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Herr Kau-ti

In einem der verschlungenen Pfade des Tiergartens bei Berlin schritt – es war noch früh am Tage – ein junger Chinese langsam und sinnend einher.

Auf den schwarzen seidenen Rock, der nur die Füße frei ließ, fiel von dem dunklen seidenen Käppchen der schwarze, sorgfältig geflochtene Zopf hernieder.

Die Gestalt war schlank und fein proportioniert, doch wenig über Mittelgröße.

Das gelbliche, bartlose Gesicht des jungen Mannes trug zwar unverkennbar die Züge des Sohnes des Reiches der Mitte, doch in jener gemilderten Form, die sie auch dem Auge des Europäers angenehm macht. Ihr Ausdruck war sanft und zeugte von reger geistiger Tätigkeit, wie auch die dunklen Augen, die nachdenklich vor sich hinblickten, inneres Leben verrieten. Die Haltung des jungen Chinesen hatte etwas anmutig Vornehmes.

Als er langsam dahinschreitend das Standbild der Königin Luise vor sich sah, blieb er stehen und ließ mit unverkennbarer Bewunderung die Augen auf demselben ruhen.

Mit einem leichten Seufzer, als wollte er sagen: »Wann werden unsere Künstler es zu solcher Vollendung in der Nachbildung des Menschen bringen?« schritt er weiter die Pfade entlang, die um diese Zeit wenig besucht waren.

Einige rauhe, lallende Stimmen kündeten dem Sohn des Ostens an, daß Leute ihm entgegenkamen, denen nicht zu begegnen für ihn wünschenswert sei. Denn waren auch die Berliner durch die seit Jahren dort weilende chinesische Gesandtschaft an die absonderliche Tracht der Fremden gewöhnt, so lag es doch nicht fern, daß etwa Angeheiterte, und das schienen trotz der frühen Tagesstunde die laut und polternd sich Unterhaltenden zu sein, den Zopfträger nicht unbelästigt lassen würden, sei es auch nur, um einen Ulk mit ihm zu treiben.

Er wandte sich, um einer Begegnung auszuweichen, als aus einem Seitengang wankenden Schrittes, den Hut schief auf dem Kopf und mit gerötetem Gesicht, ein unordentlich gekleideter Bursche trat, der, kaum ihn erblickend, lachend rief: »Lude – Ferde – hierher – hier jibt et eene Chose, hier lustwandelt een quittenjelbes Freilen, die eben vom Maskenball wegjeloofen is.«

Er vertrat dem Chinesen den Weg und sagte lallend: »Eschappieren jibt et nich, Freilen, wollen Ihnen nur erst eenen jesegneten Morgen wünschen!«

Im nächsten Augenblicke traten die anderen beiden, Arm in Arm einherwankend und die Spazierstöcke schwingend – bisher hatte sie eine Wendung des Weges verborgen – hinzu.

»Hahaha!« lachten sie, als sie den Chinesen erblickten.

»Det is 'ne putzige Kruke,« sagte der eine.

»Det Freilen is aus det Panoptikum wegjeloofen,« meinte der andere.

»Oder aus det ägyptische Museum.«

Der junge Chinese war stehen geblieben und sah die Männer ruhig an.

»Gestatten Sie, verehrtes Zitronenfräulein, det ick Ihnen den Arm biete,« sagte der, der zuerst gekommen war – »wir wollen Sie zu det Panoptikum jeleiten.«

»Wat se für eenen scheenen Zopp hat,« ließ sich ein anderer vernehmen, »det wär' wat für Aujustens Fensterladen.« Und er machte Miene, den Zopf anzufassen.

Hatte der Chinese die Worte verstanden oder nur die Gebärde begriffen, er zog seinen Zopf hastig über die Schulter.

siehe Bildunterschrift

... »Eschappieren jibt et nich, wollen Ihnen erst eenen jesegneten Morjen wünschen!« ...

»Ick muß doch sehen,ob det Ding echt ist,« sagte der, der eben gesprochen hatte, wieder und faßte, um sich des Zopfes zu bemächtigen, nach der Schulter des jungen Mannes, der ihm, ohne etwas zu erwidern, scheu und ängstlich auszuweichen suchte.

»Lassen Sie den Herrn gefälligst in Ruhe!« ließ sich eine gebietende Stimme vernehmen, und vor der Gruppe stand ein hochgewachsener junger Mann, dessen Körpergestaltung etwas ungewöhnlich Kräftiges an sich hatte.

»Nanu?« sagte der eine.

»Wat is denn det vor 'n Fatzke?«

»Wat jeht Ihnen denn det an, wenn wir uns mit det jelbe Freilen unterhalten?«

»Lassen Sie den Herrn unbelästigt, achten Sie den Fremden in ihm.«

»Herr? Wissen Sie, wat eene Knallschote is?«

»Machen Se man schleunigst kehrt, Männeken, oder et hagelt.«

Der Redner faßte den jungen Mann am Arm, flog aber auch sofort, und nicht ganz sanft, zu Boden.

Mit weit aufgerissenen Augen sahen das die beiden anderen.

»Komm, Lude,« lallte der eine, »mit dem is nich jut Kirschen essen.«

»Det is 'n janz unjebildeter Mensch – hast janz recht, mit dem lassen wir uns nich in.«

Sie wandten sich und traten einen zwar nicht ganz geraden, aber eiligen Rückzug an.

Der Niedergeworfene hatte sich in eine sitzende Stellung gebracht und starrte den jungen Hünen etwas verstört an. »Det is 'ne janz jemeene Behandlung, verstehn Se mir? Ick werde mir bei 's Kammerjericht beschweren.«

Ohne seiner zu achten, winkte der junge Mann, der einen grauen, eleganten Sommeranzug trug, dem Chinesen freundlich zu, ihm andeutend, der Weg sei für ihn offen.

Der trat lächelnd auf den zu, der ihm so zur rechten Zeit zu Hilfe gekommen war; er hatte nicht ohne Erstaunen gesehen, wie der eine seiner Bedränger so schleunig die Erde aufsuchte, und sagte in gutem Deutsch: »Ich danke Ihnen sehr, mein Herr, Sie haben mich aus einer unangenehmen Lage befreit.«

Nicht ohne Überraschung vernahm der Angeredete die deutschen Worte.

»Wie, Sie sprechen Deutsch?«

»Mit Vorliebe sogar.«

»So bitte ich Sie, uns Berliner nicht nach den angetrunkenen Subjekten hier zu beurteilen.«

»Gewiß nicht,« erwiderte freundlich der Chinese, »ich lebe bereits lange genug hier, um den Berliner aufrichtig zu schätzen, und die Roheit dieser Menschen beeinflußt mein Urteil nicht.«

»Ich höre das mit Vergnügen und ebenso, wie vortrefflich Sie sich meiner Muttersprache bedienen.«

»Ich habe mich schon in meiner Heimat bemüht, sie zu erlernen und meine Studien in den drei Jahren, die ich hier zur Gesandtschaft gehöre, eifrig fortgesetzt. Mein Name ist Kau-ti, – ich bin Sekretär und Dolmetscher Seiner Exzellenz.«

»Mein Name ist Gerhardt, Herr – von Beruf bin ich Seemann,« erwiderte der junge Mann.

Dem Chinesen schien die herkulische Gestalt, das schöne offene Gesicht des jungen Seemannes, dessen Kleidung und Haltung den Mann von guter Erziehung verrieten, sehr zu gefallen, wie das seine dunklen Augen deutlich sagten.

»O, das freut mich. Wir Chinesen lieben die deutschen Seeleute. Waren Sie bereits im Lande meiner Heimat?«

»Nein. Doch wäre es mir ganz genehm, wenn ich demnächst nach dem Osten käme.«

»Sind Sie Kriegsschiffer?«

»Nein, ich bin Steuermann auf der Handelsflotte, muß aber jetzt mein Jahr auf einem Kriegsschiff abdienen. Möglich, daß ich nach der Ostasiatischen Station beordert werde.«

»Ich bewundere Ihre Flotte, Ihr Heer, Herr Gerhardt, bewundere die hohe Blüte Ihrer Industrie, besonders auf technischem Gebiete, doch mehr noch Ihre Gelehrten.«

»O,« erwiderte lächelnd Gerhardt, »das überrascht mich; ich habe mir immer sagen lassen, daß die chinesischen gelehrten Herren etwas von oben auf uns herabblickten.«

»Leider ist es so,« sagte ernst der Chinese, »und ich wünschte innig, daß jeder unsrer Studenten auf einige Jahre nach Europa geschickt würde, um das Wissen der Abendländer kennen zu lernen und eine europäische Sprache sich zu eigen zu machen.«

»Es freut mich zu hören, daß Sie, Herr Kau-ti, gewiß selbst ein Gelehrter, eine so gute Meinung von dem Stande unsrer Wissenschaft hegen.«

»So sehr, daß ich fleißig die Vorlesungen der Universität besuche. Da strömt ein lebendiger Quell, während wir zu Hause unseren Wissensdurst fast nur mit abgestandenem Wasser stillen dürfen. Doch das ist eine so ketzerische Meinung, daß ich nicht wagen möchte, sie in meiner Heimat zu äußern.«

Der junge Seemann erkannte, daß er in dem zarten Sprößling des Chinesenreichs, der etwas fast Mädchenhaftes an sich hatte, ein Eindruck, den die lange weibische Tracht unterstützte, einen Mann von wirklicher Bildung vor sich sah, und dies nötigte ihm Achtung ab, wie ihm auch sein fehlerloses Deutsch imponierte.

»So mache ich Ihren Wunsch zu dem meinen, daß sich recht viele Ihrer Landsleute von deutschem Wissen nähren mögen.«

»Es wird einst – dahin – kommen,« sagte Kau-ti mit sinnendem Blick, »muß dahin kommen. Die Deutschen sind uns von allen europäischen Nationen die sympathischste, sie haben uns nie ein Leid zugefügt.«

Während die beiden jungen Leute, der reckenhafte blonde Seemann und der dunkle schmächtige Chinese, so miteinander plauderten, waren sie an dem Rande des Tiergartens angelangt.

Als sie langsam den Zelten zuschritten, begegnete ihnen eine Dame in dunkler Kleidung, deren blasses, gewiß einst schönes Gesicht sehr verhärmt aussah. Kaum erblickte sie den jungen Chinesen, als sie ihn grüßte und alsobald mit den Worten anredete: »O, das ist ein Glück, daß ich Sie hier treffe, ich suchte Sie auf der Gesandtschaft vergeblich. O, Herr Sekretär, ist noch keine Nachricht von meinem Mann und meinem Kinde gekommen?«

Die blaßblauen Augen der Frau hatten etwas Verstörtes, Scheues, als sie jetzt auf den jungen Chinesen gerichtet waren.

»Noch nicht, Madame,« antwortete dieser sehr höflich.

»O, wie schade. Ich hatte so sehr darauf gerechnet, heute Nachricht zu empfangen. O, wie lange muß ich warten,« setzte sie seufzend hinzu. »Sie haben meinen kleinen Willi nicht gekannt, nicht wahr?«

»Nein, Madame.«

»Und meinen Mann auch nicht, Sie würden sonst begreifen, wie sehr ich besorgt bin, da ich so lange keine Nachricht erhalte. Sie kannten Willi auch nicht?« wandte sie sich an Gerhardt.

Dieser wußte jetzt, daß er eine geistig Kranke vor sich hatte, und sagte bewegt: »Nein, verehrte Frau.«

»O, es ist ein so süßes Kind, mein Alles auf der Welt. Und nun erhalte ich gar keine Nachricht, ich weiß nicht einmal, ob sie glücklich angekommen sind. O, wie schrecklich, so lange warten zu müssen. Das süße Kind, ich bin in großer Sorge. Nun, ich komme nächste Woche wieder, Herr Sekretär, vielleicht ist dann Nachricht da.« Sie schritt davon.

Auf den fragenden Blick Gerhardts sagte Kau-ti: »Eine arme Kranke, die den Verlust des Gatten und eines Kindes, die in den chinesischen Gewässern zu Grunde gingen, zu beklagen und darüber den Verstand verloren hat. Sie erscheint seit längerer Zeit allwöchentlich auf der Gesandtschaft und erkundigt sich nach den Ihren. Ich empfange sie gewöhnlich, daher die Bekanntschaft.«

»Arme, arme Frau. Sie wissen nichts Näheres?«

»Wenig. Sie ist die Frau eines Kaufmanns Stromberg, der mit dem Dampfer ›Nautilus‹ zu Grunde ging. Das Schiff lief von Hongkong aus, und man hat nie wieder von ihm gehört; es wurde wahrscheinlich das Opfer eines Taifuns. Auch Ihr Auswärtiges Amt weiß nicht mehr wie wir.«

Dem jungen Seemann hatte die Geisteskranke einen erschütternden Eindruck gemacht, und er wiederholte leise: »Beklagenswerte Frau.«

Nach einiger Zeit sagte der Chinese: »Ich möchte Ihnen gerne meinen Besuch machen, Herr Gerhardt, um Ihnen noch einmal für Ihren Beistand zu danken.«

»Es wird meine Mutter, wird mich sehr freuen, doch Dank find Sie mir nicht schuldig, Herr Kau-ti. Ich wohne in Charlottenburg, Wilmersdorferstraße Nr. 4.«

»Sehr wohl, ich werde nicht verfehlen, Sie aufzusuchen. Auf Wiedersehen also, ich muß mich verabschieden, mein Chef wird mich erwarten. Es soll mich freuen, unsere Bekanntschaft fortsetzen zu können.«

Er reichte Gerhardt die Hand und ging nach den Zelten zu, wo die chinesische Gesandtschaft lag, während der Seemann umkehrte und den ersten Wagen benutzte, um nach Charlottenburg zu fahren.

*

Das kleine, von einem wohlgepflegten Gärtchen umgebene Haus von Frau Professor Gerhardt lag am Ende der Wilmersdorferstraße; ein bescheidenes, doch überaus freundliches Heim.

Frau Gerhardt hatte sich hierher zurückgezogen, als ihr Gatte, der an einem der Gymnasien Berlins lehrte, ihr durch den Tod entrissen worden war. Ihr tiefer Schmerz über den Verlust des ihr so teuren Mannes wurde gemildert durch die beiden Knaben, die er ihr hinterließ und auf die sich nun ihre ganze Liebe konzentrierte.

Sie war in behaglichen äußeren Verhältnissen zurückgeblieben, denn außer ihrer Pension bezog sie die Zinsen eines kleinen Vermögens, das bei einem Bankier der Residenz niedergelegt war, und nannte Haus und Gärtchen ihr eigen. Ihre beiden Söhne, Arnold und Erich, waren ihre Freude und ihr Stolz, und herrlich entwickelten sich die Knaben, die, so verschieden ihre Charakterveranlagung auch war, einig waren in der Liebe zur Mutter.

Arnold war von Jugend auf ein stilles, sinnendes Kind, das sich stundenlang allein beschäftigen konnte und, an der Mutter Schoß geschmiegt, am liebsten den Erzählungen aus der heiligen Geschichte lauschte, lieber noch als den Märchen aus alter Zeit. Erich, der Jüngere, aber war ein ungestümer, wilder Knabe, dem keine Mauer und kein Baum zu hoch waren, der nur eines fürchtete, der lieben Mutter Kummer zu bereiten.

Auch in der Schule zeigte sich der Unterschied.

Während Arnold die Freude der Lehrer war, schüttelten sie zuweilen über des Jüngeren wilde Weise den Kopf, der, obgleich begabt genug, einen unregelmäßigen Fleiß zeigte, stets aber, wenn er einmal eine Niederlage erlitten hatte, das Versäumte eifrig nachholte.

Die beiden so ungleichen Brüder liebten sich herzlich. Sie hatten kaum einige Jahre die Schule besucht, Arnold war einem klassischen, Erich einem Realgymnasium anvertraut worden, als ein großes Unglück die Familie traf. Der Bankier, der das kleine Vermögen Frau Gerhardts verwaltete, war eines Tages spurlos verschwunden und hinterließ ein Defizit, das in die Millionen ging. Weiterhin hatte er die Depots angegriffen und Hunderte von Leuten durch seine betrügerische Handlungsweise an den Bettelstab gebracht. Auch Frau Gerhardt verlor auf diese Weise ihr kleines Vermögen.

Zwar war die Behörde mit aller Energie hinter dem Entflohenen her, doch ohne Erfolg. Der Bankier war wie von der Erde verschwunden. Dieser Schlag traf die Witwe hart. Aber mutig, gottergeben ertrug sie ihr Unglück, und die beiden Knaben, die wohl begriffen, wie schwer sie heimgesucht waren, fügten sich ohne Murren in jede fortan gebotene Einschränkung, glücklich, wenn ihre Mutter zufrieden aussah.

Während aber der sanfte Arnold nie ein hartes Wort für den hatte, der so großes Leid über sie heraufbeschworen, gelobte der trotzige, feurige Erich ihm schwere Vergeltung.

Die Jahre vergingen und deutlicher prägten sich die Charaktere der Knaben aus.

Der sinnige Arnold glaubte das höchste Glück dieser Welt, seinen eigensten Beruf darin zu finden, den Heiden das Wort Gottes verkünden zu dürfen, während Erich eine leidenschaftliche Vorliebe für den mannhaften Beruf des Seemanns verriet.

Dies erfüllte die Mutter mit banger Sorge, denn den Glaubensboten wie den Seemann riß ihr Beruf von ihrer Seite. Arnold bezog mit achtzehn Jahren die Universität, um Theologie und nebenher mit eisernem Fleiße orientalische Sprachen zu studieren.

Da die Mittel, nachdem das kleine Vermögen Frau Gerhardts dem betrügerischen Bankier zur Beute geworden war, nicht mehr ausreichten, um Erich zur Flotte geben zu können, ging der entschlossene Knabe auf ein Segelschiff als Schiffsjunge und machte diese harte Schule durch, war aber bald ein ganzer Seemann geworden, der mit den ältesten Matrosen an Kühnheit und Geschick wetteiferte. Er war kaum vier Jahre gefahren, als er die Seemannsschule in Hamburg besuchte und das Untersteuermannsexamen mit Glanz bestand.

Bei Arnold aber war der Drang hinauszuziehen und die umnachteten Seelen der Heiden für das Evangelium zu gewinnen, stärker und stärker geworden, und die Mutter, mit so großer Sorge es sie erfüllte, wagte dem frommen begeisterten Jüngling nicht entgegen zu sein. Arnold hatte sich nach seinem Triennium in den Dienst einer der größeren Missionsanstalten gestellt und erwartete den Tag, der ihn hinausführen würde, einen Diener am Worte, in die Länder der Heiden.

Das war die Lage der Familie Gerhardt an dem Tage, der Erich im Tiergarten mit dem jungen Chinesen Kau-ti zusammenführte.

Als Erich nach Hause kam, berichtete er der Mutter von seinem Bekanntwerden mit dem Gesandtschaftssekretär aus dem Reiche der Mitte und sagte ihr, daß dieser einen Besuch machen würde.

Als er dann auch von der Begegnung mit der geisteskranken Frau Stromberg sprach, war seine Mutter tief erschüttert.

»Ich habe sie als Mädchen recht gut gekannt, doch seit ihrer Verheiratung aus den Augen verloren. Die Arme! Ihr Mann reiste mit dem Knaben nach China, wo der Großvater, der dort ein großer Handelsherr war, den Jungen, der einst sein Erbe sein sollte, sehen wollte. Beide sind dort mit dem Schiff, auf dem sie waren, verschollen – der Großvater seitdem verstorben. Daß die Arme sich ihr Unglück so zu Herzen genommen hat, um geistesgestört zu werden, wußte ich nicht – o – wie sehr ich sie bedauere! Morgen gleich will ich sie aufsuchen.«

Ehe noch die Absicht des chinesischen Gesandtschaftssekretärs, einen Besuch bei Gerhardts zu machen, ausgeführt wurde, erhielt Erich Befehl, sich in Wilhelmshaven zu stellen, da er dem Geschwader der Nordsee zugeteilt sei, und folgte nach herzlichem Abschied von der Mutter dem Rufe der Pflicht.

Einige Tage später erschien Herr Kau-ti wirklich bei Frau Gerhardt und bedauerte sehr, ihren Sohn nicht mehr vorzufinden, umsomehr, als er, Kau-ti, nach China zurückberufen worden sei, wohin er sich in einigen Wochen begeben werde.

Frau Professor Gerhardt gefiel der wohlerzogene junge Chinese, der so gut Deutsch sprach, sehr, und umsomehr, als ihm ihr mannhafter Erich einen erkennbar nachhaltigen Eindruck gemacht hatte.

Herr Kau-ti bedauerte auf das lebhafteste, die Bekanntschaft mit dem jungen Seemann nicht fortsetzen zu können, und empfahl sich mit der Bitte, ihm wiederholt seinen Dank für seinen energischen Beistand auszudrücken.

Wiederum ging ein Jahr rasch vorüber.

Erich hatte seine Zeit auf dem Panzer »Wörth« abgedient und war mit dem Rang eines Deckoffiziers zur Reserve entlassen worden. Alsbald hatte er, um nicht der Mutter zur Last fallen zu müssen, ja um diese unterstützen zu können, Dienste auf einem Barkschiff, das nach Südamerika segelte, genommen.

Seinen Bruder hatte er nicht wiedergesehen.

An diesen war gleich darauf der Ruf ergangen, als Glaubensbote in China tätig zu sein, dessen seltsame Sprache er bereits vortrefflich beherrschte. Arnold war diesem Rufe freudig gefolgt.

Er war von seliger Begeisterung erfüllt für das hehre Amt, als ein Nachfolger der Apostel dem Reiche Gottes Seelen zu gewinnen.

Seine Mutter ließ den sanften, gottergebenen Jüngling ziehen und verschloß den Kummer, den ihr sein Scheiden bereitete, tief in ihrem Herzen.

So blieb Frau Gerhardt einsam in ihrem kleinen Hause in Charlottenburg zurück, den Tag herbeisehnend, der ihre Kinder ihr wieder zuführen würde, den sanften Diener Gottes, der in hehrem Berufe unter den Heiden weilte, und den frischen, oft etwas derben Seemann, der den wilden Ozean durchfurchte.


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