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Flucht aus der Purpurstadt

Still und ungestört hatten Gerhardt und Jan den Tag verbracht. Kein Geräusch von außen hatte sie beunruhigt, still war alles wie im Grabe.

Jan hatte gegessen und geschlafen und Gerhardt sorgfältig den ganzen Tempel durchsucht, aber keinen Ausgang außer der verschlossenen massiven Haupttür gefunden.

Dennoch war in der Lage, in der er sich befand, Besorgnis nicht zu verscheuchen. Sein und Jans Leben hing nur von Kau-ti ab. Wenn der jugendliche Chinese, der hier im Kaiserpalaste eine so zweideutige Rolle spielte, nun verhindert war zu kommen?

Er schüttelte derartige Gedanken ab, aber immer kamen sie wieder.

Wenn er nur eine Waffe gehabt hätte, um im Notfalle im Kampfe zu sterben.

Bei einem seiner Rundgänge, während er gedankenvoll wieder das geschmückte Königsbild betrachtete, fiel ihm, was die Falten des Gewandes und die mangelhafte Beleuchtung bisher verhindert hatten zu gewahren, ein Schwert auf, das die Figur trug. Er stieg hinauf und nahm es an sich. Es war eine schön gearbeitete Waffe in der Form eines kurzen chinesischen Schwertes und wie sich zeigte, die Klinge scharf und von gutem Stahl. Das gab ihm einige Zuversicht, denn im Notfall starb er doch nicht wehrlos.

Als es dunkel geworden war, ließ er Jan in den Bauch des Elefanten klettern, er selbst wollte sich nur wenn wirkliche Gefahr drohte, dahinein zurückziehen. Jan schnarchte bald vernehmlich in seinem ungewöhnlichen Versteck.

Es war ganz dunkel.

Unruhig und auf jedes Geräusch lauschend, denn Gerhardt hoffte jede Minute Kau-ti ankommen zu hören, ob er sich gleich sagte, daß dieser vor Mitternacht kaum kommen werde, ging er leise auf und nieder.

Während er so mit wachen Sinnen langsam und geräuschlos dahin schritt, glaubte er unter sich ein Geräusch zu vernehmen. Er blieb stehen und lauschte. Es war keine Täuschung, das Geräusch kam von unten und kam näher.

Jetzt gewahrte er Lichtschimmer durch die Ritzen im Fußboden; die rechtwinkelige Form der hellen Linien legte die Vermutung nahe, daß hier eine Falltür sich befand, zu der von außen ein unterirdischer Gang führen mußte. Die Falltür lag darin zwischen ihm und dem Elefanten, der Jan barg. Das Licht war jetzt dicht darunter, er fürchtete in der Dunkelheit anzurennen, wenn er eilig den Weg nach dem Elefanten suchte und so vielleicht den Schlupfwinkel zu verraten, der ihm als letzter Zufluchtsort angewiesen war. Er stand vor dem verschleierten Gerippe, dessen Nische, Vorhang und Altäre er sich Tags über oft genug betrachtet hatte. Er stieg leise auf einen der Altäre und schlüpfte von da hinter den Vorhang, der diese menschlichen Überreste barg, vor ihnen hatte er keine Furcht.

Er fand Raum genug in der Nische. Kaum hatte er seinen Platz eingenommen, als er Lichtschein durch einige, wohl durch die Zeit veranlaßte Risse im Vorhang gewahrte. Er sah deutlich, wie eine im Boden angebrachte Falltür sich öffnete und ein Mann mit einem widerwärtigen Mongolengesicht, das von der Laterne beleuchtet wurde, die er in der Hand hielt, den Kopf vorsichtig emporstreckte und lauschte.

»O,« dachte Gerhardt, »wenn nur jetzt nicht Jan erwacht.«

Der Mann, dies alles konnte Gerhardt deutlich gewahren, kam herauf und zwei andere folgten ihm; jeder trug eine Laterne in der linken Hand und eine blanke Waffe in der rechten.

Sie wechselten einige leise Worte und schickten sich an nach der Gegend zu schreiten, wo die Elefanten standen.

Ein furchtbarer, schauerlicher Ton kam von diesen her und füllte den Raum.

Der Ton war so dumpf und unheimlich, hatte so gar nichts Irdisches an sich, kam so unerwartet, daß die drei sichtbar betroffen still hielten und selbst Gerhardt sein Herz erbeben fühlte.

Es war Jan, der eben erwachte und noch schlaftrunken ein »Uahu« hören ließ, das widerhallend in der Höhlung des Elefanten so schauervoll im Tempel wiederklang.

Gerhardt, tief erschreckt von der wie er fürchtete durch die Unvorsichtigkeit Jans unvermeidlichen Entdeckung, machte eine heftige unwillkürliche Bewegung, stieß an das Gerippe – der Schädel fiel herab und rollte bis zu den Füßen der drei Eingedrungenen. Ein Seufzerlaut, den Gerhardt der Schreck entriß, begleitete den rollenden Schädel, der den Männern im Lichte ihrer Laternen deutlich sichtbar war und aus hohlen Augen sie angrinste.

Da aber war unter diesen kein Halten mehr, mit Lauten, wie sie nur der tiefste Schrecken auspreßt, stürzten sie alle drei die Treppe hinab, die zu der Falltür emporführte, die Laternen erloschen – Dunkelheit herrschte wieder und gleich darauf Grabesstille. Das war Rettung in der Not gewesen.

Nach einiger Zeit stieg Gerhardt behutsam aus der Nische herab und tastete sich vorsichtig nach dem Elefanten hin.

»Jan!«

»Stürmann.«

»Haben Sie gehört?«

siehe Bildunterschrift

Ein seltsamer Ton erscholl, daß die drei betroffen still hielten.

»Ne, dat is 'n eklige Koje hier, man hört dar nix in und sieht nix. Ich wulld woll 'n beeten de Beine strecken.«

»Bleiben Sie nur drin, ich bleibe hier und komme vielleicht gleich nach. Es ist Gefahr vorhanden.«

»Hewwen Sei Geisters sien?«

»Ja, aber körperliche.«

»Vor so wat förcht ick mi nich. – Awer – leiwe Stürmann –«

»Nun –«

»Ick heww 'n beeten Appetit –«

Trotz seiner nicht geringen Aufregung war Gerhardt nicht unempfindlich für das Komische, das in der Äußerung und ihrem Gegensätze zu ihrer gefährlichen Situation lag, sagte aber nur: »Später.«

So lauschte er angestrengt längere Zeit auf jeden Laut. Nichts regte sich. Seine Nerven hatten sich beruhigt und er reichte jetzt dem Manne mit dem großen Appetit Nahrungsmittel, die er dem Verschlage entnahm.

Die Trommelschläge, mit denen die Chinesen die verrinnende Zeit ankünden, zeigten an, daß die Nacht vorgeschritten war. Immer länger wurden Gerhardt die Minuten. Wird Kau-ti kommen?

Endlich drang leises Geräusch von der Seite her, von der sie in den Tempelraum eingetreten waren, und der junge Chinese erschien, eine Laterne in der Hand. Gerhardt fühlte sich erleichtert.

»Ich komme, Sie aus Ihrem Gefängnis zu befreien,« sagte Kau-ti, der das Kleid eines Palastdieners trug.

»Dat is ook all Tid,« meinte Jan und kam aus dem Elefanten hervor, »ick heww't in alle Knoken.«

»Ist etwas vorgefallen, das Sie beunruhigte?«

Gerhardt berichtete ihm von dem Besuche der drei Männer durch die Falltür und wie sie vertrieben worden waren.

Ernst lauschte Kau-ti.

»O, so führt doch ein unterirdischer Gang vom Ahnentempel hierher,« äußerte er, »das konnte sehr gefährlich werden.«

Er ging mit der Laterne hin und betrachtete den Eingang zu dem Gange, ließ aber die Tür geöffnet, nur den Schädel hob er auf und brachte ihn wieder an seine Stelle.

Zurückkehrend überreichte er Gerhardt ein chinesisches Obergewand, wie es Kulis tragen, und einen breitrandigen Hut. Gerhardt warf beides über.

»O, Sie haben eine Waffe – ah, die Tschu Mings, des Erbauers dieses Tempels. Wir müssen sie ihm wieder geben, sie würde uns nur verraten.«

Er brachte das Schwert an seinen Ort. Dann sagte er: »Der, der hier eindrang, war Tu-fu, der Priester des Ahnentempels, es ist möglich, daß wir ihn an unserm Wege finden. Von den Soldaten ist keiner in den Park zu bringen, vor denen sind wir sicher, die hält Todesfurcht zurück; aber Tu-fu hat einige Tibetaner in seinen Diensten, die wohl weniger abergläubisch sind; diese könnten gefährlich werden. Ist Ihr Gefährte zuverlässig?«

»Ja, und stark wie ein Löwe.«

»Begegnen uns Leute, müssen wir sie vernichten, es handelt sich um unser Leben.«

»Aber womit, mein Revolver ist mir genommen.«

»Wir dürfen keinen Lärm machen. Nehmen Sie diesen Schiffssäbel«, er zog die Waffe unter seinem Gewande hervor und gab sie Gerhardt, der sich sofort überzeugte, daß sie scharf war. Jan händigte er einen kurzen Knüttel aus schwerem Holze ein, den dieser mit Behagen entgegennahm.

»Ich selbst führe im Notfall das alte kurze Chinesenschwert. Begegnen wir Leuten, werden wir angehalten, dann ohne Rücksicht die Waffen brauchen und so geräuschlos als möglich.«

»Gut. Verstehen Sie, Jan?«

»Woll, woll, mi schall nur een kamen.«

»Was wagen Sie alles für uns, Herr Kau-ti?« sagte Gerhardt, den die aufopfernde Treue des jungen Chinesen, dem er einen kaum erwähnenswerten Dienst erwiesen hatte, tief rührte.

»Nicht mehr, als Sie für meinen Freund Kang-ju-wei wagten,« erwiderte Kau-ti freundlich, »auch wir Chinesen sind dankbar.«

»Das wissen Sie?« fragte Gerhardt staunend.

»Dies und noch mehr. Doch jetzt kommen Sie. Gehen Sie leise und schweigend hinter mir, nicht einen Laut dürfen Sie hören lassen, selbst wenn es zu einem Zusammenstoße kommen sollte, damit man Sie nicht als Fremde erkennt.«

»Wir werden schweigen.«

Kau-ti löschte die Laterne und alle drei traten durch die kleine Tür ins Freie.

Der Himmel war verschleiert und Dunkelheit herrschte ringsum.

Doch Kau-ti schien hier jeden Schritt zu kennen. Mit unfehlbarer Sicherheit schritt er verschlungene Pfade entlang, unter Bäumen hin, an Tempeln und Monumenten vorbei. Geräuschlos folgten auf dem weichen Sande die beiden Deutschen.

Sie umschritten einen See und traten dann unter dunkle Bäume.

Unerwartet trafen gedämpfte Männerstimmen ihr Ohr, alle drei standen und lauschten, ihre Waffen bereit haltend. Jan stand etwas abseits.

Die Stimmen schienen sich zu entfernen, und schon wollte Kau-ti den Weg fortsetzen, als dicht neben Jan eine Gestalt auftauchte, die hinter einem Baume hervorgekommen sein mußte, ihn an der Schulter faßte und in chinesischer Sprache fragte: »Wer bist du?«

Jan stand starr vor schreckhafter Überraschung.

Gleich darauf stieß der Mann einen gellenden Ruf aus, der aber jäh erstarb. Jans eiserne Finger hatten sich um die nackte Kehle des Mannes gelegt, ihn im Nacken gefaßt. Ein Ruck der gewaltigen Hände und der Mann fiel wie leblos zu Boden.

Geräusch nahender Schritte.

Kau-ti zog die beiden hinter ein dichtes Gebüsch.

Leute kamen mit Laternen, sie erblickten den leblos liegenden Mann, an dem keine Verletzung wahrzunehmen war, sie hoben ihn empor, das Haupt fiel haltlos zur Seite.

Sie wechselten einige Worte, ließen den Körper fallen und liefen in großer Eile davon.

»Es ist Tu-fu,« flüsterte Kau-ti, »der Gefährlichste von allen. Ihm scheint das Genick gebrochen zu sein.«

»Ick gläuw ook,« brummte Jan, »ick well mi von di Chinesers nich afmurksen laten.«

»Kommen Sie,« flüsterte Kau-ti, »jetzt sind wir sicher.«

In kurzer Zeit standen sie vor einem an der Umfassungsmauer der Kaiserstadt lehnenden Wärterhäuschen. Kau-ti trat ein, das Zimmer war leer, aber eine Papierlaterne brannte. Er trat in ein andres Zimmer, das schon innerhalb der Mauer liegen mußte, öffnete eine hölzerne Wand, und, Kau-ti voran, schritten sie in einen dunklen Gang. Bald machte der Chinese halt und sagte: »Sie werden gleich im Freien außerhalb der Purpurstadt sein. Draußen harren zwei meiner Diener; folgen Sie ihnen vertrauensvoll, sie werden Sie nach dem Hotel Tallieu führen. Sprechen Sie nicht über ihre Abenteuer in der Purpurstadt, es könnte mir Schaden bringen,« flüsterte er Gerhardt ins Ohr.

Gerhardt sagte leise: »Ich danke Ihnen, mag es Ihnen Gott vergelten!« und innig drückte er ihm die Hand.

Kau-ti, der hier ganz zu Hause sein mußte, ließ eine Maschinerie spielen und eine dünne Steinwand wich zur Seite, sie blickten ins Freie. Der Chinese schob Gerhardt und Jan hinaus, die Wand schloß sich und beide standen vor der einsamen Mauer der Purpurstadt im Dunkel da.

Zwei Gestalten lösten sich von der Mauer in ihrer Nähe ab und kamen auf sie zu.

»Komm,« sagte der eine der Männer deutsch und ging. Gerhardt und Jan folgten.

Durch einsame dunkle Straßen schritten sie hin.

Mehrmals begegneten ihnen Wächter, aber dann ging der Voranschreitende auf sie zu und flüsterte ihnen etwas ins Ohr, worauf die sich ehrfurchtsvoll verbeugten und die Flüchtlinge ziehen ließen. Bald sahen sie das noch erleuchtete Hotel Tallieu vor sich. Gerhardt gab Hut, seinen Chinesenkittel, den Säbel an seine Begleiter, die darauf schweigend verschwanden, und betrat das Hotel.

Hier waren noch viele Menschen beisammen, die die Furcht hierhergetrieben haben mußte, Franzosen, Deutsche, Russen, Österreicher.

Gerhardt, dessen Eintritt gar nicht beachtet wurde von den erregten Menschen, vernahm, daß die Stadt rings von Boxerscharen umgeben sei, daß Anschläge zum Morden aller Fremden aufforderten, und nur die größte Energie der Gesandten Gefahren der schlimmsten Art abwenden könne. Die Anwesenden waren fast alle bewaffnet. Auch Gerüchte wurden hier mitgeteilt, nach denen ein blutiger Kampf bei Taku zwischen den europäischen Kriegsschiffen und den Forts stattgefunden habe.

Doch Gerhardt war durch die lange Schlaflosigkeit so furchtbar abgespannt, daß das alles nur wenig Eindruck auf ihn machte, nur schlafen, schlafen. Endlich erwischte er einen Kellner, der ihm einen Schlafplatz auf einem Diwan in einem Nebenzimmer anwies, wo noch andre Leute schliefen. Jan hatte sich draußen ein Unterkommen gesucht. Gerhardt versank alsbald, erschöpft an Leib und Seele, in einen totenähnlichen Schlummer.


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