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Wachstum und Siechtum der Volkswirtschaft

Lists nationales System

Den dürftigen Erfolg dieser Verhandlungen mit den Welfenhöfen empfand man in Berlin sehr peinlich, denn Preußens Ansehen im Zollvereine war ohnehin schon erschüttert durch einen wirtschaftlichen Parteikampf, der 1841 durch Lists Buch »Das nationale System der politischen Ökonomie« eingeleitet wurde. Die einfache, damals noch viel verkannte Wahrheit, daß die Volkswirtschaftslehre eine historische Erfahrungswissenschaft ist und folglich auch mit den praktischen Erfahrungen der Gegenwart in beständiger Wechselwirkung steht, ließ sich gerade in dem Deutschland dieser Tage mit Händen greifen. In allen andern Wissenschaften hatten wir uns längst unsere eigene Bahn gebrochen; nur die Nationalökonomie verharrte noch in einem seltsamen Anachronismus, sie folgte noch fast blindlings den Lehren des Auslands, weil unser Wohlstand noch so jung, selbst die Einheit des nationalen Marktes noch nicht ganz errungen war, große wirtschaftliche Parteien sich erst zu bilden begannen.

Die sensualistische Philosophie der Schotten war in Deutschland nie zu allgemeinem Ansehen gelangt und schon durch Kant wissenschaftlich überwunden. Gleichwohl herrschte in der deutschen Volkswirtschaftslehre noch die Lehre Adam Smiths, die doch mit dem Sensualismus stand und fiel; sie war seitdem durch Ricardo und Say mit einseitiger Härte weitergebildet worden und durch Bastiats lebendige populäre Schriften auch in weitere Kreise eingedrungen. Sie hatte einst, da es galt, die alte feudale Gesellschaftsordnung zu zerstören, als eine zeitgemäße, befreiende Macht gewirkt; jetzt lebte sie auf den deutschen Kathedern nur noch fort als eine gedankenlose Tradition. Ganz nach der unlebendigen Methode des alten Naturrechts, die doch längst kein tüchtiger Jurist mehr gelten ließ, pflegte der Nationalökonom seine Sätze in logischer Folge abzuleiten aus der Abstraktion des billig kaufenden und teuer verkaufenden Einzelmenschen. Aus dem Kampfe der Selbstsucht dieser Einzelwesen, aus dem freien Spiele der sozialen Kräfte sollte dann ganz von selbst die Harmonie aller Interessen, die gerechte und vernünftige Ordnung der Gesellschaft hervorgehen; der tierische Trieb des Eigennutzes vollbrachte mithin das Wunder, die Menschen über den Zustand der Tierheit zu erheben. Feinere Naturen, die das Undeutsche dieser Lehre empfanden, wollten mindestens der weitblickenden Selbstsucht eine solche Wunderkraft zuschreiben, ohne zu bedenken, daß die Selbstsucht nicht weit blicken kann, von ihren Niederungen aus das Ganze des Volkslebens nicht zu übersehen vermag. Die Theorie beruhte auf einem unhistorischen Optimismus, der zwei Großmächte der Weltgeschichte, die Mächte der Dummheit und der Sünde, ganz verkannte und folgerecht zu dem Schlusse gelangen mußte, durch die zunehmende Erkenntnis des eigenen Interesses würde das Verbrechen von selbst aus der Menschheit verschwinden. Wohl lehrten auf den deutschen Universitäten Schmitthenner, Eiselen sowie einige andere wenig hervorragende Anhänger des Schutzzollsystems, und C. H. Rau in Heidelberg, ein besonnener Anhänger der Lehre Smiths, speicherte in seinen gründlichen Lehrbüchern ein reiches statistisches Material auf, um also aus der Fülle der Erfahrung heraus die einzelnen Sätze des Systems zu ergänzen oder einzuschränken. Vorherrschend blieb doch die Meinung, daß die Güterwelt überall und jederzeit unwandelbaren Naturgesetzen unterworfen sei.

In dies Traumleben der theoretischen Abstraktion brach nun Lists Buch wie ein Wetterschlag herein. Mit dem ganzen Pathos seiner vaterländischen Leidenschaft bekämpfte er den Individualismus und, was im Grunde dasselbe sagte, das Weltbürgertum der herrschenden Schule. Er zeigte, daß die Volkswirtschaft jeder Nation ein lebendiges Ganzes bildet, alle ihre Glieder aufeinander angewiesen sind und »die Individuen den größten Teil ihrer produktiven Kräfte von der politischen Organisation der Regierung und der Macht der Nation empfangen«. Mit mäßigen historischen Kenntnissen, aber mit einem glücklichen historischen Blicke, der trotzdem meistens das wesentliche herausfand, schilderte er den wirtschaftlichen Entwicklungsgang der großen Nationen, wie sie sich allesamt in harten Machtkämpfen mit dem Wettbewerb anderer Völker behauptet, ihren heimischen Gewerbefleiß durch Zölle und Monopole geschützt hatten.

Auf dem Grunde dieser historischen Erfahrungen baute er nun sein eigenes Schutzzollsystem auf, das sich von dem alten Merkantilsystem wesentlich unterschied: er suchte den Reichtum der Völker keineswegs in den edlen Metallen, aber er erkannte die von den Freihändlern abgeleugnete Bedeutung der Handelsbilanz wieder an, da sich an dem Werte und der Art der ein- und ausgeführten Waren allerdings die Höhe der wirtschaftlichen Kultur eines Volkes annähernd abschätzen läßt; er verlangte Schutzzölle als Mittel der Ermunterung und Erziehung, damit neue produktive Kräfte, immerhin gegen die Aufopferung von Tauschwerten, geweckt würden, die Nationen des Festlands sich von dem Drucke der englischen Handelsübermacht befreiten und schließlich dahin gelangten, »nur von denen zu kaufen, die von uns kaufen«. Berauscht von dem Anblick der jugendlich aufstrebenden nordamerikanischen Welt, sah er in dem Wohlstande, zumal im industriellen Vermögen, schlechthin alles und behauptete keck, in gleichem Verhältnis mit dem Reichtum wüchsen überall die Tätigkeit, die Bildung, ja sogar die Sittlichkeit der Nationen. Durch Wohlstand wollte er sein heißgeliebtes Volk zur Freiheit erziehen, ihm die Duckmäuserei, das Philistertum, die Wolkenkuckucksheimer Träume austreiben. »Auf der Ausbildung des deutschen Schutzsystems – das blieb der Grundgedanke – ruht die Unabhängigkeit und Zukunft der deutschen Nationalität.«

Diesmal täuschte sich sein Seherblick, der sonst selten irrte: Deutschland sollte ohne hohe Schutzzölle sich sein neues Reich erbauen und erst weit später, als seine politische Macht längst gesichert war, bei gänzlich veränderter Lage des Weltmarkts sich dem Schutzzollsysteme zuwenden. Dennoch war seine Schrift ein Markstein in der Geschichte unserer politischen Bildung. Zum dritten Male regte der kühne Mann, wie einst bei der Begründung der Handelseinheit und des Eisenbahnwesens, durch einen weckenden Ruf sein Volk kräftig auf. Er zuerst in Deutschland erschloß die Nationalökonomie, die man bisher fast wie eine Geheimlehre mathematischer Formeln gescheut hatte, durch lebendige, lichtvolle Darstellung dem Verständnis und der Teilnahme aller Gebildeten; er betrachtete sie, grundsätzlich absehend von allen fertigen Doktrinen, allein von dem Standpunkte historischer Erkenntnis und praktischer Geschäftserfahrung; er erwies mit flammender Beredsamkeit und oft stark übertreibend, daß alle großen volkswirtschaftlichen Fragen nationale Machtfragen sind, ihre Lösung über die Selbstbehauptung der Völker entscheidet. Dies letzte Verdienst war das größte; solche Wahrheiten konnten einem Volke, das gerade im Handel und Wandel seine fremdbrüderliche Schwachheit zeigte, ausländische Waren würdelos bevorzugte, nicht laut, nicht scharf genug gesagt werden. Darum entsetzten sich auch alle Ausländer, die auf Deutschlands Schwäche rechneten, über Lists Werk. Die englische Presse jammerte scheinheilig: wie sei es nur möglich, daß unter den humanen, gebildeten Deutschen eine so barbarische Gesinnung volkstümlicher Ausschließlichkeit auftauche; und selbst Graf Camillo Cavour nannte, da er die Freihandelslehren noch kurzweg als die rette dottrine bewunderte, das Buch des Schwaben eine krankhafte Ausgeburt des überspannten Nationalstolzes.

Die Fachwissenschaft wurde von Lists Ideen zunächst nur wenig berührt; ihm selbst lag ja auch nichts ferner als der Ehrgeiz des Gelehrten. Es geschieht aber nicht selten, daß die schöpferische Kraft der Geschichte die notwendigen, der Zeit gemäßen Gedanken gleichzeitig aus ganz verschiedenen Quellen hervorspringen läßt. Unabhängig von List, allein durch wissenschaftliches Nachdenken, hatte sich mittlerweile der junge Hannoveraner Wilhelm Roscher, der bald in Leipzig heimisch wurde, den Plan gebildet für seine reiche Gelehrtentätigkeit. Er wollte der Nationalökonomie das historische Verständnis erwecken, das die Rechtswissenschaft den Werken Savignys, Eichhorns, Niebuhrs verdankte. In einem kleinen Grundriß für Vorlesungen (1843) zeichnete er zuerst die Umrisse seiner historischen Methode; er faßte die Volkswirtschaft als eine Welt des Werdens auf und suchte überall zu zeigen, daß die Theorie nur relative Wahrheiten finden kann, daß dieselben Institutionen, die das jugendliche Volk erheben, dem gereiften zur Fessel werden. Ein Gelehrter von ausgebreitetem Wissen, ebenso bescheiden, gerecht, friedfertig, wie List trotzig, parteiisch, kampflustig war, stimmte Roscher auch in dem Streite des Tages keineswegs mit dem schwäbischen Agitator überein, da er den freihändlerischen Gedanken weit näherstand. Gemeinsam war den beiden nur der historische Sinn und die Erkenntnis der sittlichen Mächte des wirtschaftlichen Lebens. Während Lists Buch einen leidenschaftlichen Parteikampf entzündete, machte Roschers Grundriß langsam, ganz in der Stille seinen Weg; aus den Anregungen, die hier zuerst gegeben wurden, ging nach und nach eine neue, realistisch-historische Auffassung der Volkswirtschaft hervor, und es entstand im Laufe der Jahre eine deutsche nationalökonomische Schule, die fest auf eigenen Füßen stehend sich dem Auslande bald überlegen zeigte. (448-451.)

Wandlungen des sozialen Lebens

Die Wunden der Kriegsjahre waren endlich ausgeheilt, überall schritt die Industrie jetzt rascher vorwärts als in den letzten zwei Jahrzehnten. Seit dem Erscheinen des neuen Zollgesetzes bis Zum Tode des alten Königs hatte sich in Preußen die Zahl der Grob-, Nagel- und Messerschmiede von 59 000 auf 79 000, die der Webstühle für Baumwoll- und Halbbaumwollwaren von 14 000 auf 49 000 gehoben. Unter der neuen Regierung vermehrten sich binnen neun Jahren die Dampfmaschinen der Berliner Fabriken von 29 mit 392 Pferdekräften auf 193 mit 1265 Pferdekräften, und die Kopfzahl der Berliner Metallarbeiter hob sich in dreizehn Jahren von 3000 auf 4500. Schritt für Schritt suchte der deutsche Gewerbefleiß den weiten Vorsprung des Auslandes einzuholen. Als die Berlin-Anhaltische Eisenbahn gegründet wurde, bestellte sie in England 15 Lokomotiven und nur 6 bei Borsig; der aber tat sein Bestes mitsamt seinen wohlgeschulten Leuten, die sich stolz als eine Aristokratie in der Berliner Arbeiterschaft fühlten, und in dem Jahrzehnt nach 1842 lieferte er der Bahn schon 19 Lokomotiven, England und Belgien zusammen nur noch 16. Zugleich begannen die Deutschen auch für den übrigen Eisenbahnbedarf selbst zu sorgen, seit Caspar Harkort bei Hagen zuerst Eisenbahnwagenräder gefertigt hatte.

Allein sehr bald zeigte sich auch die Schattenseite des gewaltigen neuen Verkehrs. Unser Stolz war der starke wehrhafte Bauernstand. Deutschland besaß nach Verhältnis fast dreimal mehr Ackerland und sechsmal weniger unproduktiven Boden als Großbritannien, wo der Adel die Bauern großenteils ausgekauft hatte. Die Bevölkerung war in leidlichem Gleichmaß über Stadt und Land verteilt; darum bewahrte sich das deutsche Leben noch immer einen Zug ursprünglicher Kraft und unschuldiger Frische, dessen die urbane Kultur der südlichen und westlichen Nachbarvölker fast ganz entbehrte. Jetzt aber begann auch in Deutschland, erst langsam, dann unaufhaltsam anschwellend, der Zudrang zu den Städten. In Breslau entstand neben den Bahnhöfen nach kurzer Zeit ein neuer Stadtteil; in Hamburg, in Stettin, in Leipzig, selbst in dem stillen Dresden, wo man der Fremden halber die rauchenden Schlote ungern sah, wuchsen die Fabriken heran. Die Hast, die Genußsucht, die Unzufriedenheit des großstädtischen Lebens verbreiteten sich weithin in die kleinen Ortschaften und über das flache Land. Und wie gründlich wurden alle Lebensgewohnheiten durch die Massenproduktion der jungen Großindustrie verändert. Viele der gerühmten neuen Erfindungen, zumal in der Textilindustrie, waren ganz unnütz; sie förderten lediglich die Überproduktion, den wilden Kampf der Konkurrenz, den rastlosen Wechsel der Moden. Die derben alten Tuche, die sich der sparsame Bürgersmann nach vier Jahren noch einmal wenden ließ, kamen allmählich ab; die eleganten und wohlfeilen modernen Stoffe aber überdauerten selten einen Sommer. Der Düsseldorfer Maler wußte längst nicht mehr, womit er malte, und wenn er nachher die herrlich leuchtenden Farben seines Fabrikanten unbegreiflich schnell verbleichen oder gar den Firnis abbröckeln sah, dann beneidete er die schlichten alten Meister, die ihre Farben noch selber rieben und sich's darum auch zutrauten, für die Zukunft zu malen. Der Schriftsteller desgleichen konnte sich der angenehmen Erwartung hingeben, daß seine auf dem dünnen, glatten Maschinenpapiere wohlfeil und schnell gedruckten Werke in hundert Jahren buchstäblich unlesbar sein würden. Kurzlebig, vergänglich war alles, was die neue Industrie hervorbrachte, und es konnte nicht ausbleiben, daß diese Flüchtigkeit der wirtschaftlichen Arbeit auf die ganze Weltanschauung des Zeitalters zurückwirkte. Der große Ehrgeiz, der für die Dauer schaffen will, wird immer nur einzelne starke Geister beseelen; doch kaum jemals in der Geschichte ist die Lehre, daß der Mensch am Tage den Tag lebe, mit solcher Selbstgefälligkeit verkündigt worden wie in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Die gesamte radikale Literatur der Zeit predigte in mannigfachen Wendungen: mit der schweren alten Wissenschaft sei es vorbei, nur in der leichten Form der Publizistik könne das freie moderne Bewußtsein seinen Ausdruck finden, nur wer den Duft des frisch bedruckten Zeitungspapieres wie Morgenluft einatme, stehe auf der Höhe des Jahrhunderts. Ein neues Geschlecht begann heranzuwachsen, das von Ort zu Ort, von einem Eindruck zum andern hastete, schnell lernend und schneller vergessend, immer genießend, immer erwerbend, ganz in sich selbst und in das Diesseits verliebt, friedlos und freudlos. In Deutschland verrieten zunächst nur einzelne Anzeichen diese beginnende Umwandlung des sozialen Lebens. Die Macht der materiellen Interessen fand noch ein starkes Gegengewicht an dem hohen Idealismus der politischen Einheitskämpfe; und erst weit später, als die nationale Sehnsucht ihr Ziel erreicht hatte, sollte auch über Mitteleuropa ein Zeitalter des vorherrschenden Erwerbes und Genusses hereinbrechen.

Sehr schwer litt unter den veränderten Verkehrsverhältnissen das deutsche Haus und seine Hüterin, die Frau. Unsere wechselreiche Geschichte hatte nach dem Dreißigjährigen Kriege und sonst noch mehrmals Zeiten gesehen, da die Frau höher stand als der Mann und das verwilderte Männervolk an der guten Sitte des Hauses wieder gesundete; jetzt kamen Tage, da die Frau sich in der verwandelten Welt schwerer zurecht fand als der Mann und an ihrem natürlichen Berufe irr wurde. Die alte vorsorgliche Wirtschaftsweise, die das ehrenfeste Bürgerhaus für die Winterszeit mit reichen Vorräten auszustatten pflegte, verbot sich jetzt von selbst; die weibliche Handarbeit im Hause verlor Sinn und Wert, seit man Wäsche und Kleider im Laden fertig kaufte. Das patriarchalische Verhältnis zwischen Herrschaft und Gesinde ging zugrunde, der Wandertrieb der Zeit ergriff auch die Dienstboten. Also kam den Frauen ein guter Teil ihrer gewohnten stillen Wirksamkeit abhanden, sie fühlten sich unglücklich in einem halb zwecklosen Leben. Da überdies die Eheschließung in den höheren Ständen durch den sinkenden Geldwert und die verwickelten Erwerbsverhältnisse erschwert wurde, so wuchs die Zahl der unbefriedigten, der kranken und nervösen Frauen beständig an. Ratlos stand die Welt vor einer »Frauenfrage«, welche die einfache Vorzeit nicht gekannt hatte. Frauen drängten sich mit dilettierender Geschäftigkeit in männliche Berufe, und ganz wie einst in den Zeiten der Sittenverderbnis des klassischen Altertums stiegen aus dem Schlamme der Überbildung die Lehren der Weiberemanzipation empor.

Unnatürlich früh entstanden, obgleich der allgemeine Wohlstand noch recht bescheiden blieb, schon einzelne riesige Vermögen. Der Reichtum des Hauses Rothschild überbot bei weitem alles, was die römische Kaiserzeit an ungesunden Kapitalanhäufungen gesehen hatte. Es lag im Wesen der neuen Großindustrie, daß sie, um nur zu bestehen, beständig nach Erweiterung trachten mußte. Diesen Wandlungen des sozialen Lebens vermochte der Staat, der ja immer langsamer lebt als die Gesellschaft, längst nicht mehr zu folgen. Von solchen Vermögen, wie sie jetzt über Nacht aufwuchsen, hatten sich Hardenberg und Hoffmann nichts träumen lassen, als sie vor einem Vierteljahrhundert mit hausväterlicher Sorgsamkeit ihrem verarmten Volke die neuen Steuern auferlegten. In dem reichen Köln entrichteten um 1845 nur fünf Firmen die höchste Gewerbesteuer mit 260 Talern, und darunter waren die weltbekannten Bankhäuser Sal. Oppenheim und Schaaffhausen; die größte der beiden Rhein-Dampfschiffsgesellschaften zahlte nur 91 Taler. Nun gar die bescheidenen höchsten Sätze der Klassensteuer erschienen diesen Vermögen gegenüber wie Hohn, und mit gerechtem Groll sah der kleine Mann, wie unbillig der Reichtum bevorzugt wurde. Die neuen Kapitalmächte zeigten gar nichts von jener großartigen, gemeinnützigen, ganze Städte schmückenden und darum versöhnenden Freigebigkeit, welche den reichen Leuten des klassischen Altertums durch die Volkssitte aufgezwungen wurde. Sie benutzten nicht nur rücksichtslos ihre Überlegenheit auf dem Markte, sie begannen auch schon, dem Gesetze trotzend, sich gegen die Arbeitskräfte zu verschwören; es kam an den Tag, daß die Bonn-Kölner und die Leipzig-Dresdner Eisenbahngesellschaften sich zur Aussperrung mißliebiger Arbeiter verabredet hatten.

Man bemerkte auch bereits die ersten Anfänge einer internationalen Verbindung zwischen den großen Geldmächten. Im Mittelalter hatten zuweilen deutsche und französische Ritter gemeinsam gegen das Bürgertum gefochten, im sechzehnten Jahrhundert die Religionsparteien aller Länder unbedenklich die Hilfe der fremden Glaubensgenossen angerufen wider die andersgläubigen Landsleute. Es war der Ruhm der neuesten Geschichte, daß die Eigenart des Volkstums sich überall stark und bewußt ausbildete, daß die nationalen Gegensätze allmählich gewichtiger wurden als die Gegensätze der politischen, der ständischen, der kirchlichen Parteiung; die eigentümliche Größe der modernen Kultur lag in der Mannigfaltigkeit ihrer nationalen Gebilde. In dieser gesunden, natürlichen Entwicklung trat nun plötzlich ein unheilvoller Rückschlag ein. Die Börsenmächte aller Kulturländer begannen sich in der Stille über das gemeinsame Geldinteresse zu verständigen, und die neue internationale Partei des Großkapitals fand ihre natürliche Stütze an dem vaterlandslosen Judentum. Einer der Führer der europäischen Judenschaft, der radikale Abgeordnete Cremieux in Paris, verkündete bereits triumphierend, welche Riesenschritte Israel getan habe; und der französische Ultramontane A. Toussenel veröffentlichte schon 1847 sein warnendes Buch Les Juifs rois de l'époque. Die wertlose, an törichten Behauptungen überreiche Schrift zeigte immerhin, daß ihr fanatischer Verfasser ein scharfes Witterungsvermögen besaß.

Diesen Kapitalmächten stand die Masse der Arbeiter fast hilflos gegenüber. Wohl erschienen die sozialen Mißstände in der noch unfertigen deutschen Großindustrie bei weitem nicht so entsetzlich wie in Frankreich oder England; der verzweifelte Schlachtruf der französischen Arbeiter: »kämpfend sterben oder arbeitend leben« fand in Deutschland noch keinen Widerhall. Doch über Hungerlöhne, Kinderarbeit, Mißhandlung und Ausbeutung der Leute wurde schon laut geklagt, viele deutsche Fabrikanten hatten schon das schändliche englische Trucksystem, die Ablöhnung der Arbeiter durch Waren eingeführt; und als der wackere Breslauer Wolff (1843) das grauenhafte Elend in den Arbeiterwohnungen der »Kasematten« seiner Vaterstadt schilderte, da erkannte man mit Schrecken, daß auch Deutschland schon Höhlen des Jammers besaß, die sich mit der Pariser Rue de la misère oder dem Impasse des cloaques vergleichen konnten. Den besitzenden Ständen fehlte noch fast jedes Verständnis für die Empfindungen der Masse. Mancher Fabrikant im Erzgebirge erzählte unbefangen, ohne sich etwas Schlimmes dabei zu denken: sein Arbeiterstamm vermehre sich durch Inzucht in den neuerbauten Arbeiterkasernen; dort mochten die Leute nach Belieben in wilder Ehe beisammen leben, die nachsichtigen Behörden kümmerten sich nicht darum, welche Kluft die Höhen und die Tiefen der Gesellschaft trennte, das zeigte sich grell an dem Schicksal der Dorfgeschichten. Die Verfasser dieser so volksfreundlich gemeinten Dichtungen machten allesamt die tragikomische Erfahrung, daß ihre Werke dem niederen Volke ganz unverständlich blieben, weil der kleine Mann nur Schriftdeutsch lesen kann. Not und Trägheit setzten den Erziehungsversuchen der Staatsgewalt einen ungeheueren Widerstand entgegen. Nach so langen Jahren eifriger Arbeit war die preußische Unterrichtsverwaltung doch erst dahin gelangt, daß in Posen 61, in der Rheinprovinz 80 Prozent der schulpflichtigen Kinder die Schule besuchten, nur in der Provinz Sachsen schon 93 Prozent; und gerade die großen Fabrikstädte zeichneten sich durch die Verwahrlosung der Jugend bedenklich aus: in Elberfeld gingen nur 79, in Aachen gar nur 37 Prozent der Kinder zur Schule.

Der König betrachtete die Beschützung der kleinen Leute als heilige Christenpflicht; Parteilichkeit für das Großkapital lag seiner politischen Gesinnung fern, wieder und wieder beschäftigte ihn die Frage, ob er nicht in seinem geplanten Vereinigten Landtage den Arbeitern eine besondere ständische Vertretung gewähren solle. Er freute sich herzlich und bewilligte reiche Unterstützungen, als in Berlin nach der Gewerbeausstellung von 1844 ein »Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen« zusammentrat, der durch Volkssparkassen, Schulen, gemeinnützige Schriften zu wirken suchte. In vielen großen Städten entstanden dann ähnliche Vereine; Barmherzigkeit gegen die Armen war die Losung, die von dem frommen Hofe ausging. Doch leider fehlte dem Monarchen alle Kenntnis des praktischen Lebens; seine Beamten aber hielten fast allesamt noch das Anwachsen der neuen Großindustrie für einen Kulturfortschritt schlechthin und scheuten sich, die Unternehmer zu belästigen. An eine irgend ernsthafte Beaufsichtigung der Fabriken wagte man noch kaum zu denken. Als die Provinzialstände von Rheinland und Westfalen (1843) ein Gesetz gegen das Drucksystem verlangten, da erwiderte die Krone: im Notfall sei sie dazu bereit; es erschien ihr jedoch »sehr zweifelhaft«, ob der Gesetzgeber hier schützen könne, »ohne durch zu tiefes Eingreifen in die privatrechtlichen Verhältnisse die Existenz der Arbeiter, besonders in Zeiten gedrückten Fabrikbetriebes, zu gefährden«; sie gab sich vielmehr der unschuldigen Hoffnung hin, »das wucherische Benehmen einzelner Fabrikherren würde, gebrandmarkt durch die öffentliche Meinung, endlich ganz aufhören«.

Die in England längst gewährte Freiheit der Assoziation war in Deutschland, dank der Ängstlichkeit der Bureaukratie, den Arbeitern überall versagt. Aus aller Welt zusammengeschneit, heimatlos und doch streng an Ort und Zeit gebunden, vereinzelt, ohne jede ständische Ordnung, ohne kameradschaftlichen Gemeinsinn, ohne Freude an dem Erzeugnis ihres Fleißes, das sie nicht, wie jeder schlichte Handwerker, stolz als ihrer Hände Werk betrachten konnten, gedankenlose Sklaven der Maschinen, nur mangelhaft geschützt durch die hier und da neugebildeten Fabrikgerichte, blieben die Arbeiter also ganz in der Hand der mächtigen Unternehmer, die ihnen nur den ausbedungenen Lohn zu zahlen brauchten und auch diesen, auf Grund der willkürlich auferlegten Kontrakte, nur zu oft schmälerten. Dem Gesetze zuwider versuchten die Bedrängten sich zuweilen schon durch Arbeitseinstellungen zu helfen, so die Kattunweber in Berlin, die Eisenbahnarbeiter bei Brandenburg und Vohwinkel.

Auch auf dem flachen Lande des Nordostens zeigten sich krankhafte soziale Verhältnisse, seit man die zweischneidige Wirkung der Stein-Hardenbergischen Gesetzgebung zu fühlen begann. Wie zuversichtlich stellte Hardenberg einst an die Spitze seines Verfassungsplanes den Grundsatz: wir haben lauter freie Eigentümer; wie hoffnungsvoll sprach Sack von »dem zweiten und dem dritten Pommern«, das durch die Ansiedlung freier Bauern entstehen sollte. Und doch wie anders war alles gekommen. Der ländliche Mittelstand freilich hatte durch die agrarischen Reformgesetze erheblich gewonnen; die Bauern waren jetzt persönlich frei, der grundherrlichen Abgaben entlastet und, nach Abtretung eines Teiles ihrer Besitzungen, unbeschränkte Eigentümer. Sobald der Preis des Getreides wieder stieg, gelangten ihrer viele zum Wohlstand, zumal die besonders günstig gestellten alten Domänenbauern; manche wurden reicher als die benachbarten Rittergutsbesitzer und begannen gleich diesen, ihren Boden nach den Grundsätzen des neuen rationellen Ackerbaus zu bewirtschaften. Die Besitzer der kleinen, nicht spannfähigen Stellen hingegen sahen sich durch die Deklaration vom 29. Mai 1816 von der Regulierung ausgeschlossen, weil die Krone damals Bedenken trug, die im Kriege so hart mitgenommenen Grundherren durch Entziehung der gewohnten Handdienste ganz zugrunde zu richten. Seit die Landgüter frei veräußert werden durften, fiel aber auch der alte wohltätige Bauernschutz hinweg, und die Gesetzgeber konnten kaum vorhersehen, wie furchtbar die Freiheit des Auskaufens gerade unter den armen Leuten aufräumen sollte. Die Mehrzahl der kleinen Bauernstellen wurde nach und nach eingezogen, und während früherhin die Bauern, Kossäten, Häusler, Einlieger insgesamt dem einen Stande der bäuerlichen Gutsuntertanen angehört hatten, trennte sich jetzt die ländliche Bevölkerung allmählich in zwei Klassen.

Tief unter den Bauern stand fortan ein ländliches Proletariat von freien, wirtschaftlich ganz ungesicherten Tagelöhnern. Der halbfreie kleine Gutsuntertan der alten Zeit war zwar an die Scholle gebunden, aber auch berechtigt, diese Scholle zu bebauen; er nahm auch teil an der Gemeindenutzung, und der Gutsherr half ihm zuweilen durch. Die neuen Tagelöhner besaßen an Boden wenig oder nichts. Selbst bei der Gemeinheitsteilung gingen die Armen leer aus, weil ihnen die Auftrift nur kraft alter Gewohnheit, nicht von Rechts wegen zustand, und sie klagten bitterlich: jetzt werden die Bauern zu Edelleuten, wir zu Bettlern. Zudem waltete auch im Landvolke der Drang nach persönlicher Unabhängigkeit, der das ganze Jahrhundert wie eine unwiderstehliche Naturgewalt beherrschte. Die Masse der Häusler und der ganz besitzlosen Einlieger wuchs weit schneller an als die Zahl der neben dem Herrenhofe angesiedelten, oft besser versorgten Gutstagelöhner; man band sich nicht mehr gern für längere Zeit. Inzwischen nahmen die Kartoffelbrennerei und die Runkelrübenwirtschaft überhand, die Schlempe wurde der großen Wirtschaft auf dürrem Sandboden bald unentbehrlich; die Arbeiter hatten in diesen neuen landwirtschaftlichen Industriezweigen oft noch schwerer zu leiden als ihre Genossen in den städtischen Fabriken. In der neuen Gesellschaft fühlten sich die Tagelöhner haltlos, vereinzelt; die patriarchalische Gutsherrschaft bestand nicht mehr, und an den Beratungen der Dorfgemeinde hatten sie keinen Anteil. Das Landvolk besitzt aber ein zähes Gedächtnis. Die längst entschwundenen Zeiten, da jedermann sich im reichen Walde mit Holz laden durfte, blieben noch überall in Deutschland unvergessen, und nirgends wollte der Landmann recht einsehen, daß Waldfrevel wie andere Vergehen bestraft werden sollten. So wußte auch der neue Stand der freien Tagelöhner sehr wohl, daß seine Vorfahren einst ein Stück Land für sich selber bebaut hatten. Er fühlte dunkel, daß er Unrecht erlitten hatte, und allerdings war er das Opfer einer mittlerweile veralteten sozialpolitischen Denkweise; denn niemand kann gänzlich aus seiner Zeit heraus, die segensreichen Reformen Steins und Hardenbergs wurzelten doch in der Weltanschauung des achtzehnten Jahrhunderts, das unter dem Volke immer nur die Mittelklassen verstand und von den arbeitenden Massen wenig wußte. Da auf dem Lande der Grundbesitz eines und alles ist, so war den Wünschen der grollenden Tagelöhner ein bestimmtes Ziel gewiesen, und als die Revolution hereinbrach, klang aus aller Munde wie ein Naturlaut die Forderung: Der König muß uns Land verschreiben. – (506–512.)

Die schlesischen Weber

Im schlesischen Gebirge wagten die verzweifelten Weber offenen Aufruhr. Die Gewerbefreiheit hatte dies zunftfreie Gewerbe zwar nicht unmittelbar geschädigt, wohl aber mittelbar; denn die Zahl der freien Hausweber war seit den neuen Reformgesetzen stark angewachsen, desgleichen die Zahl der Kaufleute und Fabrikanten, und der scharfe Konkurrenzkampf verführte die Unternehmer zu einer grausamen Hartherzigkeit, die unter einem so gutmütigen Menschenschlage teuflisch schien. Ungeheuer war die Macht der Trägheit in diesem entkräfteten, hoffnungslosen Völkchen; die Weber widersetzten sich oft der Einführung verbesserter Arbeitsmethoden, sie entschlossen sich schwer, zu andern lohnenden Beschäftigungen überzugehen, sie trieben in den Rüben- und Kartoffelfeldern der benachbarten Grundherren unglaubliche Dieberei, und aus ihren überschuldeten Häuschen mochten sie nicht heraus, auch wenn sie anderswo besser und billiger wohnen könnten. Die habgierigen Kaufleute aber wollten ihre Waren lieber zu Spottpreisen von halbverhungerten Hausarbeitern beziehen als aus wohlgeordneten Fabriken. Dem Könige zitterte das Herz, als er bei seinen Besuchen in Erdmannsdorf etwas – leider nur zu wenig – von diesem Elend kennenlernte; er ließ dort und in einigen andern Orten des Gebirges durch die Seehandlung große Spinnereien errichten, bei denen mancher Unglückliche unterkam. In Breslau bildeten die Grafen Dyhrn, York, Zieten und der Dichter Gustav Freytag einen Hilfsverein, der sich bald in zahlreichen Ortsvereinen über die Provinz verzweigte. Das alles vermochte nichts gegen den gräßlichen Jammer. Oberpräsident Merckel aber und seine Regierungsräte wollten das Dasein eines Notstandes gar nicht eingestehen; sie glaubten felsenfest an die Heilkraft der volkswirtschaftlichen Naturgesetze, die durch Angebot und Nachfrage alles Leid von selber aufheben müßten, und witterten sogar in dem Breslauer Hilfsvereine gemeinschädliche Absichten. Ihr Mißtrauen ward erst beschwichtigt, als der Verein vorsorglich militärische Hilfe anrief und den Kommandierenden General, den wackeren Grafen Brandenburg, in seinen Vorstand erwählte. Erstaunlich doch, wie diese alten, in der Schule des allgemeinen Landrechts aufgewachsenen Beamten so ganz vergaßen, daß der friderizianische Staat auf einer monarchischen Organisation der Arbeit beruht hatte und das Landrecht selbst ein Recht auf Arbeit ausdrücklich anerkannte.

Im Frühling 1844 hörte man in den großen Weberdörfern des Gebirges überall ein neues Volkslied, das Blutgericht, singen:

Ihr Schurken all, ihr Satansbrut,
Ihr höllischen Dämone,
Ihr freßt den Armen Hab und Gut,
Und Fluch wird euch zum Lohne!

An einem Junitage wurde das Haus der Firma Zwanziger in Peterswaldau von den Webern zerstört, und noch zwei Tage lang hauste das ergrimmte Volk, alles zertrümmernd, selten raubend, in den Fabriken der Nachbarorte. Und es war wirklich nur die Raserei der Not, was diese Tobenden verblendete; von den Schriften der Kommunisten hatten die Armen, die sich abends ihre kalte Stube mit einem Kienspahn erleuchteten, nie ein Wort gelesen. Zu spät erkannte Merckel, wie gründlich er sich über die Lage getäuscht hatte. Er eilte selbst herbei; Truppen stellten, nicht ohne Blutvergießen, die Ordnung her, 83 Gefangene wurden abgeführt, die Hauptschuldigen zu schweren Strafen verurteilt. Nun sendete die Krone einen Generalbevollmächtigten, Geh. Rat v. Minutoli, zur Untersuchung des Notstandes, ließ durch die Seehandlung neue Spinnereien errichten, die Erwerbslosen bei großen Straßenbauten beschäftigen, daneben auch mannigfache bare Unterstützungen verteilen. Doch die Überlegenheit des englischen Wettbewerbs war nach so vielen Unterlassungssünden nicht mehr zu besiegen, auf die Selbsthilfe der Arbeiter konnte man ebensowenig zählen, wie auf die Einsicht der Unternehmer; die Lage der Weber blieb fast so elend wie zuvor. So war den Angriffen des Radikalismus Tür und Tor geöffnet, und der König befahl strenge Wachsamkeit wider die schlesischen Blätter, »in welchen das Bestreben, die unteren gegen die höheren Stände, die Armen gegen die wohlhabenden, aufzuregen, nicht zu verkennen ist«. In Breslau erschien ein halb kommunistisches Blatt, »Der Volksspiegel«; der anrüchige Literat Pelz verfaßte unter dem Namen Treumund Welp aufregende Schriften, und der Düsseldorfer Maler Karl Hübner aus Ostpreußen ließ in Berlin ein Tendenzgemälde »Die schlesischen Weber« ausstellen, dem nachher ähnliche, grob handgreifliche Bilder von Auspfändungen und Wilddieben folgten. Heine aber benutzte die Gelegenheit, um wieder einmal seinen Groll an dem Monarchen auszulassen, der sich doch während dieser traurigen Wirren weit volksfreundlicher gezeigt hatte als sein Beamtentum. Er sang das Weberlied:

Ein Fluch dem König, dem König der Reichen,
Den unser Elend nicht konnte erweichen,
Der den letzten Groschen von uns erpreßt
Und uns wie Hunde erschießen läßt,
wir weben, wir weben!

Einige Monate nachher, im Frühjahr 1845, wurde im Hirschberger Tale eine Eidgenossenschaft entdeckt, die auf den Umsturz von Staat und Gesellschaft hinarbeitete. An ihrer Spitze stand ein Tischler Wurm zu Warmbrunn. Auch er gehörte keinem der auswärtigen Geheimbünde an; er kannte jedoch ihre Schriften und hatte ganz in ihrem Sinne eine Proklamation entworfen, um die Gebirgsbewohner aufzurufen gegen »die Unterdrücker der arbeitenden Klassen – jene verächtliche Klasse von Menschen, die man den Adel nennt, deren Ursprung in den finstersten Zeiten der Barbarei ist, deren Vorfahren die Rolle der Straßenräuber, der Mordbrenner so schön spielten ... Wenn die Statuen der Könige in Trümmer stürzen, wird Euer Name sich mischen in den Sturm der Elemente und wie Donnergebrüll den letzten Tyrannen erschrecken, in der Mitte seiner gezwungenen Scharwächter, vom Lager, daß er zittere vor der erwachten Menschheit und fliehe wie ein Knabe.« Der König sendete sofort den Geh. Rat Mathis als Kommissar hinüber; in dessen Gefolge befand sich der junge schlaue Referendar Stieber, der hier zum ersten Male seinen polizeilichen Spürsinn bewährte. Im Verdachte der Mitwisserschaft stand außer dem unermüdlichen demagogischen Schulmeister Wander vornehmlich der Fabrikant Schlöffel in Eichberg, ein grimmiger Radikaler, der mit den Schweizer Flüchtlingen viel verkehrte. Der greise Oberpräsident aber wollte dem angesehenen Fabrikanten eine solche Torheit doch nicht zutrauen; er behandelte Schlöffel gütig, hielt ihn nur kurze Zeit in Haft. Deshalb entspann sich zwischen Merckel und Mathis ein heftiger Streit, und der König, der schon über die saumselige Behandlung der Webernöte aufgebracht war, verfügte nunmehr die Entlassung des Oberpräsidenten. Merckel hatte ihn früher gebeten, er möge es ihm selber sagen, wenn er zu seiner physischen oder moralischen Kraft kein Vertrauen mehr hege. Nun mußte der Minister des Innern kurzweg schreiben: dieser Zeitpunkt ist jetzt eingetreten, Se. Majestät sind von der Unzulässigkeit der bisherigen Verwaltung des Oberpräsidiums ganz überzeugt. So trat der Mann zurück, der seit mehr denn einem Menschenalter allen Schlesiern für das natürliche Haupt der Provinz galt und namentlich während seiner zweiten Amtsführung sich das allgemeine Vertrauen erworben hatte. Jetzt feierte man ihn, begreiflich genug, als ein Opfer der Reaktion. In einem gerührten Abschiedsschreiben dankte er für die zahllosen Beweise der Liebe seiner schlesischen »Vaterlandsgenossen «. Der Erfolg der Untersuchung schien ihm recht zu geben. Schlöffel wurde freigesprochen, da sich nichts Sicheres erweisen ließ; nur Wurm mußte, zum Tode verurteilt, ins Zuchthaus gehen.

Dann brach über ganz Deutschland eine jener schweren Teuerungszeiten herein, welche in der Geschichte fast regelmäßig den Revolutionen vorangehen. Die Ernte der Jahre 1846 und 1847 mißriet so gänzlich, daß der Zollverein, dessen Getreidehandel sonst immer eine starke Mehrausfuhr aufwies, im ersten Jahre fast 2,9 Millionen, im zweiten 5 Millionen Scheffel Roggen mehr, als die Ausfuhr betrug, einführen mußte. Am durchschnittlichen Ertrage der Roggenernte fehlte in Mitteldeutschland fast ein Viertel. Und was für unnatürliche Zustände in den einzelnen Landesteilen! Die halbverhungerten Ostpreußen mußten, weil sie selber nicht zahlen konnten, den größten Teil ihrer dürftigen Ernte in das Ausland verkaufen. Bei dem allgemeinen Elend zeigte sich der Bundestag wieder ebenso nichtig wie vor dreißig Jahren, und wieder wie damals verbot Österreich bundesfreundlich sofort die Getreideausfuhr nach den deutschen Nachbarländern.

Aber auch der Zollverein einigte sich nicht rechtzeitig über gemeinsame Maßregeln; man fühlte nur zu schmerzlich, daß der alte König, Motz und Eichhorn nicht mehr umsichtig den nationalen Handelsbund behüteten. Jeder Bundesstaat handelte auf eigene Faust, am klügsten das Königreich Sachsen, das die Ausfuhrverbote des österreichischen Nachbarn nicht erwiderte, sondern mit mäßigen Getreideeinkäufen und einer sehr milden Beaufsichtigung des Bäckergewerbes leidlich auskam, hier allein blieb die Ruhe ganz ungestört. Fast überall sonst in den größeren Städten, selbst in dem stillen Stettin, mußten Zusammenrottungen der hungernden kleinen Leute mehr oder minder gewaltsam auseinander getrieben werden. Viel zu denken gaben die Unruhen, welche Berlin im April 1847 drei Tage hintereinander heimsuchten.

Sie wurden durch die Schlaffheit des greisen Gouverneurs Müffling genährt, dann durch das entschlossene Eingreifen des Generals Prittwitz und seiner Kürassiere gestillt. Es fiel doch auf, wie viele wohlgekleidete Männer sich unter dem hungernden Pöbel umhertrieben; die zahlreichen Verwundeten hielten sich allesamt versteckt, kein einziger meldete sich in den öffentlichen Krankenhäusern. Man konnte sich des Verdachtes kaum erwehren, daß eine verschworene Umsturzpartei die gute Stunde benutzt hatte, um die Widerstandskraft der Staatsgewalt einmal auf die Probe zu stellen. Erschreckt durch diese Unruhen, ließ der König, um den Armen das unentbehrlichste Nahrungsmittel zu erhalten, für einige Zeit die Ausfuhr der Kartoffeln und die Branntweinbrennerei untersagen – ein Verbot, das nichts nützte, sondern, wie Kühne vorhersagte, die allgemeine Besorgnis nur steigerte. Der hessische Minister du Thil ließ in Holland Getreide einkaufen und verschaffte sich dazu Kreditbriefe vom Hause Rothschild. Als aber die Mehrzahl der holländischen Verkäufer vorzog, sich in Mainz bar bezahlen zu lassen, da wollte der menschenfreundliche Rothschild aus der ungewöhnlichen Landesnot auch noch einen ungewöhnlichen Gewinn ziehen und verlangte Entschädigung für die unbenutzten Kreditbriefe – was du Thil als »eine Unverschämtheit« rundweg zurückwies. Also half sich jeder Landesherr, wie er konnte; im Volke blieb viel dumpfer Mißmut zurück.

Nur an einer stelle Deutschlands wütete verheerend die Hungersnot: unter den Wasserpolen Oberschlesiens. Diese blutarmen Bergarbeiter hatten drei Jahre nacheinander die Kartoffelernte mißraten sehen, sie hatten »die Bergmannskuh«, die Ziege, längst geschlachtet, sie waren entnervt durch die Branntweinpest. Nun, da sie schon alle Hoffnung fahren ließen, wurde zugleich von Galizien her der Typhus eingeschleppt. Der Schnitter Tod heimste seine furchtbare Ernte ein, die unwissenden ratlosen Menschen verschlossen sich stumm verzweifelnd in ihren Häuschen. Alles war wie gelähmt, kein einziger Pfarrer berichtete dem edlen Fürstbischof Diepenbrock von dem entsetzlichen Jammer. Als endlich doch die Schreckenskunde nach Breslau gelangte, da kam Hilfe, aber sie kam zu spät. Die Barmherzigen Brüder und Schwestern durchzogen die Dörfer, an freiwilligen Beiträgen liefen 360 000 Taler ein, weit mehr, als die Weber des Gebirges erhalten hatten. Doch in den Kreisen Pleß, Rybnik, Ratibor mußten Staat und Gemeinden während der nächsten Jahr 4000 hilflose Waisenkinder versorgen; im Kreise Pleß allein waren im Jahre 1847 über 6800 Menschen gestorben, fast dreimal mehr als sonst in Jahresfrist, und darunter wohl 900 vor Hunger. Die neue Zeit und ihr König Dampf hielten auch in Deutschland ihren Einzug über Leichen, wenn der politische Unmut der Gebildeten und der soziale Groll der Armen sich dereinst zu gemeinsamem Kampfe zusammenfanden, dann war die alte Ordnung der Dinge verloren. – (519–523.)


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