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Die Vorboten des Sturmes

Gegen elf Uhr waren Sänfte und Träger bereit, und Gerhardt, der sich so sorgfältig, als die vorhandenen Mittel es erlaubten, gekleidet hatte, nahm darin Platz, während sich Jan, der noch seinen Chinesenanzug trug, unter das Gefolge, das aus Reserveträgern bestand, mischte.

Auf den Rat Fung-tus hatte Gerhardt die Vorhänge zugezogen, so daß niemand erkennen konnte, wen die Sänfte trug.

Mit einigen Schwierigkeiten zogen sie durch die engen, winkligen Gassen.

Die Träger hatten den Weg an der Peitangkathedrale, einem christlichen, durch katholische Missionare gebauten Gotteshause, vorbei gewählt. Gerhardt sah mit Erstaunen viele Menschen, Männer, Frauen und Kinder auf den Treppen gelagert, zwischen denen Missionare herumgingen, und einen drohenden Haufen der sogenannten Boxer in der Nähe. Zu gleicher Zeit erblickte er auch Bannersoldaten auf dem Platze gelagert, die wohl zum Schutze der Christen dahin gestellt sein mochten.

Die Situation bei der Kirche schien besorgniserregend, doch gleichzeitig die Anwesenheit der Bannertruppen auf die Absicht der Regierung zu deuten, Ausschreitungen der Boxer gegen die Christen zu verhindern.

Als sich die Sänfte der Tatarenstadt näherte, geriet sie in ein dort ungewöhnliches Gedränge und konnte nur langsam vorwärts gelangen. Die Menge, welche hier versammelt war, schien aufgeregt zu sein, und einzelne Reiter jagten hin und wieder.

Die Sänfte mußte halten.

Zu seinem Erstaunen gewahrte jetzt Gerhardt einen Zug bewaffneter und berittener Europäer aus dem Tore kommen, zwischen denen eine sehr entschlossen aussehende Dame ritt. Auch einige französische Uniformen sah Gerhardt unter den Reitern. Diesen folgten in unordentlichem Zuge Bannertruppen, wohl in der Stärke von tausend Mann.

Während er noch nachsann, was das bedeuten könnte, wurde seine Sänfte wieder aufgehoben und durch die sich verlaufende Menge nach dem Tor getragen. Auch in der sonst so stillen Straße der Gesandtschaften herrschte ein unruhiges Leben, besonders vor dem Hotel Tallieu und der französischen Gesandtschaft.

Das Ganze beunruhigte Gerhardt doch so, daß er, als er einen Herrn des Weges kommen sah, in dem er einen deutschen Missionar vermutete, halten ließ und ausstieg. Er redete ihn ohne weiteres deutsch an und hatte die Freude zu gewahren, daß er sich nicht getäuscht sah; er hatte den Bruder Paulus von der Baseler Mission vor sich.

»Was geht hier vor? Was bedeutet dies alles, ehrwürdiger Bruder?«

Der schon bejahrte Herr, ein Mann mit mild freundlichem Gesicht, erwiderte: »Die Boxer haben die französischen und belgischen Ingenieure, die an der Bahnstrecke Paotingfu-Peking arbeiteten, überfallen. Vor einer Stunde ist die Nachricht auf der französischen Gesandtschaft mit der Bitte um schleunige Hilfe eingetroffen. Der Gesandte hat sich sofort energisch an das Tsungli-Yamen gewandt, die Minister haben tausend Mann beordert, um die Bedrohten, die sich in einem Stationsgebäude verteidigen, zu befreien, und alle waffenfähigen Franzosen, auch einige von unsern Landsleuten haben sich angeschlossen, um sie zu unterstützen. Die Schlange erhebt jetzt ihr Haupt gegen uns. Gott gebe, daß das Rettungswerk gelingt; auf die Bannertruppen ist kein Verlaß, die fraternisieren mit den Boxern. Die Europäer müssen die Rettung allein vollbringen, wenn sie noch möglich ist.«

»Das klingt traurig. Wer war die Dame in dem Zuge?«

»Das war Madame Tallieu, die Hotelwirtin; die ist mehr wert als ein Mann und handhabt den Revolver mit tödlicher Sicherheit.«

»Gott möge das Rettungswerk gelingen lassen.«

Er sagte dem Bruder Paulus noch, wer er sei und was ihn nach Peking führte, und daß er auf dem Wege zur Gesandtschaft sei.

»Ich habe von Ihrem Bruder gehört, Herr Gerhardt; auch er geht, wie wir alle, schweren Tagen entgegen.«

Gerhardt verabschiedete sich dann von dem gütigen Priester und ließ sich zur Gesandtschaft tragen.

Der Beamte, der ihn gestern empfangen hatte, führte ihn zu einem der Attachés der Gesandtschaft, einem jungen eleganten Herrn von gewandten Formen, und diesem trug Gerhardt sein Anliegen vor, für seine Reise nach Lao-tschi durch Vermittlung der Gesandtschaft von den chinesischen Behörden die notwendigen Papiere zur Reise zu erhalten.

»Es ist mir, Herr Gerhardt,« erwiderte dieser, »von Ihrer Absicht schon gesagt worden, aber sie wird schwer auszuführen sein. Wir leben hier auf einem Vulkan, der jeden Augenblick ausbrechen kann, und unser Chef spielt die Rolle der Kassandra, deren Warnungen niemand glauben will, und doch kennt er die Chinesen besser als die Mehrzahl der hier weilenden Europäer. Haben Sie schon von dem Angriff der Boxer auf die Bahningenieure vernommen?«

Gerhardt bejahte.

»Der französische Gesandte ist ein Mann von Energie und hat es durchgesetzt, daß die Regierung Truppen absandte. Wir wollen sehen, was daraus wird. Die Zustände in den oberen Regionen der Regierenden sind so zerfahren, sie sind durch so verschiedene Strömungen durchkreuzt, daß es schwer wird, einen Einblick in das Getriebe zu gewinnen. Zunächst ist für Sie an eine Reise nach Lao-tschi gar nicht zu denken; das Chinesenvolk ist gerade hier in Petschili und in Schansi in einer gefährlichen Gärung, und es wird entschlossenes Auftreten dazu gehören, der Gefahr vorzubeugen.«

Der junge Steuermann vernahm dies mit Betrübnis.

Der Attaché erkundigte sich dann noch teilnahmsvoll nach seinen Lebensverhältnissen, über die Gerhardt bereitwillig Auskunft gab.

»Aber wie sind Sie denn hierhergekommen, fremd im Lande, der Sprache unkundig, und wo wohnen Sie?«

Gerhardt erzählte von seiner Bekanntschaft mit Fung-tu und teilte auch offen mit, daß seine Unterstützung der Flucht Kang-ju-weis seine schleunige Entfernung von Tientsin veranlaßt habe.

Dies vernahm der junge Beamte mit großem Interesse.

»Also Kang-ju-wei ist in Sicherheit? Das freut mich. Sie haben uns einen großen Dienst damit geleistet, denn der geistig hoch beanlagte Mann war unser aufrichtiger Freund. Aber er hatte mächtige Feinde am Hofe. Ich hoffe, die Stunde seiner Rückkehr wird bald schlagen. Wenn ich Sie recht verstand, haben Sie sich in der Chinesenstadt bei Ihrem Fung-tu niedergelassen?«

»Ja. Auch er ist fremdenfreundlich gesinnt, wie sein Freund Kang-ju-wei.«

»Wenn das bekannt ist, ist er auch gefährdet, besonders wenn er reich ist. Ich würde Ihnen raten, Wohnung im Hotel Tallieu zu nehmen, Sie sind da jedenfalls sicherer als in der Chinesenstadt.«

»Sie fürchten Gefahr?«

»Jedenfalls ist es gut, wenn wir Europäer nahe zusammen wohnen,« erwiderte der Attaché ausweichend, »ich hoffe, energisches Auftreten wird eine mögliche Gefahr beseitigen, aber Vorsicht schadet nie. Schade, daß wir nicht ein paar Bataillone hier haben, statt unsrer sechsundfünfzig Mann. Zunächst also, Herr Gerhardt, lassen Sie den Gedanken an Ihre Reise nach Lao-tschi fallen, die Lage muß sich erst klären. Alle Unterstützung, die wir Ihnen gewähren können für Ihren hiesigen Aufenthalt und später auch für Ihre Reise ins Land, steht Ihnen zu Gebote.«

Er reichte ihm die Hand mit den Worten: »Lassen Sie sich öfters aus der Gesandtschaft sehen, damit wir Fühlung miteinander behalten,« und verabschiedete so den jungen Mann.

Gerhardt war recht niedergeschlagen über alles, was er auch hier gehört hatte.

Als er zur Gesandtschaft heraustrat, fand er zwar die Sänfte, die ihn hierhergetragen hatte, vor, aber nur Jan und den Diener Fung-tus anwesend, die Kulis hatten sich entfernt, wie ihm der Diener berichtete.

Gerhardt war darüber mehr erstaunt als unangenehm davon berührt.

»Et is mit dat Chinesenvolk nich ganz richtig, Stürmann,« sagte Jan, »de Kirls tuschelten tausammen un makten dann, dat se all wegkamen.«

»Det jelbe Jesindel is uns nich jrün, Herr,« sagte der Marinesoldat, der unter Gewehr stand, »die sin weckgelofen, weil se keenen Herrn aus det Europaviertel tragen wollen.«

»Meinen Sie?« fragte Gerhardt, der von dem Berliner Dialekte des Mannes angeheimelt wurde.

»Det is so. Uns sehn diese Menschen immer an, als ob se uns fressen wollten, aber se sollen man kommen. Modell 82,« und er schlug an sein Gewehr, »det wird sie wohl Mores lehren.«

»Sie sind ein Berliner?«

»Ne, Treuenbrietzen, aber is ooch jut da.«

Gerhardt überlegte, was er beginnen sollte, als ein Herr auf die Gesandtschaft zukam, der ihn freundlich fragte: »Setzt Sie etwas in Verlegenheit, Landsmann?«

Gerhardt setzte ihm seine Lage auseinander.

»Hm,« sagte der Herr, »die Kulis weggelaufen? Das fängt ja gut an. Die Kulis von der Gesandtschaft können wir jetzt nicht entbehren, aber« – er wandte sich in chinesischer Sprache an den Diener Fung-tus und wechselte mit dem einige Worte.

»Es ist richtig, die Kerls haben Sie nicht zurücktragen wollen. Wenn Sie es nicht vorziehen, auf der Gesandtschaft zu warten, bis der Mann neue Träger herbeigeschafft hat, würde ich Ihnen raten, ins Hotel Tallieu einzutreten. Ihr Boy wird Leute herbeischaffen.«

»Ich danke, und ziehe letzteres vor. Wenn Sie die Güte haben wollten, dem Manne dahin lautend Befehle zu geben.«

»Wo wohnen Sie denn?«

Gerhardt sagte es ihm und nannte auch seinen Namen.

»Ich bin,« erwiderte der Herr, »Dolmetscher unsrer Gesandtschaft.« Auch gab er Gerhardt den Rat, die Chinesenstadt zu verlassen. »Wir leben in einer unruhigen Zeit und die chinesischen Behörden sind nicht immer im stande, die Fremden zu schützen,« fügte er hinzu.

»Ich werde mich nach dem Hotel begeben, schon um Nachrichten über das Schicksal der französischen Ingenieure abzuwarten, wenn Sie nur die Güte haben wollen, dem Manne zu sagen, daß er meinen Gastfreund Fung-tu von dem Benehmen der Kulis unterrichtet, für neue Träger sorgt und mich dann vom Hotel abholt.«

Dies tat der Dolmetscher und redete dann den schweigsamen Koch chinesisch an.

Jan grinste und erwiderte: »Ne, Herr, ick bin kein von die Gelen, ick bin man blot een Hamborger.«

Das durch Wind, Wetter und die Tropensonne gebräunte Gesicht Jans, seine Bartlosigkeit, die künstlich gefärbten Augenbrauen, Tracht und Zopf hatten den Herrn getäuscht; er lachte herzlich über seinen Irrtum und Jans Antwort.

»Er ist unser Schiffskoch.«

»Nun, wahrhaftig, Sie können durch China wandern, ohne den Verdacht zu erregen, ein Fankwei zu sein.«

Der Dolmetsch verabschiedete sich von Gerhardt und schärfte ihm noch einmal große Vorsicht auf seinem Rückweg zur Chinesenstadt ein.

Während er in das Gesandtschaftsgebäude trat, ging Gerhardt nach dem unweit befindlichen Hotel. Jan und Fung-tus Diener trugen die leere Sänfte nach.

Im Hotel Tallieu herrschte die lebhafteste Bewegung. Angehörige aller Nationalitäten waren in dessen unteren, europäisch eingerichteten Räumen anwesend, und man hörte fast alle europäischen Sprachen sprechen. Gerhardt wandte sich einer Gruppe von Deutschen zu, die aus Kaufleuten, Beamten, Offizieren und Lehrern der Pekinger Universität bestand. Hier erfuhr er, daß eine Bande Boxer unerwartet die Eisenbahnarbeiter, die an einer neu anzulegenden Bahn nach dem Süden beschäftigt waren, angegriffen und verjagt und sich dann gegen die den Bau leitenden Europäer, von denen einige mit Weib und Kind dort wohnten, gewandt hatten. Diesen war es zum größeren Teil gelungen, sich in ein noch unvollendetes aber festes Stationsgebäude zu retten. Drei der Ingenieure hatten sich nach Peking gewandt und zwei davon waren verwundet angekommen, der dritte aber unterwegs erschlagen worden. Diese hatten die Kunde von dem Unheil, wie auch die Nachricht gebracht, daß große Scharen Boxer sich auf Peking zu bewegten. Dem Hilferuf waren alsbald alle Franzosen, wie auch Angehörige andrer Nationalitäten gefolgt.

Alle im Hotel Anwesenden harrten in großer Erregung auf Nachrichten von den Überfallenen. Alle waren auch des Lobes von Madame Tallieu voll. Doch war nicht zu verkennen, daß von allen die Lage der Europäer in Peking als nicht rosig angesehen wurde. Hier erfuhr auch Gerhardt, daß seit Wochen Nachts Plakate in der Stadt angeschlagen wurden, die zur Vernichtung der Fremden aufforderten. Ließen die Behörden die Ankündigungen auch abreißen, sie wurden über Nacht immer wieder erneuert.

Gerhardt fühlte sich äußerst wohl in diesem Kreise von Landsleuten und die Zeit ging hin. Mehrmals kamen Nachrichten von der Eisenbahn her, die aber keine Gewißheit brachten. Weder die Sänfte noch Fung-tu erschienen. Jan hatte sich zu essen und zu trinken geben lassen und machte im Hotelgarten ein Schläfchen. Ab und zu gingen die Fremden und die Sorge um die angefallenen Franzosen, wie um die Mannschaften, die zu ihrer Befreiung ausgezogen waren, wurde immer größer.

siehe Bildunterschrift

Eine Dame kam vor dem Hotel angesprengt.

Auch verbreitete sich das Gerücht, daß Nachrichten von Tientsin eingetroffen seien, daß auch dort sich eine drohende Bewegung zeige und die Takuforts von den Chinesen mit starker Mannschaft belegt seien.

Da hielt in vollem Rosseslaufe eine Dame ihren Renner vor dem Hotel an.

»Madame Tallieu!« schrie alles. Schon wurde sie aus dem Sattel gehoben und der besorgte Gatte lief ihr entgegen.

»Gerettet!« sagte die stattliche, hübsche Frau, deren Gesicht. Kühnheit verriet. »Gerettet.«

Hochrufe in allen Sprachen erhoben sich im Hotel, und alle bemühten sich, der Dame eine via triumphalis zu bereiten.

In fliegenden Worten erzählte sie, wie die Ingenieure sich tapfer verteidigt hätten, wohl aber verloren gewesen wären, wenn nicht rechtzeitig Ersatz eingetroffen wäre. Vor dem Büchsen- und Revolverfeuer der Freiwilligen aber hätten die Boxer Reißaus genommen und viele Tote hinterlassen. Die mitgeschickten Bannertruppen seien ganz unzuverlässig gewesen. Doch glücklich seien alle Bedrohten, zweiundfünfzig an der Zahl, gerettet und folgten ihr auf dem Fuße.

Unendlicher Jubel herrschte im Hotel, im ganzen Europäerviertel, der sich vergrößerte, als die Geretteten auf Wagen und Pferden endlich anlangten. Mit der rührendsten Teilnahme wurden sie empfangen und der sorgsamsten Pflege übergeben.

Sie erzählten schreckliche Dinge von der Grausamkeit der Boxer.

Einer der älteren Ingenieure sagte: »Gott möge uns allen beistehen, aber ich fürchte, das ist der Anfang des Endes. Die Eisenbahn ist zerstört, wir sind von Tientsin abgeschnitten.«


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