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Hung-li

Der Versuch, den Kwang-ho zu gewinnen, war nicht vom Glück begünstigt gewesen. Die Reisenden trafen wiederholt auf Kriegsscharen, die ihren Weg kreuzten, und die vorsichtig eingezogenen Nachrichten ließen die Möglichkeit, ungehindert den großen Fluß zu erreichen, als aussichtslos erscheinen. Die vier Europäer waren stets der Gefahr ausgesetzt, von den fremdenfeindlichen Banden ermordet zu werden. Hatte doch Fung-tus Paß weder ihn noch seine Begleiter zu schützen vermocht, und seine stillen Freunde schienen auf dem Wege, den sie nahmen, spärlich gesät zu sein.

Jan war des Reitens herzlich überdrüssig und sehnte sich nach einem Schiffsdeck, alles andre war ihm gleichgültig, wenn er gut gespeist hatte. Gerhardt, war glücklich in der Nähe seines Bruders und wurde nur traurig, wenn er der Stunde der Trennung gedachte, die ihnen drohende Gefahr aber erfüllte ihn mit Besorgnis. Wilhelm aber begrüßte mit herzlicher Freude jeden neuen Morgen, denn jeder Tag brachte ihn der Heimat, der Mutter näher. Selig, der Sklaverei entronnen zu sein, sich in Gesellschaft wohlmeinender Freunde aus seinem Volke zu wissen, Deutsch sprechen zu können, sah er die Zukunft nur in rosigem Lichte.

Der Ernst der Lage, das Unheil, das ihnen von ungeordneten Kriegsscharen und Räuberbanden drohte, zwang die Reisenden endlich umzukehren und den Weg nach Norden zu nehmen.

Fung-tu hoffte mit einer Umgehung Pekings nordwärts das Meer und so die Hafenstädte erreichen zu können. Der Weg nach Norden war das einzige Mittel, sich der Gefahr zu entziehen, es blieb keine andre Wahl.

Verschiedene Tagemärsche hatten sie schon, die einsamsten Wege wählend, gewöhnlich im Freien übernachtend, oder bei Nacht reisend, zurückgelegt, wobei ihnen der Bote von Kang-hau, der stets in die Dörfer geschickt wurde, um Erkundigungen einzuziehen oder Nahrungsmittel einzukaufen, von großem Nutzen war, ohne eine ernstliche Gefahr zu laufen. Auch Arnold hatte chinesische Kleidung anlegen müssen, um nicht aufzufallen, und so glichen sie, auf einige Entfernung gesehen, einer Schar Eingeborener des Landes. Über die Zustände im Lande und in Peking kursierten die abenteuerlichsten Gerüchte, denen freilich kein sonderlicher Wert beizulegen war, woraus aber doch hervorging, daß der Fremdenhaß unverändert andauere und das Land sich im Kriegszustande befand.

So waren sie über rauhes, dünnbesiedeltes Gebirge in die Nähe des Sangschanho gekommen, der seinen Weg nach Osten nimmt.

Vor sich sahen sie einen, wie es schien, ziemlich umfangreichen See, an dessen Ufer sie einige Häuser und Fischerboote gewahrten. Ehe sie sich anschickten, diesen zu umreiten, lagerten sie sich in einem kleinen Gebüsch.

Der Missionsbote wurde abgeschickt, um Erkundigungen über die Stimmung der Bevölkerung und über etwaige Truppenbewegungen einzuziehen.

Fung-tu äußerte: »Die Reise eines so großen Generals wie Tung-fu-shiang nach dem Westen muß eine bedeutende Veranlassung haben. Seitdem ich ihn erblickte mitten im Lande, bin ich geneigt zu glauben, daß der Krieg nicht gut für die chinesische Regierung steht, und daß er abgesandt worden ist, um Truppen im Westen auszuheben und nach Osten zu führen. Wir müssen jetzt, da wir bald die Straße nach Sin-gan-fu kreuzen, umso vorsichtiger sein, um nicht mit Soldaten zusammenzustoßen.«

Doch sorglos überließen sie sich der Ruhe nach anstrengendem Ritte und dem Genusse eines bescheidenen Mahles.

Wilhelm, der von allen der Behendeste und Wachsamste war, durchstöberte das Gebüsch und ging spähend an dessen Grenze hin.

Zu seinem Schrecken sah er einen starken Haufen bewaffneter Leute auf das Gehölz zuschreiten, deren ganze Haltung keine freundliche Absicht vermuten ließ.

Augenblicklich benachrichtigte er die Freunde, die sofort zu den Waffen griffen.

Gerhardt blickte nach dem anrückenden Haufen aus und schlug vor, eiligst die Pferde zu besteigen, um ihnen zu entgehen.

»Der See ist groß, soviel ich weiß,« sagte Fung-tu, »wir werden ihn nicht umreiten, ohne auch vor uns Gegner zu finden.« Er hatte kaum ausgesprochen, als auch zu ihrer Seite Bewaffnete in größerer Entfernung auftauchten.

In dem Haufen, der von rückwärts ankam, wurden einige Schüsse abgefeuert, was von den andern mit Jubelgeschrei aufgenommen und durch das Abfeuern von Flinten erwidert wurde.

In eiligem Laufe kam jetzt auch ihr Bote zurück und berichtete, daß die Leute ringsum sich aufgemacht hatten, um einige flüchtende Fankweis zu fangen, die heimlich durch das Land zögen.

So hatte der vorsichtige Marsch der Flüchtlinge doch Verdacht erregt.

Die Lage war sehr gefährlich, denn einer feindlich gesinnten Bevölkerung konnten sie, wenn diese mit Ernst vorging, am wenigsten auf ihren ermatteten Pferden entgehen. Ratlos sahen sich nun die Männer an.

Da sagte Jan: »Wat is dar, Stürmann? Da sin Boote, ick denk', wir geiht up dat Water.«

Diesen Gedanken griff Gerhardt lebhaft auf. Der See bot in der Tat einen Rettungsweg und fast den einzigen.

Am Ufer lagen Boote mit herabgelassenen Mattensegeln.

Rasch einigte man sich darüber, sich eines dieser Boote zu bemächtigen und über den See zu flüchten.

»Zunächst aber,« sagte Gerhardt, »wollen wir die Bursche erschrecken.«

Er trat mit Jan an den Rand des Gebüsches und beide ließen ihre Flinten knallen, deren Kugeln trotz der noch großen Entfernung zischend über die Häupter der Anrückenden hinfuhren.

Dies brachte beide Haufen zum Stehen.

Auf Befehl Fung-tus nahmen der Bote und Wilhelm etwas Nahrungsmittel von den auf dem Rücken eines Saumtieres mitgeführten Vorräten und dann schritten sie kühn hinaus auf das Ufer des Sees zu.

Einige Männer, die dort auftauchten, entfernten sich schleunigst.

Als aber die feindlichen Haufen die Absicht der Verfolgten erkannten, rückten sie unter Geschrei vor.

»Vorwärts, Jan,« sagte Gerhardt, »nehmen Sie eines der Boote dort und machen Sie es zum Auslaufen fertig!«

»All gaud Stürmann,« sagte der kurz und ging auf das Wasser zu.

Gerhardt winkte den andern, Jan zu folgen, was diese auch taten, bis auf Arnold.

»Wir wollen den Rückzug decken, Arnold. Diesmal aber müssen wir treffen, jede unzeitige Nachsicht bringt unser aller Leben in Gefahr.«

»Ich sehe es ein, und Gott wird es mir verzeihen.«

»Fertig zum Feuern!«

Sie hoben die Gewehre und zielten auf den Haufen, den sie zuerst erblickt hatten.

»Feuer!«

Die Kugeln schlugen ein und riefen eine erkennbare Panik hervor.

Mit der Präzision und Schnelligkeit deutscher Soldaten waren die Gewehre wiederum schußfertig gemacht, und ihre Kugeln brachten dem andern Haufen grimmigen Gruß.

Auch hier war der Schreck über die Fernwirkung der Waffen der Fankweis nicht gering, auch diese machten Halt.

Zwar entluden sich in beiden feindlichen Abteilungen einige Gewehre, aber gänzlich wirkungslos.

»Jetzt zum Boote,« sagte Gerhardt, und die Waffen schußfertig, schritten beide junge Leute auf den See zu.

Jan hatte mit dem Blick des Seemanns ein Fahrzeug ausgewählt, das einen Mast mit einem der unbehilflichen Mattensegel trug, wie sie die chinesischen Fahrzeuge führen, und einige Ruderschaufeln barg.

Fung-tu, Wilhelm, der Bote, hatten sich bereits darin niedergelassen.

Jan stand mit einer langen Stange im Stern.

Gerhardt und Arnold bestiegen das Boot, und Jan stieß es mit einer Kraft ab, daß das flache Fahrzeug weit in den See hineinfuhr.

Aus den Häusern am See waren die Leute ans Wasser gelaufen und starrten nach den verwegenen Fremden hin.

Gerhardt, obgleich er nie ein solches Fahrzeug gehandhabt hatte, erkannte im Augenblick die einfache Anordnung der Takelage und ließ das fächerartig zusammengefaltete große Mattensegel hochgehen.

siehe Bildunterschrift

Flucht über den See.

Der erfahrene Seemann wußte, daß ein solches Fahrzeug nur vor dem Winde laufen konnte und Gefahr lief zu kentern, wenn es bei einigermaßen frischem Luftzug am Winde segeln wollte. Der Wind stand fast aus West und dies zwang sie, den See entlang zu segeln, statt ihn zu kreuzen.

Gerhardt festigte das Segel und setzte sich an das unbehilfliche Steuer, während Jan zu einer Ruderschaufel griff.

»Beobachte die Feinde, Arnold, und kommen sie zu nahe, sende ihnen eine Kugel zu; wir verteidigen nur unser Leben.«

»Ich will es tun,« erwiderte dieser ernst.

Die Chinesenhaufen bewegten sich jetzt dem See zu.

»Sie werden uns verfolgen.«

Der Wind war frisch genug, um das leichte Fahrzeug rasch dahin zu treiben, auch gab ihm das Gewicht der fünf Personen, die es trug, genügende Stetigkeit.

Ein Versuch, am Winde zu segeln, zeigte wie gefährlich das bei dem großen viereckigen Segel war, und Gerhardt mußte ihn sofort aufgeben.

Erkennbar war, wie den See entlang Boote von den Verfolgern, die bereits am Wasser angelangt waren, bemannt wurden.

Einige zogen Segel auf, andre verließen sich auf die Ruder. Das wurde bei dem Winde sehr bedrohlich. Hatten die Chinesen Mut genug, sich auf Schußweite zu nähern, war keine Aussicht zu entkommen. Einen Augenblick dachte Gerhardt daran, nur mit Hilfe der Ruder den See zu kreuzen. Aber er sah, wie stark die feindlichen Boote bemannt waren von Leuten, die das Ruder wohl zu handhaben wußten; die würden sie bald überholt haben.

Und am jenseitigen Ufer? Was erwartete sie da?

Warum daran denken?

Die Flüchtlinge erkannten, daß in weiter Entfernung stark bemannte Ruderboote den See kreuzten – das war noch gefährlicher, wenn deren Insassen, im Schilfe gedeckt, sie beim Landen mit Kugeln begrüßten.

Der Wind wurde stärker, das Wasser unruhiger. Mehrere von den Segelbooten vor ihnen kehrten nach dem Ufer zurück, aber die Ruderboote hielten aus.

»Versuchen Sie, Jan, ein Reep in das Segel zu schlagen, wir kriegen sonst Wasser an Bord.«

»Jo, Stürmann.«

Jan war ein sehr erfahrener und geschickter Matrose, aber dieser Befehl war bei dem Mattensegel nicht leicht auszuführen.

Dennoch gelang es ihm.

Er band die Schoten los, ließ das Segel sinken und festigte mit umherliegenden Baststricken dessen untere Abteilungen.

Es geschah zur rechten Zeit, denn der Wind frischte immer mehr auf.

Alle Segel waren jetzt auf dem See verschwunden, entweder eingenommen oder an Land zurückgekehrt, nur Ruderboote waren noch zu sehen.

»Jan und Wilhelm, nehmt die Ruder, wir müssen diese Boote sämtlich überholen und dann an Land gehen.«

Beide taten wie er sagte, auch Wilhelm verstand trefflich mit der Ruderschaufel umzugehen.

Bald flog das Boot durch das aufschäumende Wasser dahin.

Der See war in Bewegung geraten. Sie kamen in die Nähe zweier Boote, die ihren Kurs kreuzen wollten, aber schleunigst auswichen, als das schäumende Boot der Fankweis nahte.

»Feure dazwischen, Arnold; wir müssen sie fern halten, sonst sind wir verloren.«

»Hältst du es für unbedingt notwendig?«

»Willst du zusehen, wenn sie deinen Bruder töten?«

Es war nicht leicht, in dem schaukelnden Boot zu schießen, aber Arnold feuerte und mußte wohl getroffen haben, denn einer der Männer ließ seine Ruder fallen.

Beide Boote entfernten sich jetzt noch eiliger aus der Nähe des dahinjagenden Fahrzeugs. Zwar wurden auch von ihnen aus Flinten abgefeuert, doch bei der Unruhe des Wassers gänzlich erfolglos.

Endlich hatten die Flüchtlinge alle Boote, die noch auf dem Wasser waren, hinter sich. Mehrere davon kehrten zurück, doch andre, die schon weit im See waren, strebten mit Macht dem andern Ufer zu. Indes lief das Segelboot so schnell, daß es für die etwa gelandeten Feinde unmöglich war, am Ufer ihnen zuvorzukommen.

Zu ihrer Linken trat jetzt der See in einer weiten Ausbuchtung zurück, die von Wald und Felsen eingefaßt war.

Gerhardt sah sich um, kein Boot war mehr auf dem Wasser. »Wir wollen dort landen,« äußerte er, »wir finden dort Deckung. Das flache Ufer verrät uns, und ich fürchte, wir sind doch bald gezwungen, zu landen.«

Arnold und Jan stimmten zu, und Gerhardt hielt zwei Striche über Backbord.

Doch, um das Ufer der Bucht zu gewinnen, mußte das Segel niedergelassen werden.

Dies geschah und das Boot bewegte sich unter den Ruderschlägen Jans und Wilhelms dem Ufer zu.

Gerhardt sah sich nach einer Landungsstätte um, und gewahrte dabei die Mündung eines breiten Baches. Auf diese hielt er zu und lief ein.

Weder Häuser noch Menschen, noch sonst etwas Verdächtiges zeigten die Ufer, und Gerhardt hielt den Bach hinauf.

Zu ihrer Überraschung erweiterte sich dieser teichartig, und vor sich am Ufer erblickten sie eine ungewöhnlich umfangreiche, doch im Verfall begriffene Pagode und daneben andre Baulichkeiten.

Gerhardt erschrak und wollte umkehren, Fung-tu aber winkte ihm und sagte: »Ich glaube, wir landen hier sicherer als anderwärts. Jetzt weiß ich, wo ich bin. Dies ist die Pagode des ›himmlischen Vogels‹ und unweit läuft die große Straße von Peking nach Sin-gan-fu. Hier ist im großen Kriege viel Blut vergossen worden, und man meidet die Stätte seitdem.«

Gerhardt ließ das Boot an das Ufer laufen, und alle begaben sich an das Land.

»Ziehen wir uns in die Pagode zurück,« fuhr Fung-tu fort, »und der Bote mag nach der Straße gehen und sehen, ob sie sicher ist. Wir müssen Pferde oder Maultiere haben, um weiter zu kommen; wir müssen versuchen solche zu kaufen.«

Er gab dann dem Manne Geld und die nötigen Anweisungen, und während sich dieser rasch entfernte, betraten sie die Pagode, nachdem Jan und Gerhardt das Boot, das ihre Landungsstätte verraten konnte, versenkt hatten.

»Ich glaube nicht,« sagte Fung-tu, »daß man nach uns hier Nachforschungen anstellen wird, hier haben Taipings gekämpft, und der Ort wird seitdem gemieden. Wir können hier sicher weilen, bis Reittiere für uns angeschafft sind. Unweit von hier, in Kalgan, habe ich Freunde, die uns beistehen werden.«

Zu aller Fürsorge wurde aber doch der kluge Knabe als Wächter angestellt und ihm befohlen, den Schrei des Nachtvogels, den er so täuschend nachahmen konnte, auszustoßen, wenn sich Verdächtiges nahe.

Jan, dem die kurze Fahrt auf dem See trotz der Unbehilflichkeit des Fahrzeugs großes Vergnügen bereitet hatte, war guter Laune, die ihm selbst die Aussicht einer weiteren Landreise nicht zu verbittern vermochte.

Nach überraschend kurzer Zeit kehrte der nach der Straße ausgesandte Bote zurück.

Staunend vernahmen Fung-tu und Arnold seine Mitteilungen, dann Gerhardt, dem sie rasch ins Deutsche übertragen wurden.

Die große Straße, die von Peking kommend nach dem alten Sin-gan-fu führt, wimmle von Wagen und Lasttieren, zwischen denen zahlreiche Reiter des Kaisers einherzögen, berichtete der Bote. Sich unverdächtig zwischen die Fuhrleute und Kameltreiber mischend, erfuhr er, daß der kaiserliche Hof von Peking entflohen sei, als die fremden Soldaten sich nahten, um es zu erobern, und nun in großer Hast Sin-gan-fu aufsuche. Der Kaiser, die Kaiserin, Prinz Tuan, viele andre kaiserliche Prinzen kämen die Straße her und viele Soldaten.

Tung-fu-shiang sammle eine Armee im Westen, um sie dem Kaiser entgegenzuführen und dann die fremden Teufel wieder fortzujagen. Diese Nachrichten waren so erstaunlich, daß die Hörer zunächst stumm saßen. Als aber der Bote allen Ernstes bei seinen Nachrichten beharrte, die Männer aufforderte, mit zur Straße zu kommen, um sich zu überzeugen, und Gerhardt deren ganze Tragweite erkannte, jubelte er in unbändiger Freude auf.

»Dem Himmel sei Dank, dann sind die Gesandtschaften gerettet, die Europäer sind da und die Chinesen auf der Flucht.«

Auch Arnold drückte seine innige Freude über die glückliche Nachricht aus.

Fung-tu saß da, als ob er versteinert wäre.

»Die Kaiserin, der Kaiser, Prinz Tuan auf der Flucht?« sagte er endlich. »Peking in der Hand der Europäer? Das ist ein jäher Umschwung. Die Mandschu laufen davon; o daß sie nimmer wiederkehrten! Und wo ist Hung-li, der Taipingkönig, um den Drachenthron zu besteigen, den die Mandschu verlassen haben? Jetzt kommt der Tag, der China ein neues Herrschergeschlecht gibt.«

Der alte Mann war sehr erregt, als er so sprach.

Von ihren Verfolgern hatte der Bote nichts bemerkt. Er meinte, sie würden durch die Flucht des Hofes genügend eingeschüchtert sein, um nicht bei ihrem Vorhaben zu beharren.

»Ich kann noch immer nicht an solchen Wandel glauben,« sagte Fung-tu.

»Du kannst dich überzeugen, Herr, der Wald geht hier bis dicht an die Straße, und wir können ungesehen hingehen.«

Darauf beschloß man, unter seiner Führung nach der Straße zu gehen, und trat alsbald den Weg dorthin an. Bald schon vernahmen sie das Geschrei der Kamel- und Maultiertreiber von der Straße herübertönen, und nach kurzer Zeit hatten sie in dem dichten Gebüsch auf einer leichten Anhöhe einen Punkt gewonnen, von dem aus sie die Straße ungesehen überschauen konnten.

Es war wie der Bote berichtet hatte.

Doch Fung-tu glaubte erst an die Flucht des Hofes, als er die Reiter der kaiserlichen Leibgarde erkannte und zwischen ihnen eine Anzahl hoher Kriegsmandarinen.

Eine lange Reihe von Wagen zog unter starker Bedeckung kaiserlicher Reiter vorüber.

Die Dienerschaft des Palastes folgte zu Pferde und Wagen.

Reiter zogen jetzt geschlossen einher.

In einem prächtigen Wagen, dem der Vorsteher des kaiserlichen Haushalts voranritt, erschien mit ihrer Zwergin und einer Dame die Kaiserin des westlichen Zimmers, Htsü-tsi. In einen seidenen Staubmantel gehüllt, saß sie stumm und bewegungslos da. Nach einiger Zeit folgte der Wagen des Kaisers, dem hohe Palastbeamte voranritten.

Kwang-sü, der Sohn des Himmels, der Beherrscher des größten Reiches der Erde, lehnte bleich und abgespannt in den seidenen Kissen, sein hübsches jugendliches Antlitz zeigte Trauer.

siehe Bildunterschrift

Eine große Reiterschar, Palastbeamte und Soldaten zogen vorüber.

Palastbeamte, Soldaten zogen hinterher. Inmitten einer Reiterschar erschien Prinz Tuan; sein finsteres, trotziges Gesicht hatte etwas Erschreckendes.

Diener folgten, Beamte, Prinzen, und den Schluß des Zuges bildeten einige Bataillone der Tigergarde.

Der ganze Hof von Peking war auf der Flucht; wie gewaltig mußte die Niederlage der Chinesen gewesen sein.

Still gingen die Flüchtlinge in den Wald zurück, sie hatten Bedeutungsvolles gesehen.

»Was hindert uns jetzt den Weg nach Peking zu nehmen, Fung-tu?«

»Wir können es nur auf Umwegen erreichen, denn die Straße wird noch tagelang von Truppen und Flüchtlingen belebt sein. Die Begegnung mit dem kaiserlichen Zuge ist schlimm für uns.«

»Warum?«

»Er wird weit und breit alle Pferde, Maultiere, alle Nahrungsmittel für sich in Beschlag nehmen; wir werden Mühe haben, von der Stelle zu kommen.«

Man beschloß, sich nach der Pagode zurückzuziehen und dort zu harren, bis die Gelegenheit sich günstig zeigen würde, den Weg fortzusetzen.

Gerhardt und Arnold betrachteten sich das Innere des Bauwerks jetzt eingehender. Die gewaltige Halle war noch gut erhalten, selbst das Dach fehlte nicht. Doch die Götzenbilder lagen am Boden, die Altäre waren umgestürzt – ein Bild der Verwüstung.

Da es nicht ausgeschlossen war, daß streifende oder marodierende Soldaten der Pagode nahten, beschloß man, eines der an den Saal grenzenden und etwas erhöht liegenden, noch ziemlich gut erhaltenen Gemächer aufzusuchen und sich dort niederzulassen.

Hier konnten sie nur bei genauerer Nachforschung entdeckt werden.

Wilhelm wurde aber dennoch als Wächter bestellt. Während Fung-tu, Gerhardt und Arnold zusammensaßen und die Ereignisse besprachen und langsam der Abend nahte, kam Wilhelm geräuschlos herbei und sagte: »Es tauchen Männer im Walde auf, manche zu Pferde und mit Waffen; es scheint, als ob sie nach der Pagode kommen.«

Dies war keine angenehme Überraschung.

»Soldaten?«

»Nein, nicht Soldaten.«

Jetzt hörten sie Schritte, und ein vorsichtiger Blick aus ihrem im Halbdunkel liegenden Gemach ließ sie erkennen, daß zehn bis zwölf bewaffnete Männer in dem großen Raum standen, zu denen sich nach und nach mehr gesellten.

Sie unterhielten sich leise und schienen die große Halle zu betrachten.

Einen Ausgang aus dem kleinen Raume, in dem die Flüchtlinge weilten, gab es nur nach dem Saale zu; es war also nicht daran zu denken, ihn zu verlassen, sie mußten harren, bis die Leute den Tempel wieder geräumt hatten. Doch schien das zunächst gar nicht deren Absicht zu sein – es kamen immer mehr dazu, die sich auf den Trümmerstücken niederließen. Als die Nacht hereinbrach, zündeten die Männer Laternen an, die durch ihre große Zahl den Raum ziemlich gut beleuchteten.

Das wurde doch bedenklich.

Waren sie in eine Versammlung von Fanatikern geraten, die hier ihre abergläubischen Zeremonien begehen wollten?

Es galt sich lautlos zu verhalten.

Glücklicherweise lag das Gemach, in dem sie sich befanden, hoch genug, daß man von unten nicht hineinsehen konnte, auch war es vor neugierigen Blicken durch einige Balken, die herabstürzend sich davor gelagert hatten, geschützt.

Vorsichtig lugten Fung-tu, Gerhardt und Arnold in den sich immer mehr und mehr füllenden Saal hinab. Der Bote und Wilhelm hielten sich im Hintergrunde und Jan schlief den Schlaf des Gerechten.

Es mochten jetzt fünf- bis sechshundert Männer in der großen Halle der Pagode anwesend sein, die sich flüsternd unterhielten. Der Ton eines Gongs durchzitterte den Raum, und während alle Anwesenden sich erhoben, bestiegen sechs Männer eine Estrade, von denen einer ein schwarzes Banner entfaltete, das goldgestickte Zeichen trug.

Fung-tu zitterte heftig, als er das gewahrte, und flüsterte: »Keinen Laut oder wir werden in Stücke zerrissen.«

Die Männer erhoben jetzt in leisen Tönen einen Gesang, dessen Melodie große Ähnlichkeit mit einem unsrer Kirchenlieder hatte.

Fragend sah Arnold Fung-tu an, doch der winkte mahnend zur Ruhe.

Der Gesang verstummte und einer der Männer auf der Estrade trat vor und sprach: »Ihr Söhne des ›Großen Friedens‹ Kinder des himmlischen Herrschers, es ist lange her, daß wir in dunkler Nacht zusammenkamen an der Stätte, die einst das Blut unsrer Brüder getrunken, um dessen zu gedenken, der einst war, um dem zu huldigen, der zur rechten Stunde kommen wird.

Wir wurden niedergeschlagen vor langen Jahren um unsrer Sünde willen, aber Gott der allmächtige Herrscher der Welt kann auch den erheben, den er zu Boden warf.

Ihr wißt alle, was geschehen ist in diesen Tagen, ihr habt gesehen, wie die Mandschuherrscher in schmählicher Flucht an uns vorbeieilten aus Furcht vor den Fremden, die sie herausgefordert haben.

Viele von uns sind der Meinung, die Stunde sei gekommen, die Fahne der Taipings zu erheben und Hung-li, den Sohn Hung-fu-siens, den Enkel Hungs, des Tien-te, der uns das Wort Gottes verkündigte, den letzten Sprossen der glorreichen Mingherrscher aufzufordern, sich an unsre Spitze zu stellen, um das Volk von den Mandschu zu befreien und das Reich des ›Großen Friedens‹ aufzurichten.

Darum seid ihr zusammenberufen, um zu beraten, ob das Taipingschwert aus der Scheide fliegen soll.«

Unter lautlosem Schweigen horchte die Versammlung den Worten des Redners. Erst nach einiger Zeit erhob sich ein Greis und sagte: »Ich bin Wu-lang-tai, der Taipingkrieger.«

Alle blickten ehrfurchtsvoll auf ihn.

»Ich habe als Jüngling die Schlachten des Tien-te mitgefochten, ich war in Nanking, als die Tataren stürmend eindrangen, und gehörte zu denen, die Hung-fu-sien in die Berge retteten. Ich stand dabei, als Gott ihn zu sich rief, und habe Hung-li, seinen Sohn, als Kind gesehen. Ein Trost wäre es für meine alten Augen, wenn ich noch einmal die Fahne der Taipings im Sonnenschein flattern sehen könnte, und freudig wollte ich für den ›Großen Frieden‹ für Gott und seinen Sohn auf dem Schlachtfeld sterben; aber die Zeit ist noch nicht gekommen, wo wir wieder das Haupt erheben können, auch müssen wir die Befehle Hung-lis, des Tien-te, erwarten, der allein die rechte Stunde kennt, in der wir das heilige Banner entfalten dürfen. Ich rate darum von allen gewaltsamen Schritten ab.«

Mit derselben tiefen Stille wie vorher lauschte man auch diesem Redner.

Ein junger Mann stand jetzt auf.

»Vorsicht gebührt dem Alter, und wir lauschen der Weisheit eines berühmten Kriegers mit Ehrfurcht. Aber auch die feurige Jugend hat ihre Rechte, denn sie gebiert im Vorsturm die Tat. Nie, seit dem Unglückstage von Nanking, war der Augenblick für die Anhänger des ›Großen Friedens‹ günstiger, um das Schwert zu erheben und die Tsing aus dem Lande zu jagen als jetzt. Saht ihr sie nicht laufen in Todesangst? Bis an die Grenze des Reiches fliehen sie. Ihre Truppen sind von den Fremden überall geschlagen, nicht dreitausend Mann begleiten die Flüchtlinge – der Kaiser hat weder Krieger noch Waffen.

Wenn wir zum Kampfe rufen, erheben sich allein in Schansi zehntausend schlachtbereite Krieger. Schansi folgen Honan und der ganze Süden, wo unsre Freunde zahlreich sind wie Sand am Meere. Hung-li, der Enkel des Tien-te, wird es mit Freuden begrüßen, wenn wir das heilige Banner erheben. Was zögern wir? Ist der Sturz des Thrones nicht ein redend Zeichen? Weh uns, wenn wir es nicht verstehen. Ziehen wir die Schwerter und treiben wir die Mandschu zum Lande hinaus in die Wüste, wohin sie gehören. Wer ein Herz für den ›Großen Frieden‹ für die Sache des Volkes hat, stimme mir bei.«

Ein stürmischer jubelnder Zuruf von allen Seiten antwortete dem feurigen Redner, und Schwerter blitzten im Schein der Laternen.

Atemlos lauschten Fung-tu und Arnold den Reden der Taipings.

Wieder war es unten still geworden.

Ein Mann war von der Seite, wo die Erhöhung war und die Leiter der Versammlung saßen, eingetreten und hatte diesen eine Meldung gemacht, die von großer Bedeutung sein mußte, denn sie erhoben sich in augenscheinlicher Erregung.

Der, der zuerst gesprochen hatte, trat vor und sagte mit bebender Stimme: »Ein günstiges Geschick hat Hung-li, den Enkel Hungs, hierhergeführt; er wird unter uns erscheinen und zu seinen Kindern reden.«

Groß war die Aufregung unter den versammelten Männern bei diesen Worten; sie hoben in namenlosem Jubel die Hände empor, und ein dumpfer Laut der Freude ging durch die Halle.

Fung-tu bändigte kaum die leidenschaftliche Erregung, die ihn ergriffen hatte, und auch Arnold sah dem Kommenden mit Spannung entgegen.

Die sechs Männer von der Estrade entfernten sich durch einen nahen Ausgang. In tiefem Schweigen harrte alles im Saale, und aller Blicke waren auf diesen Ausgang gerichtet.

Zwei Männer traten ein, die goldene Stäbe trugen und leise sangen. Ihnen folgten die Männer von der Estrade.

Als nun eine hohe schlanke Gestalt erschien, gekleidet in hellblaue Seide, ein goldenes Zeichen auf der Brust, warf sich alles zu Boden, mit der Stirn die Erde berührend.

Der Eintretende, dem bewaffnete Männer folgten, trug einen Schleier vor dem Antlitz, so daß man seine Züge nicht erkennen konnte.

In tiefster Ehrfurcht wurde er empor zu der Estrade geführt.

Er grüßte und sagte: »Erhebt euch, Söhne des ›Großen Friedens‹.«

Alle erhoben sich.

»Vor euch steht Hung-li, der Enkel Hungs.«

Alle neigten das Haupt.

Hoch horchte Gerhardt auf; ihm schien die Stimme des Redenden bekannt zu klingen.

»Mir ist gesagt worden, ihr Freunde, was euch hier zusammenführte, und ich freue mich, so viele treue Anhänger des großen Bundes vor mir zu sehen.

Lebe ich in Verborgenheit, nur wenigen bekannt, darf ich mein Gesicht erst an dem Tage entschleiern, der das Taipingbanner in den Lüften schweben sieht, so gilt doch mein ganzes Sinnen und Trachten der heiligen Sache, der wir dienen, denn von ihrem Siege hängt das Heil des Vaterlandes ab.

Ich weiß, ihr denkt wie ich, aber ich sehe klar und weiter denn ihr. Nichts könnte unsrer Sache mehr Schaden bringen, als ein voreiliges Losschlagen. Unsre Stunde wird kommen – aber noch ist sie nicht da.

Lassen wir die Mandschu, lassen wir die Beherrscherin des westlichen Zimmers, lassen wir den Prinzen Tuan, lassen wir alle die übrigen erst einen demütigenden Frieden mit den Fremden schließen, dann ist unsre Zeit gekommen, nicht früher. Ich betete oft am Grabe Tsung-hengs, des letzten Kaisers aus meinem Stamme, an der Weide, die ihn als Leiche sah; bei seinem Schatten beschwöre ich euch, ihr Freunde, die rechte Stunde geduldig zu erwarten. Ein gütiges Geschick hat mich in eure Nähe geführt, und trotzdem große Gefahr draußen meiner lauert, eilte ich, als ich erfuhr, weshalb ihr zusammengekommen seid, herbei, um euch von übereilten Schritten abzuhalten.«

Er schwieg, tiefe Stille herrschte.

Die Rede, die mit wohlklingender jugendlicher Stimme gehalten wurde, hatte ersichtlich tiefen Eindruck gemacht.

Der jüngere Mann, der so leidenschaftlich den Kampf befürwortet hatte, erhob sich und sagte: »Du befiehlst, Enkel des Tien-te, König der Taipings, und wir gehorchen. Wir werden still der Stunde harren, in der du uns rufst.«

Alle neigten zustimmend ihr Haupt.

Mit der regsten Anteilnahme hatten Fung-tu und Arnold, auch Gerhardt, ob er gleich die Vorgänge unten sich erst enträtseln mußte, beigewohnt.

Erich Gerhardt war durch die Stimme des Verschleierten mehr erregt als durch die Vorgänge selbst.

Nicht mindere Teilnahme zeigten auch der Bote und Wilhelm, der hier wie auch Arnold und Gerhardt in eine neue Welt hineinblickte, ob er gleich einen alten Taipingkrieger zum Freunde gehabt hatte.

Niemand von ihnen hatte Jans geachtet, der die ganze Zeit über schlief.

Jetzt wachte er auf und sagte, schlaftrunken noch, das Licht in der Halle erblickend, inmitten der tiefen Stille: »Wats denn dat vor een Illminatschon?«

Im Augenblick waren aller Augen nach der Stelle gerichtet, woher die Laute kamen, und ein Dutzend junge Männer, Laternen in der Linken, Schwerter in der Rechten, sprangen dorthin.

Ein jäher Schrei der Überraschung tat den andern kund, daß hier Ungewöhnliches sich vorfand.

Die Männer auf der Erhöhung, viele andre stellten sich mit blanken Schwertern um Hung-li, der den Schleier, der sein Gesicht verhüllte, nur noch fester zog.

Schon waren Fung-tu, Gerhardt, Arnold, Jan, Wilhelm und der Bote hervorgezerrt worden; ein Wutgebrüll begleitete ihr Erscheinen, und drohend blitzten die Waffen über ihren Häuptern.

Nur die Gegenwart der geheiligten Person Hung-lis verhinderte, daß sich die Gefangenen nicht schon in ihrem Blute wälzten. Diese, betäubt durch das Unerwartete und den Ausbruch todbringenden Zornes, standen willenlos da.

Ein Ruf von der Estrade her befahl, die Gefangenen dorthin zu führen.

Dies geschah in rauher Weise.

»Wer bist du?« fragte einer der sechs, die die Estrade einnahmen, Fung-tu.

Dieser nannte seinen Namen und fügte hinzu: »Ein Anhänger des ›Großen Friedens‹.«

»Wer sind die andern?«

Fung-tu, der sehr zitterte, stellte Gerhardt und Arnold vor: »Zwei Deutsche, Brüder, die ich mit Hilfe unsrer Freunde der Gewalt Tuans entzogen habe, ein deutscher Knabe und Tung-po, ein Bote der christlichen Mission.«

»So hast du Fremde zu unsrer Versammlung geführt?«

»Nein, hoher Herr.«

Fung-tu erklärte ihre Anwesenheit.

»Es ist gleichviel,« sagte der Vorsitzende, »sie haben gesehen, gehört; ihr müßt sterben, wenn nicht unser König und Herr anders befiehlt,« wandte er sich ehrerbietig an den Verschleierten.

Dieser flüsterte ihm einige Worte zu.

Darauf erhob der vorige laut seine Stimme und sagte: »Auf Befehl Hung-lis des Tien-te ist die Versammlung aufgelöst. Die Entscheidung über die Gefangenen behält er sich vor. Geht im Frieden Gottes, ihr Freunde, und harret der Stunde, die euch zum Kampfe ruft.«

Alle warfen sich zur Erde und entfernten sich dann schweigend, nur der Verschleierte, die sechs, die Gefangenen und die Bewaffneten, die mit Hung-li gekommen waren, blieben zurück.

Nur wenige Laternen verbreiteten noch ein Dämmerlicht.

Hung-li versammelte die Sechs um sich und flüsterte mit ihnen. Diese verneigten sich dann mit ehrerbietiger Zustimmung.

Hierauf begleiteten sie ihn mit derselben Ehrfurcht, mit der sie ihn empfangen hatten, zu dem Ausgang, wo der Verschleierte in Begleitung der Stabträger und seiner Begleiter verschwand.

Fung-tu und seine Gefährten standen allein im Halbdunkel.

Daß die gefährliche Sache eine gute Wendung für sie genommen hatte, fühlten sie, man hätte sie sonst schwerlich ohne Bewachung gelassen.

»Welch seltsame Vorgänge,« äußerte Arnold leise in deutscher Sprache, »das hätte ich nimmer geahnt.«

»Ja, seltsam,« erwiderte Gerhardt nachdenklich.

»Wat war denn dat vorn Kirl mit den Schleier?« fragte Jan.

»Jemand, der es sicher besser mit Ihnen meint, Jan, als Sie verdienen. Sie haben uns in das Unglück gestürzt.«

»Ick heww mi gar nix bi dacht, Stürmann,« sagte der Koch kleinlaut.

Fung-tu verhielt sich schweigend und nachdenklich. So harrten sie geraume Zeit in unheimlicher Stille inmitten des öden Raumes.

In Begleitung einiger Diener kam der Mann, der Fung-tu verhört hatte, zurück und wandte sich an diesen in längerer Rede. Arnold übertrug sie seinem Bruder und Jan. »Hung-li,« so lautete deren Inhalt, »ist überzeugt, daß der Zufall, nicht die Absicht des Verrates euch hierhergeführt hat, und schenkt euch das Leben; auch die Freiheit gibt er euch zurück, wenn die Europäer ihr Wort geben, nie von dem, was hier vorgegangen ist, zu reden; er weiß, daß den Weißen ihr Wort heilig ist. Fung-tu gehört zu dem Bunde und hat seinen Eid geleistet. Der andre Mann wird von uns in seine Heimat zurückgeleitet werden.«

Hierauf reichten Gerhardt, Arnold und Jan dem Abgesandten Hung-lis die Hände, und sie gaben ihr Wort, wie er es verlangt hatte. Auch Wilhelm gelobte, so wahr er seine liebe Mutter wieder zu sehen hoffe, Schweigen.

Arnold übertrug ihr Versprechen in die chinesische Sprache.

Jan hatte sich geäußert: »Ick wer nix seggen, leiwe Mann, ick weet dar gar nix von, un mi is dat all ganz egol, wenn die Chinesers mi man taufreden laten, ick heww dar nix mit vor.«

Der Chinese war befriedigt und forderte alle auf, ihm zu folgen.

Draußen fanden sie Pferde, die sie bestiegen, und geführt von Laternenträgern durchritten sie den Wald.

Die verfallene Pagode lag still wie bisher da.

Nach kurzer Zeit erreichten sie ein kleines, einsam liegendes Haus, vor dem Sänften und Pferde standen, auch Bewaffnete zeigten sich.

Fung-tu und die Deutschen wurden in ein Zimmer geführt, wo man sie warten ließ.

Ein Vorhang öffnete sich, und heraus trat mit dem ihm eigenen liebenswürdigen Wesen, in der an ihm gewohnten Tracht – Herr Kau-ti.

Fung-tu machte eine Bewegung, als ob er sich niederwerfen wollte, ein Blick Kau-tis verhinderte es.

Er reichte Gerhardt die Hand und sagte herzlich: »Es freut mich, Sie zu sehen, und hoffentlich kann ich Ihnen auch hier nützen durch gemeinschaftliche Freunde. Die plötzliche Reise des Hofes brachte mich im Gefolge des Prinzen Tuan hierher.«

Gerhardt, der nun wußte, welch eine hervorragende Persönlichkeit er vor sich hatte, erwiderte in achtungsvollem Tone: »Ich wie die andern alle sind Ihnen so tief verpflichtet, Herr Kau-ti, verdanken Ihnen so viel, daß wir unsern Dank nie abtragen können.«

»Bewahren Sie mir ein freundliches Andenken, Herr Gerhardt, und ich bin zufrieden. Ich vermute, das ist Ihr Bruder?«

Erich Gerhardt stellte Arnold vor und gab eine kurze Mitteilung über ihre jüngsten Erlebnisse.

»Ja,« sagte Kau-ti, »unser Volk ist in wilder Gärung, und solche Ausbrüche, wie die bei Ihrer Mission, sind leider nicht zu verhindern, da eine starke Obergewalt fehlt.«

Dann reichte er Arnold, dem er ja durch die Schilderungen seines Bruders längst bekannt war, die Hand und sagte: »Lassen Sie sich nicht entmutigen. Ihre Saat wird aufgehen und Früchte tragen, wenn die rechte Zeit kommt. Wer ist der kleine Mann?«

Er meinte Wilhelm.

Gerhardt erwiderte vorsichtig: »Ein Kind unsres Volkes, das wir am Wege gefunden und mit uns genommen haben. Sie entsinnen sich vielleicht, daß eine Dame bei der Gesandtschaft in Berlin oft nach dem Verbleib von Gatten und Kind fragte?«

»Sehr gut.«

»Das ist der gesuchte Knabe, der von Piraten geraubt wurde.«

»Was Sie sagen? Das freut mich, junger Mensch, und ich hoffe, Sie werden Ihrer Mutter, die ich kenne, Trost bringen.«

Wilhelm, der noch nie einen Chinesen Deutsch reden hörte und von der Persönlichkeit und den Manieren Kau-tis sehr eingeschüchtert war, den die Erwähnung seiner Mutter und besonders der überraschende Umstand, daß der Herr sie kannte, erregte, sagte mit bebender Stimme: »Wenn ich glücklich zurückkehre, wollen wir alle Tage für Sie beten.«

»Tue es, mein Kind, Gott wird es erhören.«

»Ich muß mich kurz fassen, meine lieben Freunde,« wandte er sich dann an Gerhardt und Arnold, »denn meine Zeit ist gemessen. Der Weg auf der Straße nach Süden hin ist Ihnen zur Zeit verschlossen; ich habe Veranstaltung getroffen, daß Sie von Norden her Peking erreichen können.«

»Sind die Gesandtschaften gerettet?«

»Sie sind gerettet, die fremden Krieger sind in Peking, in der Purpurstadt.«

»Dem Himmel sei Dank!«

»Ich muß mich von Ihnen verabschieden, meine Pferde warten. Alles was für Ihre fernere Sicherheit geschehen konnte, ist angeordnet, und hier mein Freund Fung-tu –« jetzt reichte er diesem, der in ehrfurchtsvoller Scheu dagestanden hatte, die Hand, die der Angeredete kaum zu berühren wagte – »wird Sie führen.«

»Bedenken Sie eines!« sagte er mit gewichtiger Betonung, »daß man oft seinen Freunden am besten dient, wenn man das, was man von ihnen gesehen, gehört hat oder vermutet, tief in seinem Herzen verschließt: ein unbedachtes Wort könnte ihnen das Leben kosten.«

Mit tiefem Gefühl sagte Gerhardt: »Wir sind Männer, die schweigen können, auch wenn nicht wie hier die innigste Dankbarkeit unsre Lippen verschließt. Gottes Segen sei mit Ihnen und mit allen edleren Bestrebungen Ihres Volkes. Sie waren unser guter Schutzgeist in diesem Lande, wir werden Ihrer stets in unsern Gebeten gedenken.«

Kau-ti gab ihnen allen die Hand.

»Wie mein Schicksal sich auch wenden mag, denken Sie meiner immer als eines Mannes, der, wenn er, durch eiserne Notwendigkeit gezwungen, nicht immer schien, was er war, treu im Dienste seines Volkes stand. Und ich hoffe den Tag noch zu erleben, an dem die Sonne eines neuen Morgens meinem Volke aufgeht.«

Es lag etwas überaus Hoheitsvolles über dem jungen Manne, als er mit tiefem Ernste so sprach.

Er verneigte sich und ging hinaus.

Gleich darauf hörte man, daß einige Reiter sich entfernten.

»Die Stimme Herrn Kau-tis erinnert an den Verschleierten,« sagte Arnold.

»St! Sprich nie davon: er war und ist unser guter Genius, mag er es auch seinem Volke sein.«

Der ältere Mann, der sie hierhergeführt hatte, trat ein und sagte: »Wir müssen fort, es ist notwendig, noch in der Dunkelheit eine Strecke Weges zurückzulegen.«

Während sie hinausgingen, sagte Jan: »Dat 's 'n unbändig braven Kirl di Herr Kau-ti.«

Gleich darauf ritten sie unter sicherer Führung nach Norden zu.


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