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Die frohen Tage der Erwartung

Deutschland um 1840; Friedrich Wilhelm IV.

Am 9. Juni 1840 versammelte Fürst Metternich die sämtlichen in Wien anwesenden deutschen Gesandten zu einem Festmahle und gedachte in bewegter Rede jenes schönen Bundes, der nunmehr seit einem Vierteljahrhundert den Deutschen Glück und Frieden sichere. Fürstin Melanie weinte tiefgerührt; denn jeden Augenblick erwartete man aus Berlin die Kunde vom Tode des erkrankten Königs, und was mochte die heraufsteigende neue Zeit bringen? An der Tafel saß auch der Bundespräsidialgesandte Münch-Bellinghausen, der nach seiner Gewohnheit die letzten acht Arbeitsmonate an der Donau zugebracht hatte, um demnächst während der heißen Jahreszeit die Ferien des Bundestags wieder zu unterbrechen. Mancher der Gäste sogar konnte sich der unmutigen Frage nicht enthalten, ob dieser von der Hofburg so geringschätzig behandelte Bund wohl eines Festes wert sei. In der Nation ward der Erinnerungstag des Deutschen Bundes nirgends beachtet, kaum daß da oder dort ein Zeitungsblatt einen der landesüblichen bitteren Scherze über das rote Frankfurter »Inkompetenzgebäude« brachte.

Wer sollte auch jubeln über die Saat des Unfriedens, die in diesen fünfundzwanzig Friedensjahren aufgeschossen war 7 Schroffer, unversöhnlicher denn je traten die alten großen Gegensätze unserer Geschichte einander entgegen, während die deutsche Bundesverfassung nur durch die Freundschaft der beiden Großmächte aufrechterhalten werden konnte, und der Gesandte in Wien, Graf Maltzan, zur lebhaften Befriedigung des alten Königs, den Grundgedanken der korrekten preußischen Staatskunst in dem Satze zusammenfaßte: »Nicht unter, aber stets mit Österreich«, hatte derselbe Monarch bereits einen Weg eingeschlagen, welcher unausweichlich zur Trennung von Österreich führen mußte. Das stolze Werk dieser neu aufgenommenen friderizianischen Politik, der Zollverein, stand schon so fest, die Gemeinschaft der Arbeit zwischen den Deutschen außerhalb Österreichs erschien schon so unzerreißbar, daß Michel Chevalier eben jetzt, nach einer Reise durch Deutschland, bewundernd sagte: »In der europäischen Politik weiß ich nichts Merkwürdigeres als die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands, welch ein prächtiges Schauspiel, das eines großen Volkes, dessen Trümmer sich nähern, das zur Nationalität, das heißt zum Leben, zurückkehrt!«

Der grelle Widerspruch zwischen diesem jungen vollsaftigen wirtschaftlichen Leben und den Formen des starren, jeder Verbesserung spottenden Bundesrechts mußte die öffentliche Meinung verwirren. Die einen träumten noch dahin in dem Stilleben eines gedankenlosen Partikularismus, der durch die großen Verhältnisse des neuen nationalen Marktes schon überwunden war; andere wiederholten noch wie vor zehn Jahren die Schlagworte des radikalen Weltbürgertums; in den besten Klassen des Volkes aber erwachte allmählich ein leidenschaftlicher, reizbarer Nationalstolz. Sie ahnten, daß hier eine ungeheuere Volkskraft durch tausend verfitzte und verschrobene politische Rücksichten künstlich unterbunden war. Verwegene Ansprüche, wie sie vordem nur vereinzelte Schwärmer gewagt hatten, wurden zum Zeitungsgespräche. Man begann zu fragen, warum dieser junge Zollverein nicht, wie einst die Hansa, seine Flagge auf dem Weltmeere entfalte und durch seine Orlogschiffe beschütze, warum er nicht teilnehme an der Eroberung der transatlantischen Welt. Nach allen entfremdeten Tochterlanden unseres Volkes, bis nach Flensburg, bis nach Riga und Reval schweiften die verlangenden Blicke der patriotischen Schriftsteller; und als in diesem wechselreichen Sommer die Rheingrenze von neuem bedroht schien, da erhob sich mit elementarischer Gewalt ein Sturm nationalen Zornes, der deutlich bekundete, daß der Geist der Befreiungskriege nicht erstorben war, daß die Zeiten der Erfüllung unserm ringenden Volke endlich nahten. Mit dem nationalen Stolze wuchsen auch die Freiheitshoffnungen. Nach so vielen Kämpfen und Enttäuschungen begannen sich die Liberalen um diese Zeit das theoretische Ideal des parlamentarischen Staates zu formen, das sie seitdem festhielten, bis mit dem Jahre 1866 der monarchische Staatsgedanke wieder erstarkte. Einer ihrer Führer, der Braunschweiger Karl Steinacker, erklärte jetzt kurzab: »Die Regierung im Repräsentativstaate ist immer die Darstellung der Majorität im Staate«; der besonnene, wohlmeinende Mann ahnte nicht, daß er mit dieser Lehre dem Königtum jede selbständige Macht raubte und nur den Weg ebnete für die republikanischen Ideen, die unter den Flüchtlingen, unter der aufgeregten Jugend gewaltig überhandnahmen.

Wie weitab von solchen beständig steigenden doktrinären Ansprüchen des Liberalismus lag die Wirklichkeit der deutschen Zustände: die überaus bescheidene Macht der süddeutschen Landtage und die dreiste Willkür des Welfenkönigs, der ungestraft sein Landesrecht mit Füßen trat. Auch auf dem Gebiete der Theorie erstanden der liberalen Lehre einflußreiche Gegner. Unklare Erinnerungen aus Haller und den Werken der historischen Rechtsschule lieferten dem jungen Fürsten Ludwig zu Solms-Lich den Stoff zu seinem Büchlein »Deutschland und die Repräsentativverfassungen« (1838), einer Schrift, die in der vornehmen Welt, zumal am Berliner Hofe, lebhafte Bewunderung erregte, von dem alten Hans Gagern aber mit dem treffenden Vorwurfe abgefertigt wurde: »Es kommen uns, vorzüglich aus dem Norden, allerlei sophistische mystische Behauptungen zu, die wie die Nebel von den Sonnenstrahlen des natürlichen Verstandes zerstreut werden.« Deutlich war in den verschwommenen Sätzen nur das eine, daß der fürstliche Verfasser die ganze neue Geschichte des deutschen Südens für eine große Verirrung ansah und ihr die preußischen Provinzialstände als lichtes Gegenbild entgegenhielt. Ebenso unfriedlich gestalteten sich die wirtschaftlichen Zustände. Kaum begann unter dem Schutze des Zollvereins die junge Großindustrie aufzublühen, so zeigte sich auch schon die finstere Schattenseite der neuen Verhältnisse; weithin durch die lange Kette der mitteldeutschen Hungergebirge erklang der Jammerruf der Arbeiter; die grimme Not stimmte die Massen empfänglich für kommunistische Träume.

Eine schwere soziale Erschütterung schien im Anzuge, und sie drohte um so verheerender zu wirken, da auch das kirchliche Leben tief zerklüftet war. Derweil das römische Priestertum seit dem Kölnischen Bischofsstreite seine Macht täglich wachsen sah und der Glaubensernst der wiedererwachten evangelischen Frömmigkeit sich in fruchtbaren Liebeswerken betätigte, verhöhnten die Kritiker der junghegelschen Schule jede Form des Christentums; der Bodensatz der alten Aufklärung wirbelte wieder empor, weite Kreise der Gebildeten vermochten noch gar nicht zu begreifen, daß es mit der Religion wieder Ernst ward. Als ein Zeichen der Zeit erschien am hundersten Gedenktage der Thronbesteigung die Jubelschrift »Friedrich der Große und seine Widersacher« von dem jungen C. F. Köppen, ein geistreiches Buch, das die erhabene Sittlichkeit des schaffenden und wissenden Heros wider die moralischen Splitterrichter siegreich verteidigte, aber auch die katholischen Wölfe im Schafskleide, die protestantischen Schafe im Wolfskleide, die aus allen Pfützen quakenden glaubensseligen Frösche mit ätzendem Hohne überschüttete. Die reiche Gedankenarbeit dreier Generationen, welche die Herrschaft der Ideen Voltaires in Deutschland gebrochen hatte, schien für diese radikale Jugend gar nicht vorhanden zu sein. Und welche Gegensätze endlich in der Literatur. Neben der strengen Forschung der historischen und der Naturwissenschaft trieb eine freche und flache Tagesschriftstellerei ihr Wesen, durch und durch tendenziös, in Vers und Prosa alle überlieferte Ordnung verspottend, immer nur auf den flüchtigen Erfolg des Augenblicks bedacht.

Deutschland war in einem Zustande bedenklicher Gärung, und einer der wenigen Franzosen, welche den Schicksalen des Nachbarlandes mit Verständnis folgten, Saint-René-Taillandier, meinte besorgt: solche Anarchie der Geister erinnere an die Zustande Frankreichs vor der Revolution. Aber in den deutschen wirren offenbarte sich nicht, wie einst in Frankreich, die Fäulnis einer sittlich zersetzten Gesellschaft, sondern der unklare Jünglingsmut eines edlen aufstrebenden Volkes, das seine Kraft zu fühlen begann, wie leicht eine große Idee alle diese hadernden Köpfe unter einen Hut zwingen, alle diese durcheinander flutenden Gedanken, von denen keiner die Nation ganz beherrschte, völlig überschatten konnte, das lehrte jener wunderbare Einmut kriegerischer Begeisterung, der die Deutschen ergriff, als sie ihre Westmark gefährdet sahen, wenn der Nachfolger Friedrich Wilhelms III. durch freien königlichen Entschluß, wie bisher noch alle die großen Wendungen unserer Geschichte sich entschieden hatten, durch eine rechtzeitige weise Gärung seine heimischen Verfassungshändel schlichtete, wenn er also zugleich das Ansehen seiner Krone stärkte und die Kluft überbrückte, welche sein Preußen von den kleinen deutschen Staaten abschied, wenn er das edle Vermächtnis der Befreiungskriege, das erstarkte religiöse Leben treu behütete, ohne die freie Forschung von sich zu stoßen, dann durfte er wagen, die friderizianischen Gedanken in einem großen und freien Sinne wieder aufzunehmen, das Werk des Zollvereins zu vollenden und mit dem Degen in der Hand für den Staat, der das Arbeitsleben der Nation bereits beherrschte, auch die Teilung der deutschen Politik zu fordern. –

Zelten hat sich so fühlbar die alte Wahrheit bestätigt, daß Männer den Lauf der Zeiten beherrschen. Friedrich Wilhelm IV. blieb acht Jahre hindurch der Mann des Schicksals für Deutschland; die Kräfte, die er weckte, und weit mehr noch die Gegenkräfte, die er wider sich aufrieb, trieben unser Volk der Revolution entgegen. Aber selten auch ward so anschaulich, daß die Zeit sich ihre Männer bildet. Der rätselhafte Charakter des neuen Königs war selbst nur eine letzte feine Blüte der langen, kaum erst überwundenen Epoche ästhetischer Überschwenglichkeit; erst den tatkräftigeren Söhnen eines andern abgehärteten Geschlechts, das die Greuel der Revolution durch die Gassen hatte rasen sehen, sollte gelingen, was diesen weichen Händen mißraten mußte. Eine so eigenartige Ansicht von der Vollgewalt des Königtums, wie dieser Fürst sie in begeistertem Herzen hegte, hatte mit der »frivolen Selbstvergötterung der Bourbonen, mit der gedankenlosen Ruheseligkeit der Wiener Hofburg gar nichts, mit der pfäffischen Königskunst der Stuarts auch nur wenig gemein; sie konnte, gleich dem künstlerischen Absolutismus König Ludwigs von Bayern, nur auf deutschem Boden erwachsen, nur auf dem Boden jener romantischen Weltanschauung, welche in der schrankenlosen Entfaltung aller Gaben, in der Selbstgewißheit und dem Selbstgenusse des stolzen Ichs ihr Ideal fand. In der gedrückten und beengten Zeit rief jedermann nach Freiheit, niemand lauter als der neue König. Aber vor allen wollte er selber frei sein, um auf den Höhen des Lebens sich auszuleben, die Fülle seiner königlichen Weisheit und Gestaltungskraft zu betätigen. Er glaubte an eine geheimnisvolle Erleuchtung, die den Königen vor allein andern Sterblichen durch Gottes Gnade beschieden sei,– er hegte ein warmes Zutrauen zu den Menschen und meinte die Zeit zu verstehen, weil er allem Schönen und Großen, was sie bot, mit feinsinniger Empfänglichkeit gefolgt war. Darum dachte er kraft seiner königlichen Vollgewalt seinem geliebten Volke mehr wahre Freiheit zu schenken, als jemals eine geschriebene Verfassung gewähren könne.

Friedrich Wilhelm hatte das fünfundvierzigste Lebensjahr fast erreicht, und seine gedunsene Gestalt mit den geistreichen, aber schlaffen, bartlosen Gesichtszügen erschien trotz der jugendlich unruhigen Bewegungen schon etwas gealtert, wieviel hatte er auch schon erlebt in diesen langen Jahren des Wartens, welche Huldigungen waren ihm zuteil geworden von jenen fernen Tagen an, da die alte Albertina den dreizehnjährigen Knaben zu ihrem Rektor erwählte, und am letzten Geburtstage seiner Mutter »des Vaterlandes blühende Hoffnung« durch eine Denkmünze geehrt wurde, bis herab zu den späteren Zeiten, da Goethe weissagte, dies große Talent müsse neue Talente wecken, und jedermann die Geisteshoheit des Kronprinzen bewunderte. Seit langem schon führte er den Vorsitz im Staatsrate wie im Ministerium, und glaubte daher, das gesamte Getriebe des Staates zu übersehen. Sein Vater sorgte jedoch mit seinem schlichten Menschenverstande dafür, daß diese einem Thronfolger wenig angemessene glänzende Stellung nicht zu einer Mitregentschaft entartete. Der alte König war in seinem Hause weit mehr der Herr als im Staate; seine Kinder blickten zu ihm alle empor mit jener scheuen Ehrfurcht, welche ernste, wortkarge Väter selbst begabteren Söhnen einzuflößen wissen. Der politische Einfluß des Kronprinzen reichte nicht sehr weit. Einzelnen Personen, zumal rechtgläubigen Geistlichen, konnte er wohl durch seine Fürsprache vorwärts helfen; auch die wenig erheblichen Verhandlungen mit den Provinzialständen blieben fast ausschließlich seiner Leitung überlassen. Aber alle entscheidenden Beschlüsse faßte der alte Herr so ganz nach eigenem Ermessen, daß der Thronfolger seine Ohnmacht bald sehr schmerzlich empfand und einen stillen, beständig wachsenden Groll gegen das alte Regiment faßte.

Er haßte nicht nur die bureaukratische Formenstrenge, die er als »Diener-Anmaßung« abzufertigen liebte, ohne ihre großen Vorzüge zu würdigen; er verabscheute noch mehr den ganzen Geist dieser Regierung, der ihm von der Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts nur wenig abzuweichen schien, wenn er als Kronprinz in Charlottenhof dicht unter dem Hügel von Sanssouci weilte, in der rosenumrankten Villa, die ihm der Vater geschenkt und Schinkel mit italienischer Anmut ausgeschmückt hatte, dann verglichen die Gäste zuweilen in erregten Gesprächen Vergangenheit und Zukunft. Das aufstrebende junge Geschlecht meinte der alten Zeit durch den Schwung, die Gläubigkeit, die Gemütstiefe, die Ironie der Romantik weit überlegen zu sein. Friedrich Wilhelms Herzensfreund, Prinz Johann von Sachsen, besang in feierlichen Trochäen die kalte Marmor-Pracht der Königssäle da droben:

Ist es nicht, als ob er hier noch tönte,
Jenes beißenden Jahrhunderts Witz? –

und schilderte dann in hüpfenden Daktylen das Gartenhaus drunten mit seiner jugendlichen Fröhlichkeit:

Hier fühlt man schlagen, was ewig dort fehlet,
Neben dem Geist ein erwärmendes Herz.

Bald nach seiner Thronbesteigung schlug der neue König selbst in dem Schlosse des Großen Friedrich sein Hoflager auf, was keiner seiner beiden Vorgänger gewagt hatte. Die unausbleiblichen erdrückenden Vergleichungen erschreckten ihn nicht, denn er hoffte, daß jetzt zum zweiten Male von diesem »historischen Hügel« herab ein neuer Geist sich über das Land ergießen würde, ein anderer freilich als der friderizianische, der Geist des christlichen Staates. In ernster Arbeit und schweren Seelenkämpfen hatte er die rationalistischen Lehren seiner Jugenderzieher längst überwunden und den Glauben als die höchste Potenz der Vernunft begriffen. Unauslöschlich stand in seinem Herzen der Spruch des heiligen Augustin: Das unwandelbare Licht Gottes war über mir, weil es mir das Dasein gegeben, und ich war unter ihm, weil es mich erschaffen hat. Daraus ergab sich ihm »der unaussprechliche Unterschied des Schöpfers und Geschöpfes, daher auch der Wahnsinn, die Gottheit aus dem eigenen Wesen, als einem Analogon der Gottheit!!! zu konstruieren.« Nichts war ihm darum hassenswürdiger als »die Drachensaat des Hegelschen Pantheismus«; tiefsinniger als Hegel erkannte er, daß jedes Zeitalter nicht bloß als eine Entwicklungsstufe für die Zukunft etwas bedeutet, sondern seinen selbständigen Wert, seine eigene Beziehung zu Gott hat. Die neue Zeit aber, die jetzt heraufgraute, sollte mit der Erbschaft der alten Aufklärung gründlich aufräumen, die Revolution durch die Freiheit, die fleischliche Freiheit durch die christliche, den mechanischen durch den christlichen Staat überwinden.

Eine Welt herrlicher Pläne hatte er sich mit künstlerischer Phantasie schon ausgesonnen, und nun, da er der Herr war, drängte ihn sein liebevolles Gemüt, das überall augenblicklich Freude bereiten, überall glückliche Gesichter um sich sehen wollte, sie alle zu verwirklichen. Er dachte die provinzialständische Verfassung durch die Einberufung eines ständisch gegliederten Reichstags zu vollenden, nimmermehr durch eine papierene Konstitution; denn obwohl er allen politischen Theorien seine Verachtung auszusprechen liebte, so war er doch selbst ganz durchdrungen von einer unwandelbaren politischen Doktrin. Jener künstliche Gegensatz des revolutionären Repräsentativsystems und des legitimen Ständewesens, welchen Gentz einst in der Karlsbader Denkschrift vom Jahre 1819 geschildert hatte, erschien ihm als eine unumstößliche Wahrheit; wie die alte Naturrechtslehre an ein abstraktes, über allen positiven Gesetzen erhabenes Vernunftrecht glaubte, so er an ein historisches Recht der Stände, das ohne Zutun der Staatsgewalt entstanden, auch von ihr nur anerkannt, nicht aufgehoben werden könne. Die Wahrheit, daß der rechtsbildende Gemeingeist der modernen Völker sich am stärksten in ihren Staatsgesetzen betätigt, verachtete er als eine Verirrung der hegelianischen Staatsvergötterer; von dieser »Staatsallmacht« sollte seine christliche Monarchie sich allezeit fernhalten. Hallers Staatslehre feierte jetzt, da ihr Urheber schon das siebzigste Jahr überschritten hatte, ihren höchsten Triumph, nur daß diese derbprosaische Machttheorie sich in der Seele Friedrich Wilhelms zu einem reichgeschmückten künstlerischen Bilde ausgestaltete: Die Idee der Staatseinheit galt ihm gar nichts, genug, wenn alle Stände und alle Landschaften seines weiten Reichs sich frei und farbenprächtig in ihrer historischen Eigenart entfalteten, auch die Wenden, auch die Litauer, die Kassuben, die Masuren sich ungestört ihrer volkstümlichen Sprache und Sitte erfreuten.

Alle Härten des alten Systems dachte er zu mildern; also Verzeihung für die Demagogen, auch für die Polen, die er als widerrechtlich Unterdrückte bemitleidete; Freiheit für die Presse, und vornehmlich für die Kirche. Den Groll der Katholiken über den Kölnischen Bischofsstreit hoffte er durch hochherzige Zugeständnisse zu versöhnen. Die evangelische Landeskirche aber und die oberstbischöfliche Gewalt des Königtums betrachtete er kaum als zu Recht bestehend: wenn der Protestantismus nur erst alle ungläubigen Elemente ausgestoßen hätte, dann sollten sich die Gemeinden der Gläubigen aus eigener Kraft, ungestört von der Staatsgewalt, ihre Kirche neu erbauen, und also die unsichtbare Kirche sichtbar werden. Auch die knappe Sparsamkeit des alten Regiments betrachtete er längst mit Unwillen: Um eine prächtige, geschmackvolle, des hohenzollernschen Namens würdige Hofhaltung hoffte er alles zu versammeln, was Deutschlands Kunst und Wissenschaft an großen Namen besaß. Schon als Kronprinz hatte er den Ausbau der Marienburg und des Kölner Domes gefördert, zu Castel auf der Felsplatte hoch über der Saar die Gruftkirche seiner lützelburgischen Ahnen, auf Stolzenfels das Rheinschloß der trierischen Kurfürsten stattlich hergestellt, auf Stahleck die Pfalzgrafenburg der Altvordern seiner Gemahlin wieder zugänglich gemacht; jetzt sollten überall die halbzertrümmerten Bauten der deutschen Vorfahren prächtig auferstehen und zugleich den schöpferischen Talenten des jungen Künstlergeschlechts eine Fülle neuer Aufgaben gestellt werden. Jeder frischen Kraft des vaterländischen Lebens wollte der christliche Monarch sorgsam gerecht werden: Dem Handel, dem Gewerbfleiß, dem Verkehre und nicht zuletzt den arbeitenden Massen, deren wachsende Macht er schon als Kronprinz, früher als die meisten Zeitgenossen, scharfsichtig würdigte.

Von der überlieferten auswärtigen Politik war er nicht gemeint, sich gänzlich loszusagen; er betrachtete den Bund der Ostmächte als den Schutzwall wider die Revolution, seine alte Verehrung für Metternichs Weisheit hatte sich mit den Jahren nur gesteigert, und gegen den russischen Schwager zeigte er sich schwächer als sein Vorgänger. Der alte Herr hatte »den lieben Niks« wie einen Sohn geliebt, aber ihn in seiner stillen Weise immer in Schranken gehalten. Dem neuen Könige war die Härte des Zaren tief zuwider, und vor Vertrauten äußerte er sich oft sehr bitter über »seine Autokratische Majestät«, doch er empfand vor ihm jene geheime Furcht, welche der überlegene Wille dem überlegenen Geiste aufzwingt. Dabei fühlte er doch sehr lebhaft, daß seine innere Politik weder mit dem gemütlichen Seelenschlafe des alten Österreichs, noch mit der knechtischen Stille des Zarenreichs irgend etwas gemein haben durfte, und ersehnte die Zeit, da England wieder in den alten Vierbund eintreten, Preußen aber, gestärkt durch ein engeres Bündnis der beiden protestantischen Großmächte, etwas freiere Hand in Europa erhalten würde. Diesem stammverwandten Inselvolke widmete er seit einigen Jahren eine feurige, durch Bunsens enthusiastische Briefe beständig geschürte Bewunderung. Mit Freuden nahm er wahr, wie die Anglomanie seit dem Ende der dreißiger Jahre überall in Mitteleuropa, bis nach Ungarn hinein, unter dem Adel überhandnahm, Trachten und Sitten der englischen Sportsmen von der vornehmen Welt eifrig nachgeahmt wurden. Er sah in der britischen Verfassung das Musterbild jener organischen Entwicklung, die er, in andern Formen freilich, für seinen eigenen Staat erhoffte, und teilte die unter dem liberalen Adel wie im Bürgertum weitverbreitete Meinung, daß England unser natürlicher Bundesgenosse sei. Immerhin hatte er schon mehr politische Erfahrung gesammelt als die freiwilligen Staatsmänner des Liberalismus, und erkannte wohl, daß die Verbindungen der Staaten nicht allein durch ihre innere Verwandtschaft bestimmt werden; nur wenn der alte Ostbund unerschütterlich fortbestehe, hielt er das engere Bündnis der zwei protestantischen Mächte für möglich.

Noch lebhafter beschäftigte ihn Preußens deutsche Politik. Er rechnete nicht auf ein langes Leben und sagte bald nach seiner Thronbesteigung: Ob diese kurze Regierung ruhmreich werde, das wisse er nicht, aber einen deutschen Charakter solle sie tragen. Da er »die Vorurteile« des friderizianischen Zeitalters verachtete und dem alten Kaiserhause neidlos den Vortritt überließ, so hielt er den Deutschen Bund mitsamt der friedlichen Zweiherrschaft für eine höchst segensreiche Einrichtung, und sein Ehrgeiz ging nur dahin, daß Preußen diese trefflichen Institutionen beleben, dem Bunde die wirksame Leitung des Heerwesens, der Verkehrs-Verhältnisse, der Handelspolitik verschaffen müsse, wie die erweiterte Bundesgewalt sich mit dem Zollvereine vertragen sollte, der doch ohne und gegen den Bund entstanden war – solche Fragen legte er sich kaum vor; denn sein preußisches Staatsgefühl blieb allezeit schwächer als die unbestimmte Begeisterung für Deutschlands Einigkeit, und der Gedanke, im Kampfe mit Österreich die Führung der Nation für Preußen zu fordern, lag gänzlich außerhalb seines Gesichtskreises. Unter allen hohenzollerschen Königen war er der friedfertigste, friedfertiger noch als sein Vater und darum auch der einzige, der nie einen ernsten Krieg geführt hat. Auf eines seiner Museen ließ er den alten Cäsarenspruch setzen: Melius bene imperare quam imperia ampliare – ein Wort, das dem Beherrscher eines Weltreiches wohl anstand, doch wahrlich nicht dem Könige eines jungen, unfertigen Staates mit lächerlichen Grenzen. Er war kein Mann des Degens; nur ungern bestieg der Kurzsichtige ein Roß, und wenngleich er bei den Manövern die Offiziere oft durch seine scharfsinnigen kritischen Bemerkungen überraschte, so fühlten sie doch alle, daß er diese kriegerischen Pflichten nur aus Gewissenhaftigkeit, ohne Freude erfüllte. Sein Herz hing an dem Glücke des Friedens. Alle die friedlichen Segnungen aber, welche sein Volk unter der christlichständischen Monarchie zu erwarten hatte, sollten allein ausgehen von der Weisheit der Krone,– denn wie ein Patriarch des Alten Testaments verstand er seine Würde, recht eigentlich als eine väterliche von Gott selbst zur Erziehung der Völker eingesetzte Gewalt erschien ihm das Königtum. Auf die Person des Monarchen bezog er alles, was im Staate geschah. Der höchste Zweck der freien Presse war ihm »das Aufdecken von Mißbräuchen und Unbilden, von denen ich auf keinem andern Wege unterrichtet werden dürfte«; und wenn er seinen Untertanen zürnte, dann sagte er drohend: »Ungezogene Kinder zur rechten Zeit die Rute fühlen zu lassen, ist schon durch Salomon und Sirach empfohlen.«

Wenn sich nur unter allen diesen vielverheißendenPlänen des Thronfolgers ein einziger völlig ausgereifter, staatsmännisch durchdachter Entwurf befunden hätte! Indes jene leidenschaftliche Lust am Erfolge, selbst am verkümmerten Erfolge, welche den Mann der Tat bezeichnet, war ihm völlig fremd. Er liebte an der Fülle seiner Gedanken wie an einem künstlerischen Spiele sich zu werden, und in den langen Jahren des Harrens verlernte er fast zu fragen, wie alle diese Herrlichkeit ins Leben treten solle. Sogar den Plan der Befreiung der evangelischen Kirche, der ihm unter allen das Herz am stärksten bewegte, dachte er nur sieben Jahre lang mit ganzem Ernst zu fördern; zeige sich dann der Widerstand unüberwindlich, so wollte er das Buch zuschlagen. So sprach nicht ein geborener Herrscher, sondern ein phantasiereicher Kopf, der sich den Eindrücken des Lebens mehr hingab, als sie selbst bestimmte, eine weiche Natur, die im Vertrauen auf Gott und die Menschen allezeit hoffte, die Dinge würden nach ihren Wünschen gehen und dann das Mißlingen nicht der eigenen Schwäche, sondern dem unerforschlichen Ratschlüsse der Vorsehung zuschrieb. Auf seinem Schreibtisch in Sanssouci standen nebeneinander die Statuetten der Venus von Melos, des frommen Gellert, des Zaren Nikolaus, beredte Zeugen einer wunderbaren Empfänglichkeit, die in Kunst und Wissenschaft, in Staat und Kirche alles Bedeutende zu verstehen suchte, ohne irgendwo ganz heimisch zu werden.

Im Gespräche mit den Helden des deutschen Geistes zeigte er eine so blendende Überlegenheit, daß Leopold Kante staunend sagte: Er ist unser aller Meister. Und doch war er kein Meister, sondern nur der größte aller jener geistreichen Dilettanten, an denen die vielgestaltige moderne Kultur so reich ist. Auf keinem der unzähligen Gebiete des geistigen Lebens, die sein ruheloser Geist zu umfassen strebte, zeigte er sich wahrhaft mächtig, wahrhaft schöpferisch, am wenigsten in seinem politischen Berufe. In späteren Jahren wetterte einmal ein klagender Bauer, der von dem Monarchen an den Staat gewiesen wurde, über diesen »Racker von Staat«, und der König pflegte dies geflügelte Wort halb im Scherz zu wiederholen. In seinem Munde war es leider mehr als ein Scherzwort; die unerbittliche Regelmäßigkeit der Staatsgeschäfte widerte ihn ebenso tief an wie die Härte der politischen Machtkämpfe, obgleich er die Arbeiten seines königlichen Amts mit gewissenhaftem Fleiße, bis in die tiefe Nacht hinein besorgte. Immer atmete er auf, sobald er sich aus dieser Welt der Nüchternheit in sein eigenes reiches Ich zurückziehen konnte, und nie war er glücklicher, als wenn er, berauschend und berauscht, die Flut seiner Gedanken und Gefühle in begeisterter Rede ausströmen ließ. »Es ließ mir keine Ruh', ich mußte reden«, so sagte er dann, durchaus ehrlich, zu seinen Freunden. Nur die ihn nicht kannten, beschuldigten ihn einer schauspielernder Berechnung, welche seinem Charakter fernlag. Sein volles Herz auszuschütten, an der Pracht hoher Bilder, an dem Wohllaut der heißgeliebten, mit Meisterhand gepflegten Muttersprache sich zu erfreuen, war ihm Bedürfnis. Die Wirkung dieser gesprochenen Selbstbekenntnisse stellte er dem barmherzigen Himmel anheim, ganz anders als sein Ahnherr Friedlich, der, auch ein geborener Redner, immer zum Zwecke sprach, jeden Satz auf den Willen der Hörer berechnend, und nie vergaß, daß Königsworte, nur wenn sie Taten sind, in der Nachwelt fortleben. Jenen unbewußten Schauspielerkünsten freilich, welche jedem begabten Redner naheliegen, unterlag er oftmals; wenn er an froher Tafelrunde in allen Augen den Abglanz seiner eigenen siegreichen Persönlichkeit widerstrahlen sah, dann sagte er oft mehr, als in seinem Willen lag.

Und seltsam, während sonst Naturen von so vielseitiger Empfänglichkeit sich andern anzuschmiegen pflegen, stand Friedrich Wilhelm ganz auf eigenen Füßen. Hier lag das Rätsel dieses seltsamen Charakters, hier der Grund, warum er selbst von großen Köpfen so oft überschätzt wurde. In sorgloser Heiterkeit, ganz unantunlich, wie die Holländer sagen, schritt er durch das Leben; kraft der Weihe seines königlichen Amtes, kraft seiner persönlichen Begabung glaubte er alle Welt weit zu übersehen, und es gefiel ihm zuweilen, seine Absichten in ein ahnungsvolles Dunkel zu hüllen, durch halbe, unklare Worte die kleinen Sterblichen in Verwirrung zu setzen. Ohne durchgreifende Willenskraft, ohne praktischen Verstand, blieb er doch ein Selbstherrscher im vollen Sinne. Niemand beherrschte ihn; aller Glanz und alle Schmach seiner Regierung fiel auf ihn selbst allein zurück. Auf den Widerspruch seiner Räte ließ er wohl einen Lieblingsplan plötzlich fallen, und dann schien es eine Weile, als ob die Gedanken in diesem unruhigen Kopfe wechselten wie die Bilder im Wandelglase – bis sich endlich mit einem Male zeigte, daß der König an seinem ursprünglichen Plane mit einer seltsamen stillen Zähigkeit festgehalten hatte und, trotz allem was dazwischen lag, zu ihm zurückkehrte. Er gab nichts auf und setzte wenig durch. Neigungen des Gemüts und fertige Doktrinen bestimmten seine Entschlüsse; Gründe der politischen Zweckmäßigkeit konnten dawider nicht aufkommen.

Und diese Unabhängigkeit von fremdem Urteile war ein Glück für den Monarchen; denn aller Menschenkenntnis bar zeigte er eine höchst unglückliche Hand in der Wahl seiner Ratgeber, eine wunderliche Neigung, bedeutende Männer an die falsche Stelle zu setzen oder sie durch unmögliche Zumutungen rasch zu vernutzen, so daß, außer den beiden persönlichen Vertrauten, Chile und Stolberg, nur ein einziger seiner Minister, Eichhorn, die acht Jahre bis zur Märzrevolution ganz bei ihm ausgehalten hat. In allem abweichend von der unzugänglichen Schüchternheit des Vaters, liebte er jedermanns Meinung zu befragen; in der Unterhaltung hörte er freimütigen Widerspruch gern, ja, er schien ihn durch kecke Behauptungen fast herauszufordern. Den Freunden beteuerte er seine Zuneigung mit einer Überschwenglichkeit, die ihn oft in den Verdacht der Falschheit brachte, obwohl sie stets der unwillkürliche Ausdruck seiner Stimmung war. Feinsinnig erriet er alle Wünsche seiner Getreuen und erfüllte sie mit königlicher Freigebigkeit, zart und rücksichtsvoll schonte er ihre menschlichen Schwächen. Wenn er gewinnen wollte, dann entfaltete er eine bezaubernde Liebenswürdigkeit und verschmähte selbst die kleinen weiblichen Künste des Schmollens nicht. Gleichwohl fühlte er sich durch seine königliche Würde so hoch erhoben, daß ihm die Personen im Grunde wenig galten. Mit erstaunlicher Kälte konnte er sich von altbewährten Vertrauten trennen, wenn sie ihre abweichende Meinung öffentlich kundgaben und ihm seine Zirkel störten. In jedem erklärten politischen Gegner sah er einen persönlichen Feind, und nach der Weise aller Gemütsmenschen behandelte er dann die entfremdeten Freunde ebenso hart und ungerecht wie vordem zärtlich und liebevoll, obgleich er es oft als seinen heißesten Herzenswunsch aussprach, gegen jedermann streng gerecht zu sein.

Nicht bloß seine äußere Erscheinung, auch sein edel, aber unglücklich angelegter Geist gemahnte an das Dichterbild des Hamlet, wie reich war er an schönen, hohen Gedanken, und doch so unsicher in seinen Entschlüssen, daß seine Minister beim Schlusse einer Sitzung nie erraten konnten, ob er noch dieselbe Meinung hegen würde wie am Anfang. Seine Frömmigkeit kam aus den Tiefen eines gottbegeisterten Herzens, seine milde Hand schwelgte in den Werken einer jeden Schein verschmähenden christlichen Barmherzigkeit; und dieser Gütige konnte, wenn der Jähzorn ihn übermannte, sich bis zur Grausamkeit verfolgungssüchtig zeigen. Selber sittenstreng urteilte er hart, fast prüde über lockeren Lebenswandel; das schloß nicht aus, daß er an saftigen Eulenspiegeleien und Berliner Straßenwitzen seine Freude fand. Wie groß war sein Wissen und sein Wissensdrang; aber die reinste Blüte aller Bildung, die Einfachheit des Fühlens und Denkens blieb ihm unverständlich und unerreichbar, – überall suchte er das Absonderliche, weitab von der Heerstraße; immer mußte er witzig und geistreich sein, selbst wenn er durch einen paradoxen Einfall den Erfolg eines politischen Geschäfts gefährdete. Die männliche Kraft des Leibes und der Seele, welche allein so viele widersprechende Gaben im Einklang halten konnte, war ihm versagt, und zuweilen ließen sich schon die Spuren einer schlechthin krankhaften Anlage erkennen.

Der alte König hatte immer, oft allzu ängstlich, die Gegensätze zu beschwichtigen versucht, immer gehandelt nach dem alten Grundsatze, daß die erste Pflicht jeder Regierung gebietet, bestimmte politische Überlieferungen festzuhalten; zuletzt, in den Tagen seines erstarrenden Alters, war es dahin gekommen, daß Minister Alvensleben beruhigt sagte: Wir kennen die Meinungen des Monarchen ganz genau und können unsere Berichte stets also abfassen, daß wir der Genehmigung sicher sind. Wie anders der neue Herrscher. Er beabsichtigte ebenfalls, die Traditionen seiner alten Monarchie in Ehren zu halten; doch durch seine vielverheißenden Reden, durch die Fülle seiner Pläne, durch sein unstet abspringendes Wesen, durch das beständige Aussprechen persönlicher Gefühle wirkte er überall so aufregend und aufreizend, daß bald ein Sturm der Leidenschaften sein ruhiges Land durchtobte und er selbst dem Schicksal des Zauberlehrlings verfiel. Die Schwäche jeder neuen Regierung, die Unberechenbarkeit aller Verhältnisse, währte unter dem vierten Friedrich Wilhelm nahezu acht Jahre, bis eine furchtbare Niederlage des Königtums die ganze Lage veränderte. Und wenn nur die Zeit und ihr königlicher Erwecker einander irgend verstanden hätten! Er aber hatte sich in einem seltsam verschlungenen Entwicklungsgange so eigentümliche Ideale gebildet, daß er zuweilen in den Worten, niemals in der Sache mit der Durchschnittsmeinung der Zeitgenossen übereinstimmen konnte; er redete eine andere Sprache als sein Volk. Man jauchzte ihm zu, weil er nach dem Wunsche aller Welt dem Zwange, der Stille des alten Systems ein Ende bereitete, und auch durch die Form seiner Reden schien er zu beweisen, daß niemand sich völlig von seiner Zeit lossagen kann? denn ganz wie die Poeten des Jungen Deutschlands, die er so tief verabscheute, liebte er durch das Ungewöhnliche zu blenden und verschmähte, Schlichtes schlicht zu sagen. Doch wenn er von Freiheit sprach, so meinte er sein althistorisches Ständewesen, das nur die Macht des Beamtentums, nimmermehr die monarchische Gewalt beschränken sollte, während seine Zuhörer an das Repräsentativsystem dachten, das man allmählich für die einzige eines gesitteten Volkes würdige Staatsform ansah, wenn er die deutsche Einheit pries, so dachte er an den Deutschen Bund und dessen friedliche Fortbildung, derweil die Gebildeten das ganze Treiben in der Eschenheimer Gasse schon längst als einen gespenstischen Mummenschanz verurteilten. Wenn er von der Selbständigkeit der Kirchen redete, so stimmte ihm jedermann zu, denn wer konnte dem Zauberworte der Freiheit widerstehen? – aber die christliche Gesinnung, die er für die freien Gemeinden der Gläubigen verlangte, war den Wortführern des Zeitgeistes völlig fremd, und alle die edlen Stiftungen seiner großartigen Wohltätigkeit, die von ihren Pfleglingen noch heute dankbar gesegnet werden, galten der Welt für Frömmelei und Muckerei, wenn er der Kunst und Wissenschaft freie Bahn versprach, so dachte er an die alte Naturphilosophie und die romantische Dichtung, geistige Mächte, welche das selbstgefällige neue Geschlecht längst überwunden zu haben glaubte.

So ward die erste Zeit seiner Regierung eine lange Kette von Mißverständnissen, und an dieser wechselseitigen Verkennung trug der König ebensoviel Schuld wie die unklar gärende Zeitstimmung, die ihn erst für ihren Helden hielt, um ihn dann mit der ganzen Bitterkeit der Enttäuschung zu bekämpfen. Selbst General Gerlach, der getreue Freund und Diener, sagte zuweilen: »Die Wege des Herrn sind wunderbar«, und der nicht minder ergebene Bunsen schrieb neben die Klage des Königs: »Niemand versteht mich, niemand begreift mich« die verzweifelte Randbemerkung: »Wenn man ihn verstände, wie könnte man ihn begreifen!« Friedrich Wilhelm vermochte nicht, wie sein ebenso phantasiereicher bayrischer Schwager, durch despotische Härte und durchtriebene Schlauheit sich aus selbstverschuldeten Verwicklungen herauszufinden; er rieb sich auf in unfruchtbaren Versuchen, bis die Geschichte über ihn hinwegschritt, weder zum herzhaften Genusse, noch zu herzhafter Tat besaß er die Kraft, und obwohl ihn die angeborene muntere Laune nie ganz verließ, so fühlte er sich doch innerlich unbefriedigt. Er erkannte bald mit Schmerz, daß ihm nichts gelinge, und die aufgeregte Zeit war nicht in der Stimmung, diesem stillen Leiden eines hochbegabten Geistes menschliche Teilnahme zu zollen. Der von dem Berufe der Könige von Gottes Gnaden so überschwenglich hoch dachte, mußte noch erleben, daß sein Regiment den Glauben an das Königtum in einem altmonarchischen Volke tief, zum Glück nicht für immer, erschütterte. Es war, als wollte die Vorsehung diesem überbildeten und den Wert der Bildung maßlos überschätzenden Geschlechte an einem tragischen Beispiele zeigen, wie wenig in den Machtkämpfen des Staatslebens Geist, Wissen, Edelsinn, Herzensgüte vermögen ohne die schlichte Kraft eines männlichen Willens. In dem großen Zusammenhange der deutschen Geschichte erscheint diese tief unglückliche Regierung doch als eine notwendige, heilsame Schickung; denn unter einem stärkeren Könige wäre der unvermeidliche Übergang der stolzen preußischen Monarchie zur konstitutionellen Staatsform schwerlich ohne furchtbare Kämpfe erfolgt. (3–16.)

Der Königsberger Huldigungslandtag

Am 29. August hielt das Königspaar seinen Einzug in der alten Krönungsstadt. Die Schlächter ritten voran, nach dem Vorrechte, das sie sich, hier, wie in Berlin, vor alters durch rühmliche Kriegstaten erkämpft hatten. Die andern Innungen bildeten Spalier in den reichverzierten, hochgiebligen Gassen, die Schiffe auf dem Pregel prangten im Flaggenschmuck. Der König kam zu Roß neben dem Wagen seiner Gemahlin daher und beantwortete die Anrede des Bürgermeisters mit wohlgewählten herzlichen Worten. Stürmisch, endlos erklangen die Jubelrufe aus den Massen; die Kinder ließen sich nicht halten und drängten sich an den Herrscher heran, der gütig lächelnd die kleinen Krausköpfe streichelte; es schien, als könnte nie mehr ein Mißklang das patriarchalische Verhältnis zwischen Fürst und Volk stören. Die nächsten Tage verbrachte der König bei den Übungen der Truppen, auf Ausflügen in das schöne Samland und bei mannigfachen Festlichkeiten. Mittlerweile versammelten sich am 5. September die preußischen Landstände. Sie waren durch eine Kabinettsorder vom 15. Juli einberufen und beauftragt, vor der Huldigung die beiden Fragen zu beantworten: ob eine Bestätigung ständischer Privilegien zu beantragen und ob eine besondere Vertretung des Herrenstandes bei der Huldigung zu erwählen sei? Die erste dieser Fragen mußte, obwohl sie sich nur an althergebrachte Formeln anschloß, unter den gegenwärtigen Umständen den Eindruck machen, als wollte der König selbst die Stände zu einer Äußerung über die Verfassungsfrage auffordern; Friedrich Wilhelm bemerkte die Gefahr nicht, weil er damals noch beabsichtigte, den Ständen selber die Berufung eines allgemeinen Landtags, nach den Plänen des Vaters, anzukündigen. Inzwischen hatte er seine Absicht geändert, und da er jetzt mit leeren Händen kam, so verschuldete er selbst, was er doch verhindern wollte: daß die Krone von ihrem treuen Volke gedrängt wurde.

Schön eröffnete den Landtag als königlicher Kommissar. Er gedachte zunächst des verstorbenen Königs und der jedem ostpreußischen Herzen teueren Reformperiode, welche »den letzten Rest der Sklaverei« vernichtet habe. In seiner klug berechneten Rede, die er überdies noch durch eine Denkschrift näher begründete, legte er sodann den Ständen die Antwort in den Mund, welche sie auf die Fragen des neuen Herrschers zu geben hätten: er riet ihnen, dem Könige, nach ihrem alten Ehrenrechte, das herkömmliche Huldigungsgeschenk von 100 000 Gulden anzubieten, dagegen auf die Vertretung eines besonderen Herrenstandes zu verzichten, auch auf die Bestätigung ihrer alten, aus der trüben Zeit der Klöster und der Zünfte stammenden Privilegien keinen Wert zu legen. Diese Ratschläge des mächtigen Oberpräsidenten eigneten sich die Landstände fast wörtlich an. Da er durch Brünneck, die Brüder Auerswald und andere Getreue die Versammlung vollkommen beherrschte; so läßt sich mit Sicherheit annehmen, daß er auch an allem, was nun folgte, insgeheim teilnahm; den Schein der amtlichen Zurückhaltung wußte er freilich so vorsichtig zu wahren, daß er nachher jede Mitwirkung in Abrede stellen konnte. Der Kaufmann Heinrich aus Königsberg, ein wohlmeinender, gemäßigt liberaler Mann, der nur dies eine Mal eine Rolle in der Geschichte Preußens spielen und nachher bald wieder vergessen werden sollte, beantragte nunmehr, den König um die Erfüllung der alten Verfassungsversprechen zu bitten. Im Sinne dieses Antrags wurde darauf eine ständische Denkschrift ausgearbeitet. Die Feder führte der ritterschaftliche Abgeordnete Alfred von Auerswald, ein Sohn jenes wackeren alten Oberpräsidenten, der einst, noch vor der befreienden Gesetzgebung des Staates, zuerst die Hörigkeit auf seinen Gütern aufgehoben hatte, wie sein Bruder, der jetzt als Oberbürgermeister der Landeshauptstadt ebenfalls dem Landtage angehörte, war Alfred Auerswald vor Jahren auf dem Schloßhofe der alten Königsberger Ordensburg der tägliche Spielgefährte der königlichen Prinzen gewesen und ihnen seitdem in treuer Freundschaft verbunden geblieben.

In diesen Brüdern Auerswald, in dem zweiten Landtagsmarschall Saucken-Tarputschen, in Brünneck, Bardeleben und der großen Mehrzahl der andern adeligen Landstände Altpreußens offenbarte sich zur allgemeinen Überraschung eine neue politische Kraft, die man seither ganz übersehen hatte, weil sie sich im Stilleben der Provinziallandtage verlor. Die alten Adelsgeschlechter des Südens hatten bisher in ihrer großen Mehrzahl sich entweder dem neuen politischen Leben der Nation grollend ferngehalten oder sich der ultramontanen Partei angeschlossen, weil sie die Gewalttaten der rheinbündischen Tage nicht verschmerzen konnten; und es war nur menschlich, daß der starke Bürgerstolz der Oberdeutschen adelige und reaktionäre Gesinnung fast für gleichbedeutend hielt, hier aber trat ein patriotischer Adel hervor, fest verwachsen mit seinem Staate, königstreu durch und durch, stolz auf die kriegerischen Erinnerungen der schwarzweißen Fahnen des Deutschen Ordens und des Königreichs Preußen, und dabei altväterisch einfach, unabhängig, freimütig bis zur Schroffheit, bei weitem nicht so radikal wie die Kammerredner des Südens, immerhin sehr empfänglich für die liberalen Ideen des Zeitalters. Wer diesen Männern herzhaft in die Augen sah, der mußte erkennen, daß Preußen an gesunden konservativen Kräften genug besaß, um eine notwendige Reform getrost wagen zu können – wenn nur der König selber voranschritt. In den Verhandlungen des Landtags trat die politische Unreife der Zeit oft genug zutage; Heinrich selbst wußte in seinem Antrage zwischen der Assekurationsakte des Großen Kurfürsten und den neuen königlichen Verheißungen, die doch auf einem ganz andern staatsrechtlichen Boden standen, noch nicht scharf zu unterscheiden. Aber keine einzige unehrerbietige Äußerung wurde laut, alle wetteiferten in Beteuerungen unverbrüchlicher Treue, und mitten unter unklaren, leeren Reden fiel doch schon das entscheidende Wort, worauf alles ankam: der preußische Reichstag werde dem Könige das sicherste und vielleicht einzige Mittel darbieten, die durch Raum, Sprache und Sitte vielfach getrennten Stämme seines Volks zu einen.

Nach ernster, gründlicher Beratung genehmigte die Versammlung am 7. September mit 89 gegen 5, durchweg adelige, Stimmen die Denkschrift, welche den König um Aufrechthaltung und Vollendung der von seinem Vater neugegründeten verfassungsmäßigen Vertretung des Landes bat. Der Landtag gab sich der Hoffnung hin, daß Seine Majestät nicht anstehen würde, »das fortdauernde Bestehen der Provinzialstände, und in den wegen des Vaters wandelnd, die verheißene Bildung einer Versammlung von Landesrepräsentanten Ihrem getreuen Volke allergnädigst zuzusichern«. Die Stände sagten nichts, was ihnen nicht zustand, sie gaben nur eine ehrerbietige Antwort auf eine königliche Frage, und wenn eine solche öffentliche Mahnung das Ansehen der Krone allerdings leicht gefährden konnte, so trug die Schuld der König selbst, der nicht verstanden hatte, zur rechten Zeit die rechte Entscheidung zu geben. Durch diesen Beschluß ward das Eis gebrochen, der vor siebzehn Jahren notdürftig beschwichtigte preußische Verfassungskampf von neuem entfesselt.

Am Hofe fühlte man dies sogleich. Allgemein war die Entrüstung. Der Prinz von Preußen, der noch ganz in den streng absolutistischen Grundsätzen des Vaters befangen war, richtete, sobald er von dem Vorhaben der Stände erfuhr, noch am 7. September einen scharfen Brief an Schön: »Es ist in meinen Augen die höchste Illoyalität, einem neuen Souverän beim Antritt seiner Regierung Garantien abzufordern; und wenn selbst der selige König 1815 solche in Aussicht stellte, so blieb es seiner Weisheit sowohl als der seiner Nachfolger vorbehalten, die Zeit zu bestimmen, wenn sie in Ausführung kommen sollten. Daß der selige König außerdem seit Einführung der Provinzialstände an jener weiteren Ausdehnung der ständischen Verhältnisse nicht gearbeitet hat, beweist wohl, wie in allem, sein tiefer und richtiger praktischer Blick, der ihn in der Modernität solcher Institutionen ringsum im Auslande nur Nachteil, Unruhe, Unzufriedenheit erblicken ließ... Anklang würde es bei allen finden, die Umsturz des bestehenden wollen, die Selbstsuchtsnährer sind und ihrer Eitelkeit frönen. Bei solchen Menschen populär zu sein, ist nicht meine und nicht der wahren Patrioten Sache.« Schön antwortete beschwichtigend: der Prinz möge der Sache keine Wichtigkeit beilegen, die ständische Denkschrift enthalte nichts Gefährliches, überhaupt könne ein preußischer Landtag nie etwas beschließen, was dem Wohle des Königs zuwider sei. Mittlerweile setzte auch Minister Rochow alle Hebel ein, um den König gegen die Stände einzunehmen.

Als Schön am folgenden Tage im Schlosse erschien, fand er den König sehr aufgebracht und schon halb entschlossen, den Landtag schnöde abzufertigen. Auf das Zureden des alten Freundes beruhigte sich Friedrich Wilhelm allmählich und gestand: er wolle ja dasselbe wie die Stände, aber zur rechten Zeit und nach seinem eigenen freien Ermessen; er deutete auch einiges an von dem Plane eines großen Vereinigten Landtags, der ihn im stillen immer beschäftigte. Im Vorzimmer sagte Schön nachher zu Alexander Humboldt – wer will entscheiden, ob aus kluger Berechnung oder in der Freude der ersten Überraschung?: – »Der König ist noch liberaler als ich.« Diese Äußerung wurde natürlich sofort überall verbreitet, und Schön, der in diesen Tagen mannigfache Beweise königlicher Gnade, den Schwarzen-Adler-Orden und den Titel eines Staatsministers empfing, galt bei allen Ostpreußen schon für den unvermeidlichen Nachfolger des Ministers Rochow. Immerhin bewirkte Schöns Vermittlung, daß der Landtagsabschied vom 9. September eine sehr freundliche Form erhielt. Der König sagte darin: sein Vater habe, bewogen durch die in andern Ländern wahrgenommenen Ergebnisse, sein königliches Wort in reifliche Erwägung gezogen und demgemäß beschlossen, »von den herrschenden Begriffen sogenannter allgemeiner Volksvertretungen sich fernhaltend«, sein Wort einzulösen durch die Einführung der provinzial- und kreisständischen Verfassung. »Dieses edle Werk treu zu pflegen und einer immer ersprießlicheren Entwicklung entgegenzuführen«, sei dem neuen Herrscher »eine der wichtigsten und teuersten Pflichten des königlichen Berufes«.

Die Bitte des Landtags war also abgeschlagen, der König stellte nicht einmal für die Zukunft irgend etwas Bestimmtes in Aussicht, da es ihm gegen die Ehre ging, sich von vorwitzigen Untertanen treiben zu lassen. Darum fühlte sich auch Zar Nikolaus sichtlich erleichtert; er dankte seinem Schwager, weil die dornige Verfassungsfrage jetzt »ein für allemal« abgetan sei. Die Abweisung erfolgte jedoch in so gnädigem Tone, und Schön wußte seinen Landsleuten von den freisinnigen Absichten des Monarchen so viel Herrliches zu erzählen, daß die Stände in der Tat glaubten, der Landtagsabschied enthalte, weil er doch von der Entwicklung des Bestehenden spreche, mindestens eine halbe Gewährung. Sie begrüßten die Verlesung des Aktenstückes mit freudigen Hochrufen. So ward der Grund gelegt für ein verhängnisvolles wechselseitiges Mißverständnis. Wer hätte auch jetzt, da der Jubel des beginnenden Huldigungsfestes alles übertäubte, noch die Stimmung gefunden zu ruhigem Nachdenken? Ohnehin konnte sich der Landtag keineswegs auf eine feste durchgebildete Volksüberzeugung stützen. Da Parteien noch nicht bestanden, so mochten sich manche der Landstände bei dem Beschlüsse wenig gedacht haben, nur die Führer der Mehrheit waren sich ihres Zweckes bewußt. Aber auch die fünf Stimmen der Minderheit des Landtags besaßen in der Provinz einen starken Anhang. Siebenundzwanzig der zur Huldigung einberufenen adeligen Grundbesitzer traten noch am 8. September, geführt von dem Grafen Dohna-Schlobitten, zusammen, um gegen die Denkschrift des Landtags Verwahrung einzulegen: sie seien, so versicherten sie dem Könige, mit den bestehenden Provinzialständen vollauf zufrieden und wünschten keine Neuerung. Im Volke fragte noch niemand nach diesen politischen Grundsätzen, alles dachte nur an den königlichen Gast und wie man ihn verherrlichen sollte. Am Abend des 9. September gab die Provinz dem Monarchen ein prachtvolles Fest; in lebenden Bildern traten die großen Gestalten der reichen Landesgeschichte auf; Männer aller Stände und aller Richtungen wirkten einträchtig zusammen; der liberale Theolog Cäsar von Lengerke hatte die begleitenden Verse gedichtet, die der junge Jurist Eduard Simson mit klangvoller Stimme vortrug. Am folgenden Tage versammelten sich die Deputierten der Provinzen Preußen und Posen zur Huldigung; mehr denn zwanzigtausend Menschen standen in dem weiten Hofe und an den Fenstern des Schlosses zusammengedrängt, der königliche Thron prangte auf einem Altane, von dem eine mächtige Freitreppe in den Hof hinabführte. Der Kanzler und der Landtagsmarschall des Königreichs Preußen hielten ihre Ansprachen in der herkömmlichen Weise; nur der Posener Landtagsmarschall Graf Poninski versagte sich's nicht, sehr deutlich zu erinnern an »die erhabenen, väterlichen Worte des großen Königs«, der seinen polnischen Untertanen verheißen habe, ihnen Volkstümlichkeit und Sprache zu wahren. Als darauf die Eidesformel verlesen wurde, klang plötzlich durch die feierliche Stille grell und schneidend, wohl zehnmal wiederholt, der Warnungsruf eines wahnsinnigen Weibes: Schwört nicht, schwört nicht! Der unheimliche Eindruck der Störung ward aber sogleich vergessen, als der König vom Throne aufstand und, die Rechte feierlich erhoben, vor allem Volke gelobte, ein gerechter Richter, ein treuer, sorgfältiger, barmherziger Fürst, ein christlicher König zu sein. Dann pries er in hochbegeisterten Worten dies Preußen, seine Wehrhaftigkeit ohnegleichen und die Einheit von Fürst und Volk: »so wolle Gott unser preußisches Vaterland sich selbst, Deutschland und der Welt erhalten! Mannigfach und doch eines. Wie das edle Erz, das aus vielen Metallen zusammengeschmolzen, nur ein einziges edelstes ist, keinem andern Roste unterworfen als dem verschönernden der Jahrhunderte.« Unbeschreiblich war die Wirkung dieses rhetorischen Meisterwerkes, das wie alle Werke geborener Redner den Hörenden noch viel herrlicher erschien als späterhin den Lesenden; fast niemand fragte nüchtern, ob denn alle diese schwungvollen Beteuerungen, alle diese prächtigen Bilder irgendeinen greifbaren politischen Inhalt hätten. Einer der neuen politischen Lyriker, der Student Rudolf Gottschall, sang:

Das Volk

Steht wie Danae in heißem Wollustsehnen, Glutverlangen,
seiner Worte goldnen Regen in dem Schoße zu empfangen!

Alles schwamm in Freuden, und noch einige Tage hindurch
währte der bacchantische Taumel. (42–47.)


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