ihn bald verstummen machen, es wird Zeit.«

Der in Gedanken versunkene Prinz schien ganz vergessen zu haben, daß Kau-ti noch im Zimmer war, jetzt erblickte er ihn und sagte rauh: »Was wolltest du bei mir?«

»Deiner Kaiserlichen Hoheit Bericht über die letzte Sitzung im Tsungli-Yamen erstatten.«

»Das hat Zeit. Sind den Gesandten der Fremden die Pässe zugestellt?«

»Ja, doch sie weigern sich abzureisen, da sie außerhalb Pekings schutzlos den Aufrührern preisgegeben seien, wie der Vorfall an der Bahn lehre.«

Ein tückischer Zug erschien in Tuans finsterem Gesicht.

»So? Laß sie sämtlich für morgen früh zum Tsungli-Yamen bestellen, dort wird man ihnen Eröffnungen machen. Geh.«

Kaú-ti entfernte sich.

Im Vorzimmer harrten unter andern Großen der General Yung-lu, ein entschlossen aussehender Soldat. Kau-ti grüßte ihn ehrerbietig und machte dann dem Astronomen ein geheimes Zeichen, das dieser mit dem Senken der Augenlider beantwortete.

Tuan saß finster sinnend in seinem Lehnstuhl. Plötzlich schlug er an das Becken.

»Wer ist da?« fragte er den eintretenden Diener.

»General Yung-lu.«

»Laß ihn eintreten.«

Der General, in der Uniform der neugebildeten Truppen, erschien und warf sich nieder.

»Verzeihe deinem treuen Diener, wenn er eine Unglücksbotschaft bringt.«

»Nun?«

»Die Forts am Peiho sind von den fremden Teufeln genommen worden.«

Tuan sprang empor und starrte ihn einem wilden Tiere gleich an. Dann zischte er: »Sprich!«

»Die Fremden hatten, als die Forts besetzt und Anstalten gemacht wurden, Torpedos im Peiho zu legen, ein Ultimatum gestellt. Ehe es abgelaufen war, ließ General Ma das Feuer eröffnen. Die Kriegsschiffe der fremden Teufel erwiderten es. Außerdem hatten sie Truppen landen lassen, diese stürmten, und die Forts sind trotz aller Tapferkeit der Unsern in ihre Gewalt geraten.«

»Wann war das?«

»Vorvorige Nacht.«

»Und jetzt erfahre ich es?«

»Der Telegraph war unterbrochen, eben ist die Nachricht angelangt.«

»Und Tientsin?«

»Dort wird Ma die fremden Teufel sämtlich vernichten, er zieht mit dreißigtausend Mann heran.«

Groß war die Erregung des chinesischen Prinzen, sein Gesicht finster, doch spiegelte es kaum die innere Bewegung wieder.

»Ma soll sie vernichten, oder ich lasse ihm den Kopf vor die Füße legen, laß ihn das wissen.«

»Wie du befiehlst, Herr und Gebieter!«

»Morgen um neun Uhr lasse die Bannertruppen zusammentreten und meiner Befehle harren.«

»Sie stehen um neun Uhr bereit.«

»Lasse die neu eingetroffenen Mannschaften einstellen, sie sind unbedingt zuverlässig.«

»Wie du befiehlst.«

»Geh.«

Der General berührte mit der Stirn die Erde und ging.


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