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Hung-li

Der 19. Juli 1864 ist mit blutigen Lettern in die Geschichte des chinesischen Reiches und seiner uralten, dem Chinesenvolke heiligen Hauptstadt Nanking eingeschrieben.

Vierzehn Jahre hindurch hatte der furchtbare Aufstand der Taiping an den Grundfesten der Mandschuherrschaft gerüttelt, die dem Chinesenvolke im siebzehnten Jahrhundert mit Feuer und Schwert aufgezwungen worden war.

Siegreich war Hung, der Schöpfer und Führer des Bundes der »Gottesverehrer«, wie sie sich nannten, von Stadt zu Stadt vorgedrungen, hatte die tatarischen Anhänger des Kaisers der Dynastie Tsing in blutigen Schlachten geschlagen, die großen Städte am Jangtsekiang, endlich Kanton und dann Nanking, die einstige Residenz der Herrscher der Mingdynastie, erobert und streckte seine Hand schon nach Peking aus, als die Franzosen und Engländer sich auf die Seite der Mandschu stellten und damit das Kriegsglück wandten.

Hung, der sich an der Spitze seiner siegreichen Armeen Tien-te, das ist himmlischer Herrscher nannte, hatte vergeblich den Fremden, das ist den Europäern, die Freundeshand geboten.

Die furchtbare Not des ausgebeuteten Volkes hatte den schwärmerischen Hung, einen Mann aus altem, weitverbreitetem Geschlechte, der als armer Schulmeister auf einem Dorfe in der Nähe Kantons lebte, zum feurigen Vorkämpfer von dessen Rechten gemacht. Er hatte sich in fleißigen Studien alle Gelehrsamkeit der Chinesen angeeignet, war von mächtiger Beredsamkeit und scheute keine Gefahr, keine Verfolgung; das Heil wollte er dem Volke bringen und Befreiung von der Tyrannei der Dynastie der Mandschu.

Er vermochte den überlegenen europäischen Waffen nicht zu widerstehen. Von Stellung zu Stellung zurückgetrieben, suchte der Rest des Taipingheeres mit seinem König die Mauern von Nanking auf, diese heldenmütig verteidigend.

Die chinesische Regierung, die um ihre Existenz kämpfte, hatte inzwischen ein Heer von dreihunderttausend Mann unter Li-hung-tschang und dem Engländer Gordon vereinigt, um die Taiping aus ihrem letzten Bollwerk zu vertreiben. Diesen gesellten sich sechstausend Franzosen und viertausend Engländer mit zahlreicher Artillerie unter hervorragenden Offizieren hinzu.

Aber fast drei Monate rangen diese Heere in blutigen Kämpfen um Nankings Mauern.

Vorwerk um Vorwerk mußte genommen werden unter großen Verlusten, ehe die Belagerer sich nur den gewaltigen Mauern der alten Stadt nähern konnten. Hungersnot riß in Nanking ein, das mehr als zwei Millionen Menschen in seinen Mauern barg.

Aber trotz aller Fortschritte der Feinde, trotz der nagenden Hungersqualen erschienen die beturbanten langhaarigen Krieger Hungs Tag für Tag mit gleicher Entschlossenheit auf Schanzen und Wällen und fochten mit unvergleichlicher Todesverachtung.

Die Europäer, die geschickte Ingenieuroffiziere hatten, mußten zu einer regelmäßigen Belagerung in Laufgräben schreiten, um die Mauern der Stadt zu brechen.

So war es ihnen endlich gelungen, von der dritten Parallele aus eine Miene vorzutreiben, die nicht weniger als sechshundertdreißig Zentner Pulver barg.

Für den 19. Juli war der Hauptangriff bestimmt, die furchtbare Mine sollte den stürmenden Truppen die Stadt öffnen.

Die Scharen der Mandschu in ihren bunten Trachten, mit ihren unzähligen farbigen Bannern, die gewaltigen tatarischen Reitermassen gewährten ein buntes kriegerisches Bild, neben dem die einfachen Uniformen der Europäer unscheinbar erschienen. Aber europäische Offiziere leiteten den Angriff, wie sie die Belagerung geleitet hatten.

Als die Sturmkolonnen heranrückten, erschienen auf den Mauern die hohläugigen Gesichter der Taipingkrieger, in deren Eingeweiden der Hunger wütete. Weiber und Kinder standen in ihren Reihen, um mit der gleichen Todesverachtung wie die Männer zu kämpfen. An der Westseite der umfangreichen Stadt wurde der Angriff eröffnet, um die Aufmerksamkeit der Belagerten dorthin zu wenden, während der eigentliche Sturm von Norden aus, wo die Mine lag, erfolgen sollte.

Kanonendonner, wildes Geschrei der Kämpfenden, Stöhnen der Verwundeten füllte die Luft, aber nicht um einen Fuß breit gewannen die Mandschutruppen Raum, die Taiping fochten wie Verzweifelte.

Während aber der Kampf die Mauern umtobte, fand in dem großen Palast, den Hung, der Tien-te, bewohnte, ein feierlicher Vorgang statt.

Hung hatte seine Getreuesten um sich gesammelt. Er wußte, daß die letzte Stunde gekommen war für ihn und sein Reich, und bereitete sich vor, als Mann aus diesem Leben zu scheiden, um nicht den unerbittlichen Feinden lebend in die Hände zu fallen.

So groß die Liebe und Ehrfurcht des chinesischen Kindes zu seinem Vater sind, so ist auch der Sohn dem Vater ein teures Vermächtnis, denn der zurückbleibende Sohn muß der abgeschiedenen Seele des Vaters pietätvoll gedenken und für sie beten. Der Vater lebt im Sohne fort, darum muß dieser am Leben bleiben, um den Manen des Verstorbenen zu opfern. Von diesem Glauben, der in dem Ahnenkultus der Chinesen seinen Ausdruck findet, waren auch die Taiping nicht frei.

So empfahl Hung seinen fünfzehnjährigen Sohn, Hung-fu-tien, seinen Getreuen, und dreitausend der tapfersten seiner Anhänger schwuren, ihr Leben zu seiner Rettung zu opfern.

Ihn der Gnade Gottes empfehlend, schied der Tien-te von dem jugendlichen Hung-fu-tien und entsandte ihn aus dem Palaste, in dem nur die zurückblieben, die sich dem Tode geweiht hatten. Ununterbrochen tobte der Kampf um die Mauern, der Geschützdonner verstärkte sich mehr und mehr.

Ein furchtbares Krachen, viele Meilen weit vernehmbar, übertönte den Donner der Geschütze, die Stadt erbebte in ihren Grundfesten – hoch auf wirbelten zum Himmel die Steine der alten Mauern – die Mine war geborsten, die gewaltigen Mauern gefallen und eine sturmfreie Bresche von hundert Schritt Breite öffnete sich vor den Belagernden. Da tötete sich Hung mit seinen nächsten Anhängern im Palaste, und dieser ging in Flammen auf, damit auch die Gebeine des Tien-te nicht in die Hände der Feinde fielen.

Gleich einer Sturmflut aber ergossen sich die Kolonnen der Franzosen, Engländer und Mandschutruppen durch die Bresche. Auf allen Seiten wurde der Angriff erneuert und die im Rücken angegriffenen Verteidiger der Mauern wichen.

Furchtbar war dieses letzte Ringen. Da, inmitten des heißesten Kampfes in der Stadt und auf den Wällen öffnete sich das Südtor, und heraus brach eine Schar von dreitausend Reitern, die in ihrer Mitte ihr höchstes Kleinod, den Sohn ihres Propheten und Königs, Hung-fu-tien, mit sich führten.

So überraschend war dieser mit der Kraft der Verzweiflung ausgeführte Vorstoß, daß alles entsetzt zurückwich. Endlich ermannten sich die tatarischen Reiter und stürmten zum Angriff vor, aber fünfhundert Mann der Taipingreiter warfen sich ihnen entgegen und brachten sie in Verwirrung, kämpfend bis zum letzten Atemzug.

Während dieses Ringens setzte der andere Teil der Taiping die Flucht mit großer Schnelligkeit fort, durchbrach den Ring der Belagerer, die vor der heranbrausenden Reiterschar überall entflohen, und nahm den Weg zum Gebirge. Zwar setzten endlich die Mandschureiter nach, aber zu spät, die Taiping erreichten mit dem Sohne Hungs die Berge und verschwanden in diesen.

Über Nanking brachen alle Schrecken herein, welche die Folgen eines verlustreichen Sturmangriffs sind, alle Grausamkeit der mongolischen Rasse trat grauenvoll zu Tage, und am Abend war die volkreiche glänzende Stadt nur noch eine rauchende Trümmerstätte, gefüllt mit Leichen.

Als man am Abend Li-hung-tschang, dem chinesischen Feldherrn, berichtete, daß der Tien-te den Tod in den Flammen seines Palastes gesucht und gefunden, daß jene Reiterschar durchgebrochen sei und die Berge erreicht habe, sagte er, der wohl wußte, daß dieser gelungene Durchbruch die Rettung des Sohnes Hungs bedeute, finster: »Die Natter hat ihren Stachel zurückgelassen. Zehntausend Taels dem, der mir Hung-fu-tien lebendig oder tot bringt. Das Geschlecht muß ausgerottet werden.«

Mit aller Kraft wurde der Knabe nun verfolgt, gesucht, doch vergeblich, er ward nicht gefunden.

Der Taipingaufstand wurde unter unendlichem Blutvergießen gänzlich niedergeworfen, aber der Sohn des Taipingkönigs blieb verschwunden. Auch alle späteren Maßnahmen, sich seiner zu bemächtigen, blieben fruchtlos.

Nur fand eines Tages Li-hung-tschang einen Brief auf seinem Schreibtisch, in dem er las: »Den Tien-te konntest du töten, nicht die Idee, für welche er kämpfte, sie wird mächtiger erstehen als zuvor und China von seinen Tyrannen befreien.«

Der Sohn Hungs ward nicht ermittelt, aber sein Name wurde still von Millionen genannt und die Stunde ersehnt, wo er erscheinen und die Fahne des Aufruhrs von neuem erheben würde. Als er aber im Laufe der Jahre fern im Gebirge inmitten seiner Treuen starb, hinterließ er denen, die auf eine Wiedergeburt Chinas hofften, seinen Sohn, Hung-li, und alle Liebe und Treue seiner Anhänger wurde auf diesen übertragen. Ängstlich barg man ihn vor der Regierung, und so gut wurde das Geheimnis bewahrt, daß in Peking nur wenige eine Ahnung von der Existenz eines Enkels Hungs, des gefürchteten Taipingkönigs, hatten.

Lange Jahre vergingen, aber die schweigenden Scharen der Gottesverehrer harrten auf die Stunde, in der der Enkel ihres Propheten und Königs sie zu neuem Kampfe rufen würde. Die Idee, für welche er so tapfer gerungen hatte, war nicht erstorben.


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