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Lao-tschi

Viele Tage sind vergangen. Auf einer rauhen Bergstraße, die zwischen dunklen Nadelhölzern hinlief, ritten Fung-tu, Gerhardt und Jan mit ihren Begleitern.

Sie waren so schnell, als es die Umstände gestatteten, durch das Land geeilt, bald in Dörfern, bald im Freien übernachtend, und hatten durch den geheimnisvollen Einfluß ihres Führers auf einen Teil der Bevölkerung überall, da wo sie einkehrten, freundliche Aufnahme gefunden. Allen bewohnten Orten hatten sie sich nur mit großer Vorsicht genähert und stets erst durch den Führer, einen Mann aus den westlichen Gebirgen, sorgsam den Boden sondieren lassen, ehe sie einzogen. Bei Nacht waren sie dann eingeritten und mit Tagesanbruch wiederum davongeeilt; die kräftigen ausdauernden Tiere, die sie ritten, hatten sie unermüdlich vorwärts getragen.

Erich Gerhardt, der oft genug sorgenvoll an Peking und die Landsleute dort dachte, war nun von der Hoffnung belebt, seinen Bruder wieder zu sehen; mit diesem vereint hoffte er unter Fung-tus und ihres Führers Schutz die Küste zu gewinnen, um von da aus eine der Hafenstädte, am liebsten Tientsin zu erreichen. Dunkle Gerüchte drangen, so oft sie in chinesischen Ortschaften übernachteten, an ihr Ohr, die weit durch das Land liefen.

Diesen nach hatten die kaiserlichen Truppen auf Befehl des Sohnes des Himmels die Fankweis, die rothaarigen Teufel, überall vernichtet und ihre Schiffe in den Grund geschossen. War auch dies nichts weiter als die übliche Vertuschung einer Niederlage, die von der Regierung ausging, so erschütterte es doch Gerhardt sehr, als er vernehmen mußte, daß alle Europäer in Peking getötet worden seien. Leider hatte dies viel Wahrscheinliches für sich.

Er schauderte, und nur der Gedanke, seinen Bruder aus gleicher Gefahr befreien zu können, minderte das bittere Gefühl, daß er nicht in der letzten Not an der Seite der Kameraden gestanden habe. Auf ihrer Reise hatten sie manchen Umweg machen müssen, um größere Städte, wo die Europäer leicht Gefahren von seiten fanatisierter Massen ausgesetzt waren, zu vermeiden. Doch im ganzen war das Land, das sie in den letzten Tagen durchmessen hatten, nach allem, was ihnen zu Ohren kam, viel ruhiger und viel weniger fremdenfeindlich als die Provinzen Tschili und Schantung. Man merkte kaum, daß im Osten und Norden ein erbitterter Kampf zwischen Europäern und Chinesen tobte, und das Volk verhielt sich gleichgültig gegen alarmierende Nachrichten.

Nicht leicht war es, die Mission Gnadental, wie sie im Deutschen hieß, die unweit Lintsie, am Rande des Gebirges lag und weit in das Land vorgeschoben war, zu erreichen, schwieriger noch, von da aus die Küste zu gewinnen.

Doch hoffte man von Gnadental aus nach Süden abbiegend möglichst mit Benützung des Kwang-ho das Meer zu erreichen.

Die Straße war einsam, die sie einherritten, nur hie und da begegnete ihnen ein kleines Fuhrwerk oder ein beladenes Saumtier mit seinem Treiber. Die Leute beachteten sie entweder gar nicht oder grüßten demütig; Verdacht erregten sie nicht, denn Gerhardt und Jan, die gegen den Reisestaub seidene Tücher um den unteren Teil des Gesichts gebunden trugen, den Kopf mit dem großen Strohhut bedeckt hatten, konnten durchaus für Chinesen gelten.

»Wann glauben Sie, Herr Fung-tu,« fragte Gerhardt, »daß wir Lintsie erreichen werden?«

»Ich hoffe in drei Tagen. Dort werden wir uns den Weg nach der Mission erfragen müssen.«

Jan, der sich zwar an die Bewegung des ruhigen Maultieres gewöhnt hatte, dem das Verweilen im Sattel aber doch sehr unangenehm war, ritt schweigend und verdrießlich einher.

Dem alten Seebären, der von Jugend auf schaukelnde Planken unter den Füßen gehabt hatte, war die lange Landreise zuwider und er sehnte sich sehr nach Seeluft.

»Nun, Jan,« redete ihn Gerhardt an, »ist die Laune noch nicht besser?«

»Leiwe Stürmann, dat is so as dat Ledder is, ick heww mit di Wälder und Felsens nix vor, ick wulld dat wohl ganz gern ut de Fern ankieken, awer ick bin vor dat Water.«

»Recht, lieber Jan, ich auch, aber wir müssen uns nun den Umständen fügen. Geben Sie sich zufrieden, wir kommen auch wieder auf See.«

»Dat 's een langweiligen Schossee hier, ick heww all genug von.«

Zur Seite ihres Weges zeigte sich eine Bergwiese mit einem Wasserrinnsal, und der Führer schlug vor, hier zu rasten, um die Tiere zu tränken und ausruhen zu lassen.

Fung-tu stimmte ihm bereitwillig zu, und bald saßen sie an dem murmelnden Wasser, rings von schweigendem Wald umgeben, und sprachen den Speisen zu, die ein Saumtier auf seinem Rücken mit sich geführt hatte.

Daß Jan trotz schlechter Laune seinen Appetit nicht eingebüßt hatte, zeigte sich hier deutlich genug.

»Wann kommen wir nach Lao-tschi?« fragte Fung-tu den Führer.

»Wir werden es bald vor uns liegen sehen, aber wir müssen es umreiten, wir haben dort keine Freunde.«

»Werden wir aber ein Nachtlager erreichen?«

»Ja. Zwei Li von Lao-tschi ab liegt ein Dorf, dort finden wir Unterkunft.«

»Es ist gut«

Jan und Gerhardt hatten gespeist und sich ihre kurzen Pfeifen angezündet, die sie unterwegs nebst vortrefflichem Tabak erworben hatten, während die Tiere weideten.

»Wie rauh und schlecht unterhalten sind in einem so bevölkerten Lande die Wege,« wandte sich Gerhardt an Fung-tu.

»Sie haben recht, leider recht, aber es verfällt unter der Wirtschaft der Mandarinen alles im Lande. Das war früher, als noch die Ming herrschten, anders. Alles, was Sie an großen Straßenbauten, an gewaltigen Brücken auf unsrem Wege bemerkt haben, verdankt sein Dasein den Kaisern der Mingdynastie; ist es ein Wunder, wenn das Volk sich nach ihnen zurücksehnt?«

»Einstweilen aber herrschen im Lande noch die Tsing, die die Fremden so tödlich hassen.«

»Übrigens, Herr Kau-ti muß eine sehr mächtige Persönlichkeit sein,« unterbrach sich Gerhardt.

Fung-tu sah ihn an.

»Das ist er,« sagte er dann, »sehr mächtig. Er hat uns, euch wie mich, aus großen Gefahren gerettet und selbst jetzt reisen wir noch unter seinem Schutze.«

Ohne zu fragen, woher seine Macht stamme, fuhr Gerhardt fort: »Ich bin ihm auch aufrichtig dankbar für seine Güte. Nur Männer wie er, die Europa und seine Bildung kennen und schätzen gelernt haben, vermögen die Reformen hier einzuführen, die zum Heile des Volkes nötig sind. Darum wundert es mich, daß er zu der fremdenfeindlichen Partei in Peking in so nahen Beziehungen steht.«

»Dort ist er Herr Kau-ti, der Sekretär des Tsungli-Yamen, für uns ist er ein Freund und Schützer, lassen Sie sich daran genügen. Er selbst läuft trotz seines Einflusses, den er in Peking hat, große Gefahr, indem er uns beschützt. Ein Schatten von Verdacht, der auf ihn fiele, könnte ihm leicht das Leben kosten, ihm und uns.«

»Umsomehr habe ich Ursache, ihm dankbar zu sein, wir schulden ihm das Leben, das er uns wiederholt gerettet hat.«

Daß der seltsame junge Mann am Hofe zu Peking ein Doppelgesicht zeigte, war ihm ja von Anfang an nicht zweifelhaft gewesen, und ebensowenig, daß er über eine geheime außerordentliche Macht verfügte. Daß er, besonders als er sie auf so ungewöhnliche Weise aus den Händen der kaiserlichen Diener befreite, selbst große Gefahr lief, lag nur zu nahe. Es mußte eine ungewöhnliche Klugheit, Energie und Selbstbeherrschung dazu gehören, um diese Doppelrolle mit Erfolg zu spielen, und – auch todesmutige Anhänger mußten ihm zu Gebote stehen.

Der junge Mann, eine rätselhafte und doch bedeutungsvolle Persönlichkeit, rief ihm unwillkürlich das Bild des Cheruskerjünglings zurück, der an des Römers Tafel saß und lächelnd schmauste, während die Seinen sich zum Vernichtungskampfe rüsteten.

Doch, wie dem sei, welche Stellung er zu den Machthabern in Peking einnahm, ihm war er mit einer aufopfernden Freundlichkeit begegnet, und Gerhardt hatte wohl Ursache, ihm aus tiefstem Herzen dankbar zu sein.

Während er noch nachsann, auf welcher Basis Kau-tis geheime Macht beruhen könne, ließ sich zu nicht geringer Überraschung auf dem einsamen Bergweg, den die Reisenden ihrer Sicherheit wegen gemacht hatten, rasch näher kommendes Pferdegetrappel vernehmen, das auf eine starke Reiterschar schließen ließ.

Der Führer lief nach der Straße und schaute sie entlang. Aus der Richtung, aus der die Reisenden gekommen waren, nahte ein Reitertrupp. An dem Banner, das ein Reiter an langer Lanze voran trug, erkannte der Mann sofort, daß da ein General in ungewöhnlicher Eile herankam.

Er meldete das Fung-tu.

Diese Begegnung war sehr unangenehm. Ein General auf diesem einsamen Wege und in solcher Eile?

Was bedeutete das?

Ehe man noch überlegen konnte, was geschehen könne, dem Zusammentreffen auszuweichen, das der beiden Europäer wegen gefährlich werden konnte, waren die ersten Reiter schon herangekommen.

Fung-tu forderte Gerhardt und Jan auf, mit ihm den Kotau zu machen, wenn der Gewaltige käme, das heißt niederknieend mit der Stirn die Erde zu berühren.

Es kamen noch einige Reiter und dann, jetzt im Schritt, der General in voller Amtstracht selbst.

Mit Fung-tu beugten sich alle zur Erde.

Der General hielt und befahl ihnen heranzutreten.

Fung-tu flüsterte: »Bleiben Sie zurück,« und ging mit dem Führer in demütiger Haltung auf den finster blickenden Tataren zu.

»Wie weit ist es noch bis Lao-tschi?«

»Du wirst es vor dir liegen sehen, großer Herr, wenn du den Wald verlässest.«

»Und wie lange reite ich noch im Walde?«

»Es ist ein Weg von kaum drei Li.«

Das dunkle Auge des martialisch aussehenden Mannes haftete auf Fung-tu und dem Führer und richtete dann den Blick nach Gerhardt und Jan, die beide, vor sich niedersehend, in der Entfernung geblieben waren.

»Wer seid Ihr, wo kommt Ihr her, wo geht Ihr hin?« fragte der General.

»Ich bin, großer Herr, ein armer Kaufmann aus Honan.«

»Und gehst wohin?«

Nach den Gebirgen im Westen, um Felle einzukaufen, großer Herr.«

»Wer sind diese dort?« Er deutete auf Jan und Gerhardt, die sein Auge mit Mißtrauen betrachtete.

Fung-tu hielt es für geraten, die beiden Deutschen als Fremde zu bezeichnen, da sie in dieser Eigenschaft zu leicht erkannt werden konnten.

»Es sind zwei russische Kaufleute, die mich begleiten, um mir meine Waren abzukaufen und in ihr Land zu führen.«

siehe Bildunterschrift

»O, großer Herr, wodurch habe ich deine Ungnade verdient?«

»Russische Kaufleute? Rufe sie heran.«

Dies tat Fung-tu, und Jan und Gerhardt kamen.

Der General blickte sie forschend an.

Dann wandte er sich wieder an Fung-tu: »Wo sind deine Papiere?«

Fung-tu holte ein Schriftstück hervor und überreichte es dem General ehrerbietig. Dieser las es aufmerksam.

Ein neben ihm haltender Herr, der das Kleid eines bürgerlichen Beamten trug, flüsterte ihm etwas zu.

Der General zuckte zusammen, und die Blicke, mit denen er von neuem Fung-tu und die beiden Deutschen ansah, hatten etwas Drohendes.

»Ich bin nicht im stande, die Richtigkeit deines Papiers und deiner Angaben zu prüfen, indessen fühle ich mich veranlaßt, dich dem Richter in Lao-tschi zu übergeben.«

»O, großer Herr, wodurch habe ich deine Ungnade verdient?« jammerte Fung-tu, der die Gefährlichkeit einer Verhaftung sofort erkannte. »O sei gnädig, wir sind ehrliche Leute.«

»Sage das alles dem Richter,« erwiderte der General. »Ich hoffe, wir haben einen guten Fang an dir und den Fankweis gemacht.«

Er warf ihm sein Papier zu und ritt weiter, gefolgt von einem Teile der Reiter, während ein anderer zurückblieb, um die Gefangenen, denn das waren jetzt Fung-tu und seine Begleiter, zu eskortieren. Bei diesen blieb auch der Zivilbeamte.

Gerhardt erschrak nicht wenig, als er erfuhr, was ihnen bevorstand.

Nicht nur die Gefährlichkeit ihrer Lage machte ihn besorgt, vor allem schmerzte es ihn, so nahe seinem Bruder verhindert zu werden, ihn aufzusuchen.

Jan sagte, als man ihm mitteilte, daß er Gefangener sei: »Dat hädd ick weeten möten, ick hädd di gele Kirl eens gewen.«

Doch es hieß sich den gut bewaffneten Soldaten gegenüber in das Verhängnis fügen.

Auf eine Aufforderung ihres Führers wurden die Maultiere herbeigebracht, Fung-tu und die Europäer stiegen in den Sattel, und umgeben von wild und kriegerisch aussehenden Tataren setzten sie die Reise fort.

Fung-tu sah sehr niedergeschlagen aus.

Bald erreichten sie den Ausgang des Waldes und sahen von der Höhe herab auf eine fruchtbare und anmutige Landschaft, die eine größere Stadt umgab.

Ein ziemlich breiter Fluß glitzerte in der Sonne.

Der gewundene Weg, der in das Tal hinabführte, war sehr rauh und uneben.

Zu ihrer Rechten und Linken lag wüstes steiniges Land, unten aber wohl angebaute Felder, zwischen denen verstreute Dörfer und mit Zypressen und Weiden umgebene Grabhügel, kleine Wäldchen und vereinzelte Pagoden dem Auge angenehme Abwechslung boten. Im Hintergrunde zeigten sich einige Berge.

Auch die mit einer hohen Mauer umgebene Stadt war von einigen Pagodentürmen überragt.

Gerhardt hatte keinen Sinn für das eigenartige reizvolle Bild, ihn quälten traurige Gedanken. Jan war sehr verdrießlich bei der Aussicht, eingesperrt zu werden, und murmelte von Zeit zu Zeit ingrimmige Verwünschungen in sich hinein.

Auf dem zerrissenen steinigen Wege mußte man sehr langsam reiten. Pferde wie Maultiere waren aber an solche Wege gewöhnt.

Je näher sie der kleinen Stadt kamen, desto deutlicher erkannten sie, daß die einstmals feste Mauer derselben nur noch aus Trümmern bestand.

Langsam reitend holten sie einen der zweirädrigen schlechtgebauten Wagen ein, der, von einem kleinen Pferd gezogen, knarrend vor ihnen herrollte. Ein Mann ging daneben und ein kräftiger halbnackter Knabe leitete das Pferd. Der hochgewachsene Junge fiel Gerhardt auf trotz seiner trüben Gedanken. Die Hautfarbe, das Haar, das in langem Zopf geflochten über seinen Rücken hing, hatte so gar nichts Chinesisches. Gerhardt wandte den Kopf, als er an dem Jungen, der nur mit seinem Pferd beschäftigt schien, vorbeiritt, und sah unter dem zerrissenen Strohhute, der sein Haupt bedeckte, ein hübsches, aber sehr trauriges Knabengesicht vor sich, aus dem blaue Augen ihn gleichgültig anblickten.

»Nun, sehen Sie mal diesen kleinen Chinesen an, Jan,« sagte Gerhardt, »könnte der nicht ebenso gut ein Deutscher oder Engländer sein? Seltsam wie die Natur spielt.«

Der Knabe horchte auf, als diese Laute sein Ohr berührten, und starrte Gerhardt mit einem grenzenlosen Erstaunen, dem sich etwas wie Schreck beimischte, und weitgeöffneten Augen an.

»Seker, Stürmann,« sagte aus seinen trüben Betrachtungen aufgerüttelt der Koch, »dat 's keen richtigen Chineser, dat 's 'n lütten hübschen Kirl.«

Der Knabe starrte ununterbrochen die beiden Deutschen an, gleich wunderbaren Erscheinungen, dann stöhnte er tief auf, wollte etwas sagen, brachte aber nur unartikulierte Laute hervor, aus denen Gerhardt wie Jan das Wort »Mutter« zu verstehen glaubten.

Ein drohender Ruf des Mannes, der neben dem Karren ging, unterbrach den Knaben, er zuckte zusammen und ein Tränenstrom brach aus seinen Augen hervor.

Schon waren Gerhardt und Jan, die das Gebaren des Knaben seltsam bewegte, wie sie sein Äußeres für ihn einnahm, vorüber, hörten sie nur die schallende Stimme des Mannes und sahen, wie er den Jungen am Zopf riß.

Die Reiter setzten ihre Pferde in Galopp und der Wagen blieb zurück.

Das war eine merkwürdige Begegnung.

Doch andre Sorgen verdrängten die Erinnerung daran.

Nahe dem verfallenen Tore der Stadt, dicht am Ufer des langsam vorbeiströmenden Flusses zeigten sich einige niedrige Gebäude, die von einem trockenen Graben umgeben waren, der in Verfall war, wie alles rings umher.

Über diesen Graben führte eine hölzerne Brücke, und auf diese ritten sie zu. Einige schlecht uniformierte Soldaten erschienen, die aber Gewehre neuester Konstruktion in Händen trugen, und ließen den Reiterzug vorbei.

Gerhardt und Jan sahen sich inmitten eines Hofraums, der von niedrigen Gebäuden umgeben war, unter denen sich nur eins durch seine Form vorteilhaft vor den andern auszeichnete.

In dieses ging der Beamte, der sie begleitete, hinein, um nach kurzer Zeit mit einem stattlichen Manne zurückzukehren.

Diese Zeit hatte Fung-tu benützt, um Gerhardt zuzuraunen: »Wir sind in einer sehr schlimmen Lage, ich habe keine Freunde hier. Es war General Tung-fu-shiang, der schlimmste Gegner der Fremden, der uns festnahm. Ich fürchte, ihr seid von dem Beamten erkannt. Ihr wißt, was ihr sagen müßt. Nennt nur den einen Namen nicht.«

»Nein, seid ruhig, keine Qual soll ihn aus mir herausbringen,« erwiderte Gerhardt.

Der Beamte warf noch einen Blick auf den Gefangenen, stieg zu Pferde und ritt eilig mit den Lanzenträgern davon, dem General nach. Der mit ihm in der Tür erschienene Chinese hatte sich wieder in das Innere des Hauses zurückgezogen.

Etwa zwanzig Soldaten hatten sich um die Gefangenen gesammelt.

Man nötigte Fung-tu und die beiden Deutschen abzusteigen und band ihnen die Hände, dann wurden sie in das Haus geführt, in einen großen Saal, in dem sie den Herrn, der in der Tür erschienen war, an einem erhöhten Tische sitzen sahen, angetan mit den Abzeichen der richterlichen Würde. An einem niedrigeren Tische saßen zwei Schreiber mit Tusche, Pinsel und Papier vor sich.

Hinter dem Richter hingen verschiedenartige Banner, die mit chinesischen Zeichen bedeckt waren.

Es begann alsbald ein Verhör mit Fung-tu, von dem die beiden Deutschen nichts verstanden. Als der Richter eine Frage an Gerhardt in chinesischer Sprache richtete, schüttelte dieser mit dem Kopf. Zu Gerhardts Überraschung fragte er jetzt in verständlichem Pigeon-Englisch: »Du sprichst die Sprache der Fankweis in den Uferstädten?«

Gerhardt bejahte.

»Wer bist du und wo kommst du her?«

Der getroffenen Vereinbarung nach antwortete dieser: »Ich bin ein russischer Kaufmann und komme von Schanghai.«

Der Richter, der eine Brille trug, hatte ein kluges Gesicht, aber ein Gesicht von hartem boshaften Ausdruck.

»Mir ist gesagt worden, daß du ein Deutscher seiest und von Peking kämest.«

»Das ist ein Irrtum, Herr,« erwiderte Gerhardt.

»Wir werden sehen, die Folter wird dir die Wahrheit erpressen.«

Gerhardt schauderte, er hatte von den furchtbaren Grausamkeiten gehört, mit denen chinesische Richter Gefangene quälen, um ihnen ein Geständnis zu entlocken.

Der Richter bemerkte es.

Jan, der von allem, was verhandelt wurde, nichts verstand, stand sehr mürrisch aber ruhig da.

»Wir wollen morgen weiter verhandeln,« sagte der Richter, »eine Nacht wird dich gefügig machen.«

Er gab einen Befehl, und je zwei Soldaten ergriffen Gerhardt, Jan und Fung-tu und führten sie hinaus.

Fung-tu sah sehr unglücklich aus.

Jan fragte: »Wat hewwen di Chinesers mit uns vor, Stürmann? Will di Chinesenkirl us inspunnen?«

»Geduld, Jan, Geduld, wir waren schon in schlimmerer Lage.«

»Dat schall woll wesen, awer hier es di chinesische Herr nich, um us ut dat Malör tau helpen.«

»Still, um Gottes willen.«

»Ick segg nix.«

Als sie im Hofraum waren, wurde Fung-tu nach dem einen Flügel der Baulichkeiten, die meistens Gefängnisse zu sein schienen, geführt, Gerhardt und Jan aber nach der Wasserseite zu. Gerhardt und Fung-tu verabschiedeten sich mit einem traurigen Blick.

Die Soldaten führten die beiden Deutschen in das niedrige Haus und in ein schmutziges kleines Gemach, das sein Licht durch eine vergitterte Fensteröffnung erhielt.

Dort wurden sie rauh zu Boden gerissen und ihnen von einigen Männern schwere Fußblöcke angelegt.

Dann ließ man sie allein und verschloß die Tür hinter ihnen.

Jan hatte große Lust gezeigt, Widerstand zu leisten und sich nur auf den Zuruf Gerhardts gefügt.

Da waren nun die beiden Seeleute, deren Dasein jetzt schon seit Wochen ein so abenteuerliches gewesen war, inmitten eines fremdenfeindlich gesinnten Volkes im Kerker, in schlimmerer Lage als je vorher.

Trübe war ihre Stimmung und keiner sprach.

Der Abend sank hernieder und es wurde dunkel in dem widerwärtigen Loche, in das man sie eingesperrt hatte.

Man hatte ihnen weder Wasser noch Nahrungsmittel gegeben und der Durst quälte beide.

Die durch die Fußblöcke erzwungene Lage des Körpers wurde dadurch, daß die Hände gebunden waren, noch unerträglicher. Sie litten beide peinvoll.

Gerhardt ertrug den sich steigernden Schmerz schweigend, aber Jan stöhnte von Zeit zu Zeit herzbrechend.

»Ick gläuw, leiwe Stürmann, ick überlew dat nich. De leiwe God mak mi helpen.«

»Ja, Jan, er allein kann uns helfen.«

Beide horchten auf – was war das? – Leise – wie aus der Ferne drang ein Ton zu ihnen – was war es? – rauschte der Wind in dem Schilf des Flusses? Nein, es war kein Zweifel – eine Melodie – eine beiden von Jugend auf bekannte Melodie, die eines Volksliedes, wurde draußen gepfiffen. Es war die Melodie des herzigen Liedes:

»Ach, wie ist's möglich dann,
Daß ich dich lassen kann,
Hab' dich von Herzen lieb,
Das glaube mir.«

Fernher, aber deutlich drang der Laut zu ihnen. Was war das?

Diese Melodie konnte nur von deutschen Lippen kommen.

Gleich einem lindernden Hauche legte sie sich um die Herzen der beiden leidenden Menschen.

»Was is dat, Stürmann? Is dat 'n Engel, der da fläut?«

»Vielleicht, Jan.«

»Der uns helpen ward?«

In der Erinnerung Gerhardts stieg das Bild des Knaben auf, der ihm auf dem Wege vor der Stadt begegnete, des Knaben mit den Germanenaugen, der in so bitterliches Weinen ausbrach.

»Entsinnen Sie sich des Jungen, der das Pferd an dem Karren führte, kurz vor der Stadt? Er fiel Ihnen auf, weil er so wenig Chinesisches an sich hatte.«

»Ick weet, Stürmann, en netten Kirl. Meint Sei, dat is di Jong –?«

»Sein Bild steht jetzt wieder vor mir – und ich glaube, er ist es, der draußen das Thüringer Lied pfeift.«

»Dat 's möglich – aber de lütte Jong kann us nich helpen.«

»Schwerlich,« sagte seufzend Gerhardt, »wenn er überhaupt weiß, wo wir uns befinden.«

Ein leises Zischen das vom Fenster her klang, machte beide zusammenzucken.

Was war es? Was bedeutete es?

Leise zischte Gerhardt wieder.

Er sah nach der Fensteröffnung; draußen war es ganz dunkel, er sah nur den mit düsteren Wolken bedeckten Himmel.

Ein leises Rascheln drang vom Fenster her. Die beiden Männer lauschten. Ein Freudenschreck durchschauerte sie, als jetzt durch die Fensteröffnung eine gedämpfte Stimme zu ihren Ohren drang.

»Seid ihr hier?«

»Ja,« flüsterte Gerhardt.

»Ich warte euch – heraus – kommen.«

Wieder ein Rascheln – dann war es still.

Gleich darauf hörten sie Männerstimmen draußen, chinesische Worte klangen herein, und das Klirren von Gewehren ließ sich vernehmen. Dann herrschte Schweigen.

Wer hatte mit ihnen gesprochen?

Es war eine jugendliche Stimme, die, wie Gerhardt erkannte, mühsam Deutsch sprach.

War es der Knabe, dem sie begegnet waren, der sie Deutsch miteinander sprechen hörte?

»Ich warte euch – heraus – kommen,« wieberholte er.

»Jo, leiwe Stürmann, wenn dat en gauden Kirl is, di us helpen will, wie schallen wi rut kamen?«

Hoffnung, Hoffnung, die uns nie verläßt, zog in die Herzen der beiden Männer ein.

»Wi schallen wi rut kamen?«

»Vermögen Sie Ihre Bande nicht zu zerbrechen?«

»Dat mag woll sin, ick well glik –«

»St! Still!«

Vor der Tür ließen sich Stimmen vernehmen, Schritte kamen näher.

Die Tür wurde geöffnet, ein Wärter trat mit einer Papierlaterne herein und beleuchtete die Gefangenen, die vor ihm in festen Banden am Boden lagen.

Er nickte befriedigt und ging wieder hinaus. Gerhardt und Jan lauschten, aber kein Ton drang mehr zu ihnen.

Doch – draußen vor dem Fenster mußte ein Mann gehen – sie hörten einen leichten Schritt und ein leises metallisches Klingen.

Ach, es war klar, eine Schildwache ging vor dem Fenster auf und ab.

Vermutlich stand auch eine auf dem Gang.

»Ick heww dat satt,« sagte Jan, der gewaltig durch neu auflebende Hoffnung erregt war und schwer unter seinen Fesseln litt.

Eine herkulische Anstrengung seiner stählernen Muskeln, und die Bande, die seine Hände umschnürten, rissen – er hatte sie frei.

Gerhardt hätte vor Freude aufjauchzen mögen, als er die Stricke reißen hörte. Die Anstrengung war so groß gewesen, daß Jan schwer atmend am Boden lag.

Aber rasch erholte er sich und rieb seine schmerzenden Handgelenke.

Zum Glück hatte man den Gefangenen alles gelassen, was sie bei sich führten.

Als Jans Finger endlich wieder brauchbar waren, nahm er sein Messer aus der Tasche und durchschnitt vorsichtig die Handfesseln des neben ihm liegenden Steuermanns.

Ganz leise drang wieder die Melodie des deutschen Liedes in ihren Kerker und erfüllte sie mit neuem Mut, mußte sich auch Gerhardt zweifelnd fragen, was sollte werden, wenn sie glücklich den Kerker verließen? Wer war der unbekannte Freund? War es der Knabe? Konnte er helfen? Aber Gerhardt sagte sich doch auch: Lieber alles wagen, lieber bei einem Fluchtversuch kämpfend zu Grunde gehen, als der Grausamkeit dieser furchtbaren Mongolen zum Opfer fallen.

Dann dachte er an Fung-tu.

Sollte man ihn zurücklassen, wenn sich Aussicht auf Rettung zeigte?

Doch das war zu weit hinaus gedacht, erst mußte die Freiheit errungen werden.

Mit Wonne versicherte er sich, daß ihm sein Revolver geblieben war, er brauchte nicht wehrlos zu sterben.

Jetzt galt es zunächst, sich der schweren Fußblöcke zu entledigen.

Daß Jans Riesenkraft mit den Eisenstangen des Fensters fertig werden würde, bezweifelte Gerhardt nicht.

Und die Wache draußen?

Ah, sie würden ja sehen, nur erst wieder die Füße frei haben.

Jan war so weit vorgerutscht, daß er die Fußblöcke Gerhardts berühren konnte, sie waren mit einer riegelartigen Vorrichtung verschlossen, die der Eingeschlossene selbst nicht erreichen konnte. Es war ganz dunkel in der Zelle. Dem vorsichtigen Tasten der geschickten Seemannshände gelang es, den Verschluß zu öffnen, und freudig aufatmend sprang Gerhardt auf die Füße, um gleich darauf auch seinen Gefährten zu befreien.

»Ick bin man froh, dat ick di Steweln nich mehr anheww, dat 's keen Vergneugen.«

Gerhardt mahnte zum Schweigen und forderte Jan auf, die beiden gewichtigen Fußblöcke am Fenster aufzutürmen. Dies tat Jan geräuschlos.

Gerhardt kletterte hinauf, er erreichte bequem die Fensteröffnung.

Bei dem schwachen Licht erkannte er nur den Wasserlauf, der von Schilfsäumen eingefaßt war, auch überzeugte er sich, daß der Boden leicht zu erreichen war, wenn sie die Fensteröffnung verließen, die sich als groß genug erwies, sie hinauszulassen, sobald zwei Stäbe entfernt wurden.

Wenn dies gelang, konnten sie ohne Mühe ihr Vorhaben ausführen.

Und dann?

Das weitere mußte dem Zufall überlassen bleiben.

Von einer Wache bemerkte er draußen nichts. Ebensowenig aber auch von dem unbekannten Freunde.

Gleich einer himmlischen Melodie berührte wiederum das leise gepfiffene Volkslied sein Ohr, der Laut kam vom jenseitigen Ufer oder vom Wasser.

War das letztere der Fall, dann mußte der Freund sich in einem Boot befinden.

siehe Bildunterschrift

Jan faßte den Soldaten mit starker Faust.

Gerhardt stieg vorsichtig hinab, um Jan Platz zu machen.

Dieser betrachtete, oben angelangt, die Eisenstangen, sie waren verrostet und nicht sehr dick.

Er strengte vorsichtig die Kraft seiner Arme an, die Stange bog sich – ein gewaltiger Ruck und er hatte sie in der Hand. Aber das war nicht ohne Geräusch abgegangen. Schritte wurden hörbar, und ein Mann trat zu dem Fenster heran.

Ohne sich zu besinnen, faßte Jan ihn mit gewaltiger Hand im Nacken, den konnte sie gerade erreichen, und hob ihn, als ob es ein Kind wäre, zur Fensteröffnung empor.

Er sah ein in Todesangst verzerrtes Mongolengesicht vor sich; der Mann war durch den eisenfesten Druck der Finger des Kochs unfähig, einen Laut von sich zu geben.

Einen Augenblick dachte Jan daran, ihn in die Zelle zu ziehen, doch war dies schwierig und konnte Lärm verursachen; so begnügte er sich, ihm einen furchtbaren Faustschlag zu versetzen und ihn zurückgleiten zu lassen. Der Mann fiel wie ein Stück Holz zu Boden.

In großer Aufregung wohnte Gerhardt dem Vorgang bei, den er mehr ahnen als sehen konnte.

Jetzt galt kein Zögern mehr.

Jan brach die zweite Eisenstange los. Der Weg war frei.

»Hinaus, Jan.«

»All recht, Stürmann.«

Jan kletterte hinaus und gewann mit leichter Mühe den Boden.

Schon stand Gerhardt auf den Blöcken, als ein zweiter Soldat draußen heranschritt.

Der mochte in der Dunkelheit wohl Jan für seinen Kameraden halten und rief ihm einige Worte zu, des Kochs gewichtige Faust streckte ihn mit einem Schlage nieder.

Gerhardt stand jetzt neben Jan.

»Nehmen wir ihnen die Gewehre und Patrontaschen, Jan.«

Das war rasch geschehen.

Jetzt rauschte vor ihnen das Wasser auf, und sie gewahrten ein leichtes Boot und schattenhaft eine Menschengestalt darin.

»Kommt,« flüsterte es zu ihnen her.

Das Boot war am Ufer, und beide stiegen ohne Zögern ein.

Augenblicklich entfernte sich das Boot vom Ufer.

»Wer bist du?« fragte Gerhardt die schlanke Gestalt, die das Ruder führte.

»Guter Freund – ganz deutsch – guter Freund – nicht sprechen – still.«

Trotz seiner Erregung gedachte Gerhardt Fung-tus.

»Wir haben noch einen Gefährten im Gefängnis,« sagte er, »wir müssen auch ihn retten.«

»Nicht können – gleich Soldaten da. Rudern.«

Er gab Gerhardt und Jan Ruderschaufeln, die sie alsbald in Bewegung setzten, und der Knabe steuerte das Boot stromauf.

Unter den vereinten Kräften der beiden Seeleute flog das leichte Fahrzeug über das Wasser hin.

Vom Gefängnis her tönten Rufe, krachten Schüsse – die Flucht der Gefangenen war entdeckt. Auch Laternen und Fackeln waren dort zu sehen.

Schweigend und dunkel lagen die Ufer da, zwischen denen das Boot mit immer gleicher Geschwindigkeit dahinfuhr.

Von einer Verfolgung war nichts zu gewahren. Endlich erreichten sie Wald, dunkler noch wurde es um sie herum, doch der am Steuer mußte den Fluß wohl kennen, er steuerte sicher. Endlich hielt er zum rechten Ufer und ließ das Boot in das Schilf laufen. Gleich darauf hatten sie festes Land vor sich.

»Steigen aus,« sagte der Führer.

Gerhardt und Jan nahmen die Gewehre und Patrontaschen, die sie den Soldaten abgenommen hatten, und betraten das Land; ihnen folgte ihr Retter.

»Hinter kommen,« sagte er, »dicht,« und schritt voran in den hochstämmigen Wald.

Gerhardt und Jan folgten.

Nach kurzer Zeit erreichten sie ein Gebäude, schattenhaft nur in der Dunkelheit zu erkennen.

»Hier sicher,« sagte die jugendliche Stimme des Führers, »kein Chinese kommt – böse Geister.«

Ihm dicht folgend, betraten sie einen dunklen Raum, der bedacht war.

»Feuer machen.«

Gerhardt und Jan blieben im Dunkeln stehen, während ihr geheimnisvoller Gefährte sich in der Nähe beschäftigte.

Gleich darauf aber erhellte sich der Raum, eine Flamme loderte empor, und nun sahen Gerhardt und Jan ihren Retter. Es war der Knabe, den sie vor der Stadt erblickt hatten; er stand vor ihnen in seiner ärmlichen Kleidung und blickte sie mit leuchtenden Augen an.

»Wer, wer bist du, Kind? Wer bist du?«

»Deutscher, Deutscher. Nicht gut mehr sprechen kann – zu lange nicht gesprochen – aber denken, immer denken – deutsch – alles deutsch.«

»Du armer Junge, wie bist du hierher gekommen?«

»Alles sagen, Herz ganz voll, zu viel, zu viel.«

Der Knabe setzte sich auf eine Bank, die neben dem Herd stand, auf dem er Feuer entzündet hatte, verhüllte sein Gesicht mit den Händen und schluchzte leise.

Trotz aller Beängstigung, die ihre Lage mit sich führte, fühlte Gerhardt rege Teilnahme mit dem deutschen Kinde, das in Chinesentracht dort vor ihm saß und dem Anscheine nach nur noch mühsam Deutsch sprach.

Gerhardt sah sich um in dem Raume.

Verfallenes Mauerwerk erblickte er nun, eine dunkle Balkendecke über sich, vermoderte und zerbröckelte Schnitzereien an den Wänden, ein am Boden liegendes Götzenbild und eine Treppe, die nach oben führte. Ein im Schatten liegender Ausgang schien in Nebenräume zu führen.

Jan hatte sich niedergelassen und blickte bald den weinenden Knaben an, bald Gerhardt, bald schaute er sich scheu in dem düsteren verfallenen Raume um.

Sein Auge wieder dem Knaben zuwendend, sagte er dann: »Dats een kleenen deutschen Mann, Stürmann?«

»Ja, den ein seltsames Schicksal hierher geschleudert haben muß.«

»Awer wo sin wi, dat 's hier ook gruslich.«

»Wie der Knabe sagt, sind wir in Sicherheit, zunächst wenigstens, und Jan, fangen lassen wir uns nicht wieder.«

»Ick nich –« sagte Jan bestimmt, »ick heww mit di Chinesers nix vor.«

»Muß es sein, so wollen wir fechten und fechtend fallen.«

»Dat sall so sin, Stürmann, insperren lat ick mi ook nich mehr.«

Gerhardt ergriff die Waffe, die er dem Soldaten abgenommen hatte, es war ein gutes Henry-Metfordgewehr, und wenn auch unsauber gehalten, doch noch gut im stande.

Er ließ das Schloß spielen, öffnete die Kammer, alles war in Ordnung und die Patrontasche enthielt mehr als dreißig Patronen. Ebenso verhielt es sich mit dem andern Gewehr.

Der Knabe erhob sich jetzt, trat in den dunklen Gang, den Gerhardt gewahrt hatte, und kehrte mit großen Stücken geräucherten Fleisches, geräucherter Fische und einer Anzahl der kleinen Brote zurück, wie sie die chinesischen Landleute backen.

Das war für Jan ein wonniger Anblick, und er begann alsbald den Speisen zuzusprechen.

Der Knabe holte irdene Gefäße herbei, füllte sie mit Wasser, tat in das eine Reis und setzte sie an das Feuer.

Aufmerksam sah ihm Gerhardt zu.

Der Knabe war hochgewachsen, seine Glieder stark, und sein schönes Gesicht, das die tiefe Bewegung seines Innern widerspiegelte, hatte etwas Gutes, etwas unendlich Einnehmendes an sich.

Er holte auch Tee und Tassen herbei, schweigend, und Gerhardt ließ ihn so gewähren, bis er die Erregung seiner Seele überwunden haben würde. Als das Wasser kochte, bereitete er Tee, überreichte die Tassen den beiden und setzte sich.

Es war still in dem verfallenen Raume, der notdürftig durch das Feuer erhellt wurde.

Der Knabe richtete dann die Blicke auf Gerhardts männliches Gesicht mit dem Ausdruck seltener Freude.

»Wie kommt es, mein junger Lebensretter, daß ich dich hier finde, wer bist du?«

Der Knabe lauschte dem Klange der Worte mit wonnigem Behagen wie es schien.

»O, o,« sagte er dann, »o wie schön, wie schön. O, lang kein deutsches Wort gehört – o, so lange nicht.«

»Es muß ein seltsames hartes Schicksal sein, das dich hierhergeschleudert hat, Kind, und dich wie durch eine Fügung Gottes zum Werkzeug unsrer Rettung gemacht. Wie alt bist du?«

»Ich glaube fünfzehn Jahre – nicht genau fünfzehn – ja.«

Mit einem Male warf er sich zu Gerhardts Füßen.

»O, mitnehmen – nimm mich mit in die Heimat – zu meiner Mutter, nimm mich mit, nimm mich mit, ich sterbe sonst.«

Gerhardt fühlte sich von dem so leidenschaftlichen Gefühlsausbruch auf das tiefste erschüttert.

Er streichelte sanft des Knaben Wange und sagte in bewegtem Ton: »So Gott es will, erreichen wir alle die Heimat wieder. Das Schicksal hat uns inmitten drohender Gefahren vereint und wir wollen fortan gemeinsam tragen, was es über uns verhängt hat.«

»Ja, ja, ja,« sagte der Knabe leidenschaftlich. »Ich gehe nicht mehr von dir. O, du glaubst nicht, wie ich dich sprechen hörte, und die Töne, die ich so lange nicht gehört hatte, mir – zum Herzen drangen – o – das Glück – das Glück – o – ich hätte dir um den Hals fallen mögen – ach – ach – ich konnte nur weinen. Aber ich wußte jetzt, daß du Deutscher bist – ich sah, wie euch die Chinesen ins Gefängnis schleppten – ich kenne es – ich mußte euch retten oder sterben. Mir fiel das Lied ein – Worte vergessen – nicht Melodie – Mutter sang's – o, o meine Mutter, meine Mutter,« und er brach in einen Tränenstrom aus.

Gerhardt ließ ihn sich ausweinen und sagte dann: »Du wirst sie Wiedersehen, Gott ist gütig.«

Der Knabe erhob das tränenüberströmte Antlitz.

»Ich war der Sklave dieser gelben Menschen, wie ein Tier behandelten sie mich. Nur einer war gut gegen mich, ein alter Mann, er war ein Taiping und war ein Christ. Er hatte mich lieb. Dies war sein Zufluchtsort hier, es ist ein alter Tempel und die Gelben fliehen ihn; böse Geister sollen hier hausen; er führte mich hierher, weil er mir vertraute und mich lieb hatte, aber retten konnte er mich nicht. Er wartete immer auf Hung-li, den jungen Taipingkönig, daß er zum Kampfe rufe, aber der kam nicht. Und so haben sie den alten Seitschun, weil er zu laut vom Taipingkönig gesprochen hatte, ins Gefängnis geworfen, und dort ist er gestorben. Er war mein einziger Freund. Als er schied, dachte ich nur an Flucht, und brachte Speise hierher – aber ich konnte nicht fort. Dreimal versuchte ich es und dreimal wurde ich zurückgebracht. Mein Äußeres verriet mich. O, wenn ich stark bin und groß, sollen die Gelben sehen!«

Er sprach mit geballten Fäusten, und die blauen Augen blitzten jetzt in loderndem Zorn.

»Aber wie, Kind, kamst du hierher?«

»Wir waren auf dem Schiffe, der Papa und ich, um Großpapa zu besuchen, der ein Kaufmann an der See ist; Großpapa war alt und wollte mich sehen, ehe er stürbe. Wir waren lange auf der See gefahren. Da kam ein Sturm – schrecklich – das Schiff war entzwei – es konnte nicht mehr fort. Da kamen Räuber vom Lande in Booten – o – sie schlugen alle tot – auch – den Vater –« der Knabe schauderte, »nur mich schleppten sie fort. Ich wurde Sklave eines chinesischen Hauses, schlechter behandelt als ein Hund. Ich lief fort ins Land hinein, ich geriet in andre Hände, sie freuten sich über den kleinen Fankwei, wie über ein seltenes Tier. Ich mußte arbeiten, kochen, laufen, mit den Kulis schlafen, ich sann immer auf Flucht. Ich verlernte fast die Muttersprache, ich sprach nur noch chinesisch. Wieder lief ich fort, auf ein Schiff am Flusse Kwang-ho. Da geriet ich in die Hände des Fischers Tschang. Er nahm mich mit hierher als Sklave. Hier weile ich – ich weiß nicht zwei oder drei Jahre – ich weiß nicht. Mein Trost war einzig der alte Taiping, der in Nanking gefochten hatte mit dem Tien-te, weißt du, dem Taipingkönig. Ich kenne den Fluß, ich kenne den Wald. Jetzt erzählen sie, die gelben Menschen, alle Fankweis seien erschlagen. Da sah ich euch, ich hörte euch reden – da wußte ich, daß sie auch euch erschlagen würden, o – o Gott sei Dank – ich rettete euch.«

Dies alles kam stückweise heraus, oftmals mußte sich der Knabe aus den Ausdruck besinnen: er war des Gebrauches der Muttersprache entwöhnt worden in gar jugendlichem Alter; in einem Alter, wo der Sprachschatz noch nicht groß war.

Mit inniger Teilnahme lauschte Gerhardt den Mitteilungen des Knaben, und Jan, der herzhaft gegessen hatte, war so gerührt, daß ihm die Tränen in den Augen standen.

»So 'n armen lütten Kirl,« sagte er dann.

»Armer Junge, was hast du erduldet – und,« fügte Gerhardt in Gedanken hinzu, »was werden wir noch erdulden?«

»Wie heißest du denn, Kind? Und wo stammst du her?«

»Ich heiße Wilhelm Stromberg und bin aus Berlin. Bringe mich nur zurück, dann werde ich Soldat, und dann sollen sich die Gelben in acht nehmen.«

Als der Knabe den Namen Wilhelm Stromberg nannte, stieg vor Gerhardts geistigem Auge das Bild der geisteskranken Frau auf, die im Tiergarten sich bei Kau-ti nach der Rückkehr ihres Mannes und ihres kleinen Willi erkundigte.

Das war also der Knabe, nach dem sie sich sehnte? Den das Schicksal ihm tief im Reiche der Mitte zu seinem Heile in den Weg geführt hatte? »Der Vater erschlagen, die Mutter wahnsinnig! Du armes, armes Kind!«

»Ach, wie wird sich Mama freuen, wenn ich wieder komme. Wie wird sie geweint haben um den Vater, um mich. Den lieben Papa kann ich ihr nicht wieder bringen, der ist beim lieben Gott, ach, umso lieber muß ich sie haben – die gute, gute Mama.«

Gerhardt waren die Tränen nah, als er der armen geisteskranken Frau gedachte, die ihr Kind mit so rührender Liebe erwähnte. Er schwieg lange, auch Wilhelm schwieg. Endlich fragte Gerhardt: »Wie denkst du dir denn nun unsre ferneren Maßnahmen, unser Entkommen?«

»Ich will dir sagen,« erwiderte Wilhelm und sah ihn mit klugen Augen an. »Wir müssen in der Nacht gehen und einsame Wege; die Chinesen fürchten die Nacht, weil sie glauben, daß die bösen Geister dann lebendig sind und umherschweben. Wir gehen, bis wir den Fluß weiter unten erreichen, nehmen ein Boot und fahren hinab. Der Fluß mündet in den großen Kwang-ho, und diesem folgen wir, er läuft ins Meer, ich weiß es, und dort sind Europäer.«

»Ach, das wird eine lange Fahrt werden.«

»Ja – es muß sehr weit sein. Ich selbst wollte,« fuhr er vertraulich fort, »schon einmal zu den Missionaren laufen, die hinter den Bergen wohnen sollen.« Gerhardt horchte auf. »Aber sie fingen mich wieder ein. Auch jetzt würde ich sagen, wir wollen unsern Weg zur Mission suchen, aber die Männer vom Bunde der ›Starken Hand‹ werden sie alle erschlagen haben.«

Gerhardt wurde sehr bleich und zitterte, so daß der Knabe es gewahrte.

»Fehlt dir etwas?«

»Hast du darüber Genaueres gehört – sprich!«

»Die Leute sagen es, auch sind Krieger hier durchgekommen, die dorthin zogen.«

»Weißt du, wo die Mission liegt?«

»Hinter den Bergen, einige Tagereisen von hier, mehr weiß ich nicht.«

In hoher Aufregung ging Gerhardt hin und her.

»Ich muß zur Mission, Kind, so rasch als möglich, dort ist mein Bruder, seinetwegen bin ich hier. O, wenn ich zu spät gekommen wäre.«

»Sei ruhig, ich führe dich hin.«

»Man wird uns verfolgen.«

»Das werden sie. Aber sie werden euch stromabwärts suchen. Doch wenn auch nach den Bergen Verfolger gehen, sie sollen uns nichts anhaben. Mich allein konnten sie fangen, als ich davongelaufen war, denn ich hatte keine Nahrungsmittel und mußte in die Dörfer gehen, um nicht zu verhungern. Jetzt habe ich Speise gesammelt – und ihr habt Flinten. Jetzt können wir die Mission erreichen.«

Die Worte des Knaben über das vermutliche Schicksal der Mission hatten Gerhardt in tiefe Verzweiflung gestürzt. Er hätte laut aufschreien mögen in bitterem Jammer – er hätte hinausstürzen mögen und laufen, laufen, bis er die Mission erreicht hätte. Und dann?

»Können wir nicht aufbrechen?« fragte er hastig.

»Dunkel, nein. Dichter Wald, warten, bis Sonne scheint. Schlafe – ich werde wachen.«

Aber an Schlaf war für Gerhardt nicht zu denken, zu stürmisch wogten die Gefühle in seiner Brust. Auch der Knabe war zu leidenschaftlich erregt, um Ruhe finden zu können.

Jan aber, ob ihn gleich die Begegnung mit dem Kinde, wie dessen hartes Schicksal sehr gerührt hatten, war sanft in einer Ecke entschlummert. Die so unsichere und gefährliche Lage, in der sie sich befanden, beeinträchtigte seine Gemütsruhe umsoweniger, als er gut gegessen hatte; Jan fürchtete nur eingesperrt zu werden, alles andre nahm er höchst kaltblütig; auch verließ er sich nach Matrosenart fest auf seinen Steuermann.

Nicht lange ließ der Morgen auf sich warten. Kaum röteten die ersten Sonnenstrahlen die Gipfel der Bäume, als der Knabe das Feuer von neuem aufflackern ließ und Tee bereitete. Gerhardt aber sah nach den Waffen.

Jan wurde geweckt. Er erwachte mit den Worten: »Sin die Chinesers all da, Stürmann?«

»Hoffentlich nicht, aber wir müssen fort.«

»Wie denkst du nun,« fragte Gerhardt den Knaben, »den Weg zur Mission zu finden?«

»Sie liegt nach Westen hinter den Bergen,« erwiderte dieser, »wie weit, weiß ich nicht genau, ich muß unterwegs fragen.«

»Hat das nicht Gefahren?«

»Wir müssen diese zu vermeiden suchen; ich spreche Chinesisch wie ein Eingeborener.«

»Aber wie denkst du den Weg zu nehmen, der uns vor Gefangennahme sichert?«

»Zunächst durch den Wald, in dem wir kaum Begegnungen zu fürchten haben, dann müssen wir die Straße die Nacht über benützen und die Dörfer umgehen. Ich bin, als ich dem alten fürchterlichen Tschang entlief, bis an einen See gekommen, den man überfahren oder umschreiten muß. Am Westufer des Sees erheben sich Berge, hinter diesen Bergen soll die Mission im Tale liegen.«

Daß sie die Mission im Westen zu suchen hatten, wußte Gerhardt, und die Vorschläge des Knaben zeugten von dessen Klugheit.

Daß man sie von Lao-tschi aus verfolgen würde, daran zweifelte er nicht, aber es war wahrscheinlich, daß dies wesentlich stromab geschah. Doch, wie dem auch sei, gewagt mußte alles werden, Gefahr war hier und dort, und ein gütiges Geschick hatte sie bis jetzt so wunderbar beschützt, daß, wäre die bittere Sorge um das Schicksal des Bruders nicht gewesen, Gerhardt mit dem Vertrauen und der Zuversicht der Jugend ausgezogen wäre.

Sie füllten sich die Taschen mit Nahrungsmitteln, nahmen die Gewehre und Patrontaschen und schickten sich an, ihren Zufluchtsort zu verlassen.

Zu seiner Überraschung gewahrte Gerhardt, wie der Knabe vor eine hölzerne Tafel trat, auf der chinesische Worte standen und augenscheinlich betete.

Er wartete, bis er geendet hatte und fragte dann sehr ernst: »Betest du chinesische Götzen an?«

»Nein,« erwiderte lächelnd der Knabe, »wie werde ich den vergessen, der mich in allem Leid aufrecht erhalten hat? Nein, es ist die Ahnentafel Seitschuns des Taiping. Die Chinesen, und das ist ihr schönster Zug, verehren ihre Eltern im Leben wie im Tode mit tiefer Ehrfurcht, und es lebt kein Chinese, der nicht, sowie er sich vom Schlafe erhebt, vor die Tafel trete, auf der die Namen seiner Ahnen verzeichnet stehen, und für ihre Seelen betete. Der alte, gegen mich so gütige Taipingkrieger bat mich, da er keinen Sohn habe, möge ich für seine Seele beten, und ich finde nichts Sündhaftes darin, mein Versprechen zu halten.«

»Nein, mein Kind, es ist gewiß nicht sündhaft, daß du dankbar deines Wohltäters gedenkst.«

Sie traten hinaus in den frischen Morgen. Jetzt erst erkannte Gerhardt, daß er die Nacht in einem sicher sehr alten, seit langem verfallenen Hause zugebracht hatte, dessen Trümmer, soweit sie aus Stein bestanden, sich düster hier inmitten des hochstämmigen Waldes erhoben. Der Form nach mußte es einst ein Grabmal gewesen sein, wie man solche hervorragenden Persönlichkeiten in China errichtet. Er begriff jetzt den Aberglauben, der den Chinesen, der so ängstlich die allem Leben feindlichen Dämonen fürchtet, von dieser Stätte fern halten konnte.

Die Ruine schien ganz dazu gemacht, die Wohnstätte unheimlicher Wesen zu sein.

Unter Wilhelms Führung, der immer mit neuer Bewunderung auf die stattliche Erscheinung Gerhardts und den breitschultrigen Jan mit dem dicken gutmütigen Gesicht blickte, traten sie ihren Weg durch den dichten, aus Nadelhölzern und Steineichen bestehenden Wald an.

Soweit das Sonnenlicht es erlaubte, achtete der Seemann darauf, daß fortwährend westliche Richtung innegehalten wurde, die auch Wilhelm nicht verfehlte.

Als die Sonne im Zenith zu ihrer Linken stand, war Gerhardt überzeugt, daß sie fortwährend nach Westen gegangen waren.

Der Weg durch den Wald über einen rauhen Bergrücken war sehr anstrengend, besonders für den gewichtigen Jan, der des Gehens so wenig gewohnt war.

Menschen begegneten ihnen nicht.

Unermüdlich war Wilhelm, den eine herbe Schule abgehärtet und gestählt hatte.

Des Knaben hübsches offenes Gesicht strahlte vor Glück, und oftmals plauderte er von der Mutter und dem Glück, sie wieder zu sehen.

Das erfüllte Gerhardt immer mit neuem Weh. Er wagte es nicht, dem Kind zu sagen, daß er seiner Mutter begegnet sei, auch wußte er ja nicht, ob sie noch lebte. Aber Wilhelm hatte nur den einen Gedanken – die Mutter, die Heimat.

Sie waren an dem Rande des Waldes angekommen und blickten hinunter in eine fruchtbare mit Dörfern besäte Ebene, durch die sich die Landstraße hinzog.

Nicht allein ein Gebot der Vorsicht und Klugheit war es, hier halt zu machen, es war eine Notwendigkeit, denn alle fühlten sich erschöpft: selbst Wilhelm ließ erkennen, daß seine elastische Kraft nachließ.

Man suchte ein dichtes Gebüsch am Rande des Waldes aus und ließ sich dort nieder. Bald lagen alle in tiefem Schlaf.

Schon nahte sich die Sonne dem Horizonte, als Wilhelm erwachte.

Er weckte die andern, da es notwendig war, noch bei Licht den Weg durch den Wald nach der Landstraße zurückzulegen, um die Reise nach Einbruch der Dunkelheit dann auf dieser fortzusetzen.

Sie waren bis an die Straße gekommen, die gänzlich vereinsamt schien. Dennoch zögerten sie, auf sie hinaus zu treten, zudem schien es Gerhardt, als ob er von Osten her das Geräusch aufschlagender Pferdehufe vernehme.

Auch Wilhelm, der sehr scharfe Sinne zu haben schien, war der Meinung, daß Reiter kämen.

Da die Straße nach Osten zu eine Biegung machte, so daß man sie nicht weit übersehen konnte, lief der flinke Knabe in den Büschen zur Seite des Weges hin, um sich über das beunruhigende Geräusch zu vergewissern.

Nach kurzer Frist kehrte er zurück und berichtete, daß fünf Reiter kämen, und daß es ihm schien, als ob Soldaten, die er an den Lanzen erkannte, einen Gefangenen in ihrer Mitte hätten.

Er hatte kaum ausgesprochen, als die Reiter, deren Pferde Schritt gingen, schon an der Straßenbiegung erschienen.

Die Vermutung des Knaben schien zuzutreffen, denn vier bewaffnete Leute hatten einen fünften in der Mitte.

Als sie näher kamen, erkannte Gerhardt in dem unbewaffneten Reiter zu seiner nicht geringen Überraschung Fung-tu, der sehr niedergeschlagen einherritt.

»Jan, da kommt unser Freund Fung-tu. Fertig zum Feuern, den müssen wir befreien.«

»Recht, Stürmann, dat 's en gauden Kirl.«

»Aber nicht eher schießen, bis ich es sage.«

»All gaud.«

Wilhelm lauschte den Reden der beiden Männer und fragte dann: »Wollt ihr den Gefangenen befreien?«

»Ja, mein Junge, es ist unser Freund und war unser Mitgefangener.«

»Gut, ich werde die Reiter erschrecken.«

»Was willst du beginnen?«

»Gib nur acht, sie sind entsetzlich abergläubisch, besonders wenn es dunkel wird; ich habe die Gelben oft erschreckt.«

Die Reiter waren jetzt ganz nahe, und Gerhardt war entschlossen, Blut zu vergießen, wenn es nötig sein sollte, um Fung-tu zu befreien.

Ein lang hingezogener dumpfer Schrei, der dem Rufe unsres Uhu ähnlich klang, ließ sich vernehmen.

Wilhelm stand mit der Hand am Munde unweit und stieß den Schrei aus.

Wie aus Kommando zügelten die Reiter ihre Rosse und blickten scheu zu dem düsteren Walde empor, aus dem der Schrei herniederklang.

Wilhelm war geräuschlos zehn Schritt weiter geschlüpft und ließ von neuem den Unglück weissagenden Ruf des Nachtvogels vernehmen. Mit erstaunlicher Schnelle kehrte er zu Gerhardt zurück und sagte: »Schießen! Sie fürchten sich.«

»Über die Kopfe weg, Jan.«

Beide legten an, und zwei Schüsse weckten donnernd das Echo des Waldes.

Gerhardt hatte dem ersten Reiter dicht vor dem Kopfe vorbeigeschossen und dabei die aufrecht getragene Lanze getroffen, die dem Reiter aus der Hand geschleudert wurde; Jans Kugel streifte den Hals eines weiter zurückstehenden Pferdes, das sich erschreckt hoch aufbäumte.

Die hereinbrechende Nacht, der Vogelschrei, die unerwarteten Schüsse, das Davonfliegen der Lanze, das sich wild bäumende Pferd, das alles war für die in dem Glauben an unzählige böse Geister auferzogenen Chinesen zu viel; sie rissen die Pferde herum und jagten in wilder Eile davon, den Gefangenen einsam auf der Straße zurücklassend.

Wilhelm lachte unbändig.

»Ich kenne sie, ich weiß, wie sehr sie den Ruf des Nachtvogels fürchten.«

siehe Bildunterschrift

Zwei Schüsse weckten donnernd das Echo des Waldes.

Die Reiter waren verschwunden.

Gerhardt ging auf die Straße hinaus auf Fung-tu zu, der ihn mit nicht geringer Freude erblickte, faßte dessen Pferd am Zügel und zog es in die Büsche. Eine Minute horchten sie noch auf den Hufschlag der davongaloppierenden Rosse, bis auch dieser verhallt war.

»Welch ein Glück, mein werter Freund!«

»Ja, welch ein Glück!«

»Ihr müßt nicht übel von uns denken,« fuhr Gerhardt fort, »daß wir uns von diesem deutschen Knaben befreien ließen, aber es war unmöglich, Euch Hilfe zu bringen.«

»Ich glaube es, mein Freund, doch auch dies war zu meinem Heile. Heute morgen wurde ich wieder vor den Richter geführt, dort erfuhr ich eure geheimnisvolle Flucht, die niemand sich erklären konnte. Ich sagte dem Richter, ihr verfügtet über unbekannte Kräfte, deren Wirkung er noch kennen lernen werde, und wiederholte ihm, daß ich mit meinen Begleitern unter dem Schutze des Prinzen Tuan stände, was auch meine Papiere auswiesen. Dies machte den Richter doch stutzig, und er beschloß, mich dem General Tung-fu-shiang, der uns festgenommen hatte, nachzusenden, meine Leute ließ er frei. So kam es, daß ihr mich hier fandet.«

Gerhardt erklärte ihm nun das Geheimnis ihrer Flucht. Mit Verwunderung vernahm es der Chinese, und staunend blickte er auf Wilhelm, den jungen Deutschen.

Er redete ihn an und fand, daß er vorzüglich Chinesisch sprach.

Es ward beschlossen, die Reise rasch fortzusetzen, und zwar sollte Wilhelm, der auch auf dem Rücken eines Pferdes zu Hause war, voranreiten, als Späher, während die anderen zu Fuße folgten.

So geschah es. Der mutige und kluge Knabe, der unendlich glücklich war in der Gesellschaft der beiden Landsleute und die Hoffnung im Herzen trug, nach langer, grausamer Gefangenschaft seine Mutter, sein Heimatland wieder zu sehen, ritt vorsichtig einher, auf alles lauschend und mit den scharfen Augen die Nacht durchdringend.

Sie umgingen mehrere Dörfer und legten, ohne auf Menschen zu stoßen, eine große Strecke zurück.

Erst mit dem Erbleichen der Sterne und als sie wieder Wald erreichten, machten sie Halt und ließen sich am Ufer eines Wasserrinnsals in dichten Büschen nieder.

Als es Tag geworden war und Fung-tu die Gegend überschauen konnte, glaubte er, daß mit einem Tagesmarsche die Mission zu erreichen sei.

Zwar drängte es Gerhardt vorwärts, aber Erschöpfung, die Tageshelle, die unbekannte Gegend zwangen sie zu verharren, um Gefahren zu meiden und Ruhe und Erholung von der Anstrengung des nächtlichen Marsches zu suchen.

Sie schickten sich an zu schlafen, doch mußte nach Gerhardts Anordnung stets einer von ihnen Wache halten. Gerhardt erbot sich, der erste zu sein, doch ließ es Fung-tu nicht zu. Bald lagen außer ihm alle in süßem Schlummer.

Die Zeit verrann, die Felder belebten sich mit Landleuten aus den Dörfern, hie und da zogen auch Saumtiere, Lastträger oder ein knarrender zweirädriger Karren die Straße entlang, doch blieben die Flüchtlinge ungestört.

Gerhardt, der unruhig und von Träumen geängstigt, die ihm seinen Bruder, dem er nun so nahe gekommen war, in Todesnot zeigten, geschlafen hatte, erwachte zuerst. Jan schlief fest und auch der Knabe, dessen Gesicht ein unendlich glückliches Lächeln trug. Gerhardt wachte nun, während Fung-tu kurze Ruhe suchte.

Auch im Wachen sah Gerhardt Schreckgespenster und hörte seinen Bruder nach Hilfe rufen.

Dieser Zustand wurde ihm so unerträglich, daß er sich erhob, um die nächsten Büsche zu durchstreifen.

Die Gefährlichkeit ihrer Lage nötigte ihm die größte Vorsicht auf, er bewegte sich langsam, lauschend und spähend geräuschlos im Kreise um das Lager.

Ein eisiger Schreck durchzuckte ihn, als er plötzlich einen Chinesen vor sich sah, der durch auseinandergebogene Büsche eifrig auf die Schläfer hinstarrte.

Schon zuckte Gerhardts Hand nach der Flinte, aber bedenkend, wie gefährlich ein Schuß sei, und den Mann ganz ahnungslos und vertieft in den überraschenden Anblick vor sich sehend, beschloß er, sich seiner zu bemächtigen.

Unhörbar, Schritt vor Schritt nahte er dem verdächtigen Lauscher, schon stand er dicht hinter ihm, als der Mann sich wandte. Aber ehe er auch nur einen Laut ausstoßen konnte, umspannte Gerhardts kräftige Hand seine Kehle wie mit eisernen Klammern.

Der Mann, der noch jung war, starrte entsetzt auf seinen Angreifer. Schon hatte Gerhardts Linke seinen Zopf gefaßt, die Rechte ließ jetzt die Kehle des Menschen frei, zog aber zugleich den Revolver. Der Mann war so erschreckt, daß er nicht den geringsten Versuch machte, zu fliehen.

Gerhardt, der den Zopf nicht losließ, das beste Mittel, einen Chinesen festzuhalten, der außerdem gewahrte, daß der ärmlich gekleidete Mensch unbewaffnet war, bedeutete ihn, ihm zu folgen und führte ihn zu der Stelle, wo die andern schliefen.

Er mußte Fung-tu wecken, zugleich erwachte auch Wilhelm.

Er stellte Fung-tu seinen Gefangenen vor.

»Wer bist du?« fragte ihn dieser.

»Ich bin Schi, Herr, ein Landmann.«

»Was machst du hier?«

»Holz holen, Herr, da sah ich euch schlafen.«

Der Mensch war entschieden ganz harmlos, aber dennoch schien es gefährlich, ihn ohne weiteres frei zu lassen.

»Was dachtest du, als du uns erblicktest?«

»Ich dachte, ihr seiet entflohene Fankweis, doch du, o Herr, bist kein Fankwei.«

»Würdest du uns verraten haben?«

»Nein, Herr, mir tun die Fankweis leid, ich will sie nicht töten, sie haben mir nichts getan.«

Gerhardt, dem Wilhelm leise die Antworten des Mannes, der ein gutmütiges Gesicht hatte, übersetzte, sagte jetzt: »Frage ihn, Fung-tu, ob er etwas von der Mission weiß.«

Dieser richtete eine dahin lautende Frage an ihn.

»Ich glaube,« war die Antwort, »sie werden alle tot sein.«

Ein namenloser Jammer erfaßte Gerhardt, als ihm dies übertragen wurde.

»Warum glaubst du das?« brachte er zitternd hervor.

»Die Brüder von der ›Starken Hand‹ wollen sie vertilgen,« war des Chinesen Antwort.

»Gehörst du auch zu diesen?« fragte Fung-tu.

»Nein,« erwiderte der Mann mit unverkennbarem Ausdruck des Widerwillens.

Fung-tu fragte, dies wohl beachtend, weiter: »Aber auch du bist ein Feind der Christen?«

»Nein,« sagte der Mann, »ich habe keine Feindschaft mit ihnen.«

Fung-tu sah ihn aufmerksam an und fuhr, wie in Gedanken versunken, leicht mit der rechten Hand über die linke Augenbraue.

Außer dem Gefangenen fiel es nur einem auf und zwar Wilhelm. Der blickte jetzt den Fremden, der leicht zusammengezuckt war und mit funkelnden Augen auf Fung-tu sah, und diesen an. Der Gefangene hob wie absichtslos die linke Hand und ließ sie langsam über die linke Wange gleiten.

Darauf erhob sich Fung-tu, ging auf den Mann zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf dieser mit einem nur Fung-tu verständlichen Laut antwortete.

»Es ist ein Freund,« sagte der Kaufmann dann, »er wird uns beistehen, wenn er kann.«

Gerhardt, obgleich er wußte, daß Fung-tu einer mächtigen geheimen Sekte angehören mußte, war doch überrascht von dem zwischen seinem Freunde und dem Gefangenen hergestellten Einvernehmen.

Fung-tu führte den Mann jetzt etwas abseits und sprach dort mit ihm.

»Es sind Taipings,« flüsterte Wilhelm dem Steuermann zu, »ich kenne die Zeichen.«

»Du kennst sie?«

»Ja, von Seitschun, der so gut gegen mich war, dem Taipingkrieger, er hat sie mich gelehrt. Sie warten alle auf Hung-li, ihren König, der ein neues Reich errichten soll.«

Jetzt wußte Gerhardt, welchem Bunde Fung-tu und Kau-ti angehörten, und ungemein überraschend war es für ihn, diesen Bund, den er längst vernichtet wähnte, noch so verbreitet und selbst einen Mann von der Stellung Kau-tis in seinen Reihen zu finden. Das flößte auch ihm Vertrauen zu dem fremden Manne ein, denn er sah jetzt klar, daß er dieser Verbrüderung, innerhalb derer Kau-ti sehr mächtig sein mußte, die ihm in den gefährlichsten Lagen zu teil gewordene Hilfe zu danken habe. Doch all sein Denken wurde von der Sorge um den Bruder zurückgedrängt.

»Frage ihn, Wilhelm, ob er etwas Genaueres von der Mission weiß.«

Dieser tat es.

»Nein,« war die Antwort, »aber sie sind verloren.«

»Können sie sich nicht wehren?«

»Die Fankweis sind tapfer, sie werden nicht wehrlos gestorben sein.«

»In wie viel Zeit können wir die Mission erreichen?«

»Bis zum Abend.«

»Fung-tu, ich muß aufbrechen, sofort. Auf, Jan, auf!«

Dieser erhob sich, den Schlaf aus den Augen reibend.

»Wat 's in Wind, Stürmann?«

»Wir müssen fort, fort. Frage den Mann, ob er uns führen will, Wilhelm, wenn nicht, gehe ich allein.«

»Ick ga mit,« sagte Jan und ergriff sein Gewehr.

Fung-tu schloß aus der an den Chinesen gerichteten Frage, was in deutscher verhandelt worden war, und sprach eifrig mit dem Manne.

Dann wandte er sich an Gerhardt: »Tung-po will uns führen, er meint, wir könnten ungesehen bis dicht an die Mission herankommen.«

»Dann fort, fort, Fung-tu, kein Augenblick ist zu verlieren. Versprechen Sie ihm einen hohen Lohn; wenn ich lebend nach Tientsin zurückkomme, gebe ich es Ihnen wieder.«

»Er soll reich belohnt werden, wenn ich am Leben bleibe.«

Auf einen Wink Fung-tus ging der Mann rasch voran und die andern folgten.

»Kind, Junge,« sagte Gerhardt, »du läufst Gefahr in unsrer Gesellschaft.«

»Ah – ich will schon fechten, wenn ich nur ein Gewehr hätte,« war die mit blitzenden Augen gegebene Erwiderung. »Du sollst schon sehen, daß ich mich nicht fürchte.«

So rasch als es Bäume und Büsche nur zuließen, unaufhörlich durch die Unruhe und Besorgnis Gerhardts angetrieben, schritten sie vorwärts. Jan stöhnte und auch der des Gehens wenig gewohnte Fung-tu seufzte und schleppte sich so gut es ging mit.

Durch Wald und Feld, über Bäche führte der Weg. Alle waren von den Anstrengungen erschöpft, selbst der Führer, nur Gerhardt schien Muskeln von Stahl zu haben, unaufhörlich, unermüdlich, die andern hie und da unterstützend, drängte er vorwärts.


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