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Der welfische Staatsstreich

Trotz der allgemeinen Ermattung und trotz seiner parlamentarischen Niederlagen blieb der Liberalismus im Wachstum. Seine sozialen Ideen verbreiteten sich in der Stille, sie wurden allmählich zu Standesvorurteilen des gebildeten Bürgertums, das sich jetzt, seit zu dem Wissen der neue Wohlstand hinzukam, ganz unbedenklich für den Kern der Nation hielt. Die scheinbare gesellschaftliche Gleichheit der Franzosen und das Gesetzbuch der durchgebildeten Geldwirtschaft, der Code Napoléon, fanden Bewunderung nicht bloß im Südwesten, auch in Thüringen, in Sachsen, in den Städten der alten preußischen Provinzen. In diese demokratisierte, den alten Standesunterschieden entfremdete Gesellschaft schlug nun eine Gewalttat hinein, welche auch die schlummernden politischen Leidenschaften wieder erweckte und von der häßlichen Lüge des deutschen Bundesrechts den letzten Schleier hinwegriß, ein Staatsstreich so frevelhaft, so unentschuldbar, so gemeinverständlich in seiner Roheit, daß der sittliche Ekel fast alle irgend selbständigen Männer zum Widerspruche zwang und den Reihen der liberalen Opposition mit einem Male neue Kräfte zuführte.

Am 20. Juni 1837 starb König Wilhelm IV., und da nach deutschem Rechte der Mannesstamm den Weibern vorging, so zerriß jetzt, zum Segen für beide Teile, das unnatürliche Band, das die kurbraunschweigischen Lande durch vier Menschenalter an Großbritannien gekettet hatte. Für die Briten hatte diese Verbindung längst allen Wert verloren. Die hannoverschen Truppen für englische Zwecke zu verwenden war unter dem Deutschen Bund kaum noch möglich; seit der Entstehung des preußischen Volksheeres bedeutete die kleine Armee ohnehin nicht mehr soviel wie im alten Jahrhundert. Seit der Zollverein gesichert war, konnte auch die handelspolitische Dienstbarkeit Hannovers den Engländern nichts mehr nützen. Einzelne kleine Gewinste vermochte Palmerstons geschickte Hand wohl noch aus dem deutschen Nebenlande herauszuschlagen; mit Hannovers Hilfe hatte er vor kurzem die Bundesexekution in Luxemburg vereitelt. In der Regel empfand er die Doppelstellung der Krone nur als eine Last; wenn der König von Hannover andere Wege ging als der König von England und die Bundespolitik der Hofburg unterstützte, dann mußte die britische Staatskunst vor den Augen der Welt noch treuloser erscheinen als sie wirklich war. Gesättigt von den Erfolgen des Napoleonischen Zeitalters, hatte sich der Ehrgeiz der Nation seit einigen Jahren fast ausschließlich den überseeischen Interessen, dem Oriente und den Kolonien, zugewendet. Die öffentliche Meinung verstand den Grundsatz der Nichteinmischung, der von Palmerston so mannigfach ausgelegt wurde, in buchstäblichem Sinne; sie wollte von den festländischen Wirren wenig hören, sie verlangte, daß England wieder ein Inselreich würde, und schon darum hieß sie die Trennung von Hannover willkommen.

Mit der Thronbesteigung der Königin Viktoria errang die Politik der Reform für lange Zeit einen vollständigen Sieg. Die unerfahrene junge Fürstin sah sich außerstande, die schattenhafte monarchische Gewalt durch die Kraft eines selbständigen Willens neu zu beleben, sie konnte sich nur von dem Strome der vorherrschenden nationalen Gesinnung treiben und tragen lassen. König Wilhelm war den liberalen Ideen halb widerstrebend gefolgt, Viktoria gehörte ihnen schon durch die Geburt an, da ihr väterliches Haus mit den Hochtorys stets in Feindschaft gelebt hatte. Sie überließ sich willig der Führung des Hauptes der Whigpartei, Lord Melbourne, und wurde zugleich von ihrem Oheim, König Leopold, mit politischen Ratschlägen unterstützt. Der kluge Coburger arbeitete bereits seit Jahresfrist an einem neuen Heiratsplane, der seinem Hause die dritte Königskrone einbringen sollte; er dachte seinem Neffen Albert die Stellung des englischen Prinzgemahls, die er einst für sich selber erhofft hatte, zu verschaffen. Um sich auf sein hohes Amt vorzubereiten, mußte der junge Prinz ein Jahr in Brüssel verleben, denn in Berlin, so meinte Stockmar, könne man nichts lernen, Preußens Haltung gegen Deutschland sei »weder politisch noch ehrlich«. Durch die coburgische Verwandtschaft wurde die Königin auch dem Tuilerienhofe nähergeführt; das gelockerte Bündnis der Westmächte schien sich wieder zu befestigen, mit donnernden Hochrufen empfing das Londoner Volk bei der Krönung den französischen Botschafter Marschall Soult, der sich in Spanien so oft mit den Briten gemessen hatte. Die Reformbill hatte den Umbau des alten aristokratischen Staatswesens nicht vollendet, sondern erst begonnen; eine Zeit großer sozialer Neugestaltungen nahte unverkennbar heran. Das ahnte jedermann, als die Königin in den ersten Tagen ihrer Regierung den reichen, menschenfreundlichen Moses Montefiore als Sheriff von London in den Ritterstand erhob – den ersten Juden, dem solche Ehre widerfuhr.

Während also in England unter einem willenlosen Königtum die öffentliche Meinung ihre unbeschränkte Herrschaft antrat, erhoffte das hannoverische Volk von der Gnade des einheimischen Landesherrn ein unbestimmtes Glück. Unablässig arbeiteten die schöpferischen Kräfte der neuen deutschen Geschichte an der Zerstörung der seit zwei Jahrhunderten eingedrungenen Fremdherrschaft, was in Pommern, in Preußen, in Schlesien nur unter schweren Opfern und Kämpfen erreicht war, das gelang in Hannover durch die Gunst des Zufalls, und alsbald zeigte sich, wie wenig die lange Verbindung mit dem Auslande den Kern des niedersächsischen Volkstums verändert hatte. Die starke englische Kolonie in der Stadt Hannover, einige britische Sitten und Familienverbindungen in der vornehmen Gesellschaft, dazu die kriegerischen Erinnerungen der Veteranen und ein hohes Maß von Selbstgenügsamkeit, das war in Wahrheit alles, was von dem ausländischen Wesen noch übrigblieb. Ohne Kummer gaben die Hannoveraner den Namen der deutschen Großbritannier auf, um fortan sich selbst und ihrem endlich sichtbaren Könige zu leben.

Ein Glück nur, daß sie trotz ihrer britischen Neigungen selten englische Zeitungen lasen und von dem schlimmen Rufe ihres neuen Herrschers wenig wußten. Mit der einzigen Ausnahme des Selbstmords hat der Herzog von Cumberland schon jedes erdenkliche Verbrechen begangen – so schrieb um jene Zeit ein radikales englisches Blatt und sprach damit nur in pöbelhaften Formen aus, welchen furchtbaren Haß dieser unbeliebteste aller englischen Prinzen im Verlaufe eines sechsundsechzigiährigen Lebens auf sich geladen hatte. König Ernst August war der begabteste unter den sieben Söhnen Georgs III., aber schlecht erzogen, nicht bloß aller Bildung bar, sondern ein abgesagter Feind der Wissenschaft, die er »dem Federvieh der Tintenkleckser« überließ; nur wer wohl geboren, wohl gekleidet und mäßig gelehrt war, galt ihm, wie einst den Römern, für einen anständigen Mann. Auf der Göttinger Hochschule hatte er nicht einmal die deutsche Sprache gelernt, um so gründlicher die Reitkunst. Als er dann in den niederländischen Feldzügen ein hannöversches Dragonerregiment befehligte, zeigte er sich sehr tapfer, aber auch so roh und grausam, daß Scharnhorst seinen Abscheu kaum bezwingen konnte. Wiederholt verbot er seinen Reitern, ihm die verfluchten französischen Republikaner gefangen einzubringen; alles wollte er niedersäbeln, in einem wilden Handgemenge verlor er selbst ein Auge. An den Napoleonischen Kriegen beteiligte er sich nicht, nur in den Tagen der Schlacht von Kulm erschien er für kurze Zeit im Hauptquartier der Verbündeten. Trotz dieser geringen Kriegserfahrung betrieb er das Soldatenhandwerk mit leidenschaftlichem Eifer, und unbeschreiblich war seine Freude, als König Friedrich Wilhelm ihn zum Chef der Roten-Zieten-Husaren ernannte. Neben dem steifen Dünkel des englischen Lords behielt er doch immer etwas von der naturwüchsigen Frische des deutschen Reiteroffiziers.

Im Oberhause ward er rasch ein gefürchteter Führer der Hochtorys; bald drohend und lärmend, bald schlau belügend, bald leise hetzend wußte er seine Leute bei der Stange zu halten. Nur die hartreaktionären Grundsätze Lord Eldons fanden seinen Beifall; selbst den eisernen Herzog hielt er für einen gefährlichen Ränkeschmied, weil Wellington sich den Forderungen der Zeit doch nicht ganz versagte. Die für so lange Jahre folgenreiche Wiedererhebung der Torys im Jahre 1807 war zum guten Teile Cumberlands Werk und blieb ihm bei den geschlagenen Whigs unvergessen. In den folgenden Jahren bekämpfte er hartnäckig jeden Reformvorschlag, am heftigsten die Emanzipation der Katholiken; denn ganz so buchstabengläubig wie sein Vater hielt er es für einen Eidbruch, wenn die verfassungsmäßigen Vorrechte der anglikanischen Kirche auf verfassungsmäßigem Wege beschränkt würden. Er wurde Großmeister des reaktionären Geheimbundes der Orangelogen, der unter dem Banner »Thron und Kirche« höchst verdächtige Zwecke verfolgte und schon durch seine Heimlichkeit allen guten altenglischen Überlieferungen widersprach; manche Heißsporne unter den Verschworenen hofften im Ernst, den reformfreundlichen König Wilhelm zu beseitigen und Cumberland auf den Thron zu erheben. Als die Wühlerei im Parlamente zur Sprache kam und der Herzog sich genötigt sah, die Logen aufzulösen (1836), da beteuerte er heilig, vielleicht mit Recht, von solchen Plänen nichts gehört zu haben. Doch wer sollte ihm Glauben schenken, wenn er, der Feldmarschall und Großmeister, dann auch noch behauptete, ganz ohne sein Wissen seien Offiziere in die Logen eingetreten?

Die Briten kannten ihn schon. Aufrichtig war er nur, sobald er unter Kameraden gemeine Witze riß oder seine Gegner mit schmutzigen Schimpfreden überflutete. Seine geschmacklosen Ausschweifungen und seine tolle Verschwendung hätte man ihm gern verziehen, wenn sich in dem wüsten Treiben auch nur ein Zug menschenfreundlichen Humors gezeigt hätte. Er aber fand seine Lust daran, den Freund gegen den Freund, den Gatten gegen die Gattin, die Geliebte gegen den Liebhaber aufzustacheln. Das eine kurzsichtige Auge, das ihm noch geblieben war, bemerkte jede Unordnung, jede Schwäche, jede Lächerlichkeit, und feige, unritterlich den Vorteil seiner hohen Stellung mißbrauchend, hechelte er dann mit seiner feinen Stimme seine Opfer durch schlagfertige Erwiderungen, wie sie der Große Friedrich und alle wahrhaft witzigen Spötter liebten, donnerte er mit einem Fluche nieder. Jedem Menschen trat er auf die Hühneraugen, so sagten seine eigenen Brüder, wenn er einen gebrechlichen greisen Herrn recht lange stehen ließ oder einen Feinschmecker durch eine plötzliche Einladung vom leckeren Mahle hinwegscheuchte oder an einer hellgekleideten alten Dame sich den Rücken wärmte, als ob er sie für einen weißen Ofen hielte, dann fühlte er sich behaglich; und sein getreuer Referent Wilkinson, den er nachher als Hofkaplan nach Hannover berief, bewunderte diese brutalen Witze mit so bedientenhafter Freude, daß die Deutschen glauben mußten, nach englischer Anschauung bestehe der Lebensberuf des Fürsten wirklich im Zertreten von Leichdörnern. Eine stattliche Erscheinung, wenn der starke große Herzog mit dem meisterhaft gewichsten grauen Schnurr- und Backenbarte auf seinem edlen Rosse dahergeritten kam; die Husarenuniform saß ihm wie angegossen, aber in den scharfgeschnittenen soldatischen Gesichtszügen lag ein so widerwärtiger Ausdruck von Hohn und Härte, daß viele den unleugbar schönen Mann für abschreckend häßlich erklärten, wie oft warnte der Dichter der Whigs, Thomas Moore, die englischen Mädchen vor der bärbeißigen Larve ( grim phiz) des öden galoppierenden Herzogs:

Der edle Prinz, es trifft sich gut,
Gleicht gar so sehr in Fleisch und Blut
Dem Chef des Hauses Belzebub!

Während der letzten Jahre pflegte er bald in Berlin, bald in London Hof zu halten. In Preußen galt er wenig; man erzählte nur beiläufig, daß er in den reaktionären Kreisen der Mecklenburgischen Partei sehr laut zu reden liebte. In England wurde seine Stellung immer peinlicher, seit die Whigs wieder obenauf kamen. Er haßte den König, der ihn zwang, die Reformbill ohne Widerstand hinzunehmen und ihm bei der Besetzung der hannoverschen Vizekönigsstelle den jüngeren Bruder Cambridge vorzog; er haßte noch bitterer seine junge Nichte, die ihm den Weg zum längst erhofften Throne vertrat – und trotz seiner zynischen Menschenverachtung wurmte es ihn tief, daß die Londoner Gesellschaft ihm schlechthin alles zutraute, greuliche, längst widerlegte Skandalgeschichten aus seiner Jugendzeit immer wieder auftauchten. Die ihn näher kannten, wußten wohl, daß Ernst August auch ungewöhnliche Herrschergaben besaß, wenn es ihm ernst war, dann arbeitete er mit eisernem Fleiße, wachsam, sicher, sorgfältig; sein scharfer natürlicher Geschäftsverstand ersetzte vollauf die mangelnde Bildung, und wo der Vorteil seines Hauses nicht ins Spiel kam, zeigte er sich sogar gerecht. Selbst sein Gemüt war doch nicht ganz verödet, wie hätte er sonst seine Gemahlin Friederike so zärtlich lieben können. Die schöne Schwester der Königin Luise hatte schon zwei Gatten beglückt, den Prinzen Ludwig von Preußen, nachher den Fürsten von Solms-Braunfels, und im Witwenstande auch noch manche süße Stunde verlebt. In ihrem leichten, lachenden, liebreichen Wesen lag ein bestrickender Zauber, dem selbst der sittenstrenge König Friedrich Wilhelm nicht widerstand; wenn man in früheren Jahren seine muntere Schwägerin bei ihm verklagte, dann sagte er ärgerlich: Ach was! Andere auch nichts taugen! In den Napoleonischen Zeiten hatte sie sich stets als gute Preußin gezeigt und mit den Führern der Patrioten fest zusammengehalten. Jetzt war sie längst gesetzter geworden, streng kirchlich, wohltätig, eine sorgsame Gattin. Ihre dritte Ehe wurde durch die Weihe eines großen Schmerzes geadelt. Der einzige Sohn Prinz Georg konnte von der Wiege an mit dem einen Auge nicht sehen und verletzte sich dann, als er einen Geldbeutel im Kreise wirbeln ließ, das gesunde Auge so schwer, daß er rettungslos dem Erbleiden der Welfen, der Blindheit, zu verfallen schien. Dies Unglück bestärkte den Vater in seiner religiösen Empfindung. Der alte Eisenkopf liebte den Gottesdienst, nicht bloß aus englischer Gewohnheit; nur mußte die Predigt kurz sein, kräftig, ohne Prunk und Salbung. Er fühlte in seiner Weise sehr lebhaft seine Verantwortlichkeit vor Gott, er betete still, bevor er einen schweren politischen Entschluß faßte und erlangte dann stets die tröstliche Gewißheit, daß die Wege Gottes mit den Ratschlüssen des Welfenhauses genau zusammenträfen.

So war der seltsame Sterbliche, der jetzt einen friedlichen, ihm fast ganz unbekannten deutschen Kleinstaat regieren sollte, ein geborener Tyrann, gewohnt, sich selber alles, andern nichts zu erlauben. Suscipere et finire hieß sein Wahlspruch. Den Deutschen war er schon darum ein furchtbarer Gegner, weil sie diesen sonderbar gemischten, durchaus englischen Charakter nicht sogleich durchschauten. In Deutschland ist die Grobheit fast immer ehrlich. Dem polternden alten Husaren traute niemand eine Falschheit zu; darum konnte er auch die hannoverschen Minister so leicht überlisten, als er einst die Annahme des Staatsgrundgesetzes zusagte und dann wieder hinausschob. Erst nachdem das Lügenspiel vollendet war, erkannte unser Volk, wieviel durchtriebene Arglist sich hinter den rohen Formen des Briten versteckte, und der preußische Gesandte Oberst Canitz merkte dann auch bald, daß der Welfe selbst seine Wutausbrüche zuweilen erkünstelte, um andere einzuschüchtern.

Gleich nach dem Tode seines Bruders huldigte Ernst August kniend der neuen Königin; sonst hätte er seine Prinzenrechte und die Apanage von 21 000 £ verloren. Dann reiste er ab, und die große Mehrzahl der englischen Zeitungen geleitete ihn mit dem Segenswunsche: hoffentlich würde man einander niemals wiedersehen. Er war jetzt englischer Thronfolger, und solange Victoria kinderlos blieb, hielt er eigensinnig die Hoffnung fest, ihr plötzlicher Tod könnte ihm doch noch die englische Königswürde verschaffen; hatte doch das Parlament für diesen Fall schon durch ein Gesetz Vorsorge getroffen. Die kleinere Krone aber, die ihm vorläufig genügen mußte, sollte ganz selbständig dastehen: unabhängig nach außen – darum nannte er sich fortan mit Stolz einen souveränen deutschen Fürsten, obgleich er den englischen Sitten treu blieb und immer nur ein gebrochenes Deutsch sprach – unabhängig auch im Innern. Bei seinen gelegentlichen Besuchen in Hannover hatte er das bequeme alte Beamtenregiment, »das Reich der Sekretäre« oft mit ätzendem Spotte übergossen. Er wußte, daß diesem Lande vornehmlich eine starre monarchische Gewalt not tat, und er dachte sie ihm zu bringen; er dachte ihm eine andere Verfassung zu geben und dann nach dieser treulich zu regieren. Dies nannte er Ordnung und beteuerte: »Regierungswillkür war mir immer verhaßt!«

Wie die neue Verfassung beschaffen sein sollte? – das wußte er selbst noch nicht, da er sich um das Land nie bekümmert hatte; genug, wenn sie die Macht der Krone befestigte. Ein anderes Recht außer der Satzung seines eigenen Willens erkannte der Welfe nicht an. Gegen die Verfassungsgesetze von 1814 und 1819 hatte er protestiert – allerdings nur heimtückisch, in der Tasche; das Staatsgrundgesetz hatte er nicht förmlich angenommen. Folglich hielt er sich an die Gesetze seiner Vorfahren nicht gebunden und rüstete sich wohlgemut zu einem Staatsstreiche, dessen Frechheit durch keinerlei Notstand beschönigt werden konnte, wenn der neue König seiner Pflicht gemäß die zu Recht bestehende Verfassung beschwor, dann mochte er fast alle seine Wünsche auf gesetzlichem Wege durchsetzen. Das Staatsgrundgesetz bestand erst seit vier Jahren und hatte noch keine tiefen Wurzeln geschlagen; nicht bloß der Adel murrte, auch das Volk fand wenig Freude an den langweiligen, unfruchtbaren Landtagsverhandlungen. Die durchaus ergebene erste und die sehr nachgiebige zweite Kammer ließ sich zu einigen Verfassungsänderungen sicherlich leicht bewegen, und sobald erst ruhig verhandelt wurde, dann mußte der geschäftskluge Welfe bald selbst einsehen, daß die Vereinigung der Steuerkasse mit der Domänenkasse, die er jetzt als eine demagogische Neuerung verwünschte, nur der Krone selbst Vorteile brachte. Ihn aber verblendete die Leidenschaft. Er hatte durch Schele, den Führer der Adelspartei, Wunderdinge gehört über den Radikalismus des Staatsgrundgesetzes, das in Wahrheit die Rechte des Königtums sorgsamer schonte als irgendeine andere der neuen deutschen Verfassungen, und nannte deshalb den Kabinettsrat Rose den hannöverschen John Russell. Wie er die englischen Reformer bekämpft hatte, so hoffte er in Hannover »der Demokratie die Flügel zu beschneiden«; und – seltsam genug – bei dem rohen Rechtsbruche wirkte auch die bornierte Gewissenhaftigkeit mit. Nach seiner Auffassung des politischen Eides konnte Ernst August das Staatsgrundgesetz nicht beschwören, weil er sich dann verpflichtet geglaubt hätte, keinen Buchstaben mehr daran zu ändern. Um sein eigenes Gewissen zu sichern, hielt er sich berechtigt, die Gewissen seiner Untertanen zu bedrängen. Also stürmte er blindlings hinein in die Bahn des Unrechts – denn ich bin ein Bock, so gestand er selbst – und getröstete sich des altenglischen Glaubens, daß die Deutschen zwar die besten Soldaten der Welt seien, aber von ihren Fürsten alles gelassen hinnähmen. (643-649.)

Die Göttinger Sieben

Am 1. November wurde durch ein zweites Patent das Staatsgrundgesetz aufgehoben, die alte Verfassung von 1819 wieder eingeführt, das Beamtentum – oder, wie es fortan hieß: die königlichen Diener – des Verfassungseides entbunden, endlich, als ob man das Volk bestechen wollte, den getreuen Untertanen die Summe von 100 000 Talern jährlich an den direkten Steuern erlassen. So maßte sich der welfische König das Recht an, seine Beamten eines nicht ihm geleisteten Eides zu entbinden – ein Recht, das in der römischen Kirche nur dem Papste, in der evangelischen keinem zusteht. Auf einen solchen Frevel war trotz allem, was geschehen, niemand gefaßt. An jeden einzelnen Beamten trat jetzt die Frage heran, ob er sein Gewissen der Gewalt unterwerfen, den neuen Diensteid schwören und damit den alten brechen dürfe, während das Land unter dem Schlage noch wie betäubt lag, unterzeichneten am 18. November sieben der namhaftesten Göttinger Professoren eine Vorstellung an das Universitätskuratorium, worin sie einfach erklärten, daß sie sich auch jetzt noch an ihren Verfassungseid gebunden hielten: »Das ganze Gelingen unserer Wirksamkeit beruht nicht sicherer auf dem wissenschaftlichen Werte unserer Lehren als auf unserer persönlichen Unbescholtenheit, sobald wir vor der studierenden Jugend als Männer erscheinen, die mit ihren Eiden ein leichtfertiges Spiel treiben, ebensobald ist der Segen unserer Wirksamkeit dahin. Und was würde Seiner Majestät dem Könige der Eid unserer Treue und Huldigung bedeuten, wenn er von Männern ausginge, die eben erst ihre eidliche Versicherung freventlich verletzt haben?« E. Albrecht, der als Lehrer unvergleichliche, als Schriftsteller leider wenig fruchtbare Jurist, hatte den Gedanken zuerst bei Dahlmann angeregt, und Dahlmann darauf die Erklärung aufgesetzt, die unverkennbar den Ausdruck eines tiefen sittlichen Leidens trug. Es war, wie ihr Verfasser sagte, eine Protestation des Gewissens, nur durch den Gegenstand ein politischer Protest. Nachher unterzeichneten noch die Gebrüder Grimm, Wilhelm Weber, Ewald und der junge Gervinus. Von allen den Sieben hatten bisher nur Dahlmann und Gervinus am politischen Kampfe teilgenommen, und auch sie standen bei den Liberalen der Rotteck-Welckerschen Schule im Rufe übertriebener Mäßigung.

Der alte Welfe geriet in furchtbare Wut, als er von dieser Tat erfuhr, die doch nicht einmal offene Widersetzlichkeit war; ihm fehlte jedes menschliche Verständnis für den Edelsinn der Gegner. Er selbst hatte fünf Monate lang geschwankt und erst zwei andere Pläne verworfen, bevor er die Verfassung umstieß; aber sobald seine Entscheidung gefallen war, meinte er alles erledigt und forderte schweigenden Gehorsam. So faßte er seine königliche Machtvollkommenheit auf. Alsbald verfügte er (28. November) eigenhändig in seinen rohen Schriftzügen: Er habe vernommen, wie »sich die Professoren nach erfolgter Aufhebung des Staatsgrundgesetzes dasselbe gewissermaßen noch als gültig zu betrachten und aufrechtzuerhalten herausnehmen«, und ersehe daraus, daß sie »augenfällig eine revolutionäre, hochverräterische Tendenz verfolgen, welche sie persönlich verantwortlich macht: sie scheinen daher der Macht des peinlichen Richters verfallen«; demnach sollten die Behörden »diesem verbrecherischen Beginnen« steuern und die Schuldigen zur Strafe ziehen. Schele stimmte freudig zu: Ein abschreckendes Beispiel sei nötig, damit die Übelwollenden sich nicht an die Erklärung der Sieben »als an ein Panier« anschlössen; aber statt der aussichtslosen peinlichen Untersuchung empfahl er ein kürzeres Verfahren, vergeblich baten die Minister Arnswald und Stralenheim als Kuratoren der Universität, man möge mindestens die Vorschriften der Bundesgesetze achten und zunächst den Bericht des Regierungsbevollmächtigten einfordern.

Ein kurzes, von Leist entworfenes Reskript verfügte die sofortige Entsetzung der Sieben, und der König befahl nachträglich noch selbst, daß ihnen ihr Gehalt nur bis zum Tage der Entlassung ausgezahlt werden dürfe. Dahlmann, Jakob Grimm und Gervinus erhielten außerdem die Weisung, das Land binnen drei Tagen zu verlassen, weil sie die Erklärung einigen Freunden mitgeteilt hatten. Die Studenten hatten das Schriftstück längst überall verbreitet, sie nahmen nach dem schönen Vorrechte der Jugend ungescheut Partei für die gute Sache und begrüßten Dahlmann als »den Mann des Wortes und der Tat«; es kam schon zu Händeln mit der bewaffneten Macht. Nur einige Söhne des hannöverschen Adels schämten sich nicht, den Mißhandelten das Honorar durch den Stiefelputzer abzufordern. In der Nacht, bevor die drei Verbannten, von Kürassieren bewacht, abreisten, wanderten die Burschen in Scharen hinaus – denn den Lohnkutschern hatte die Polizeigewalt zu fahren verboten – und drüben in Witzenhausen, auf dem freieren hessischen Boden, nahmen sie Abschied von ihren Lehrern. Als der kleine Sohn im Grenzwirtshause sich vor Jakob Grimms majestätischem Kopfe hinter dem Rocke der Wirtin versteckte, sagte die Mutter mitleidig: Gib dem Herrn die Hand, es sind arme Vertriebene.

Mit alledem war Ernst Augusts Rachgier noch nicht ersättigt. Kaum erfuhr er, daß Dahlmanns Berufung nach Rostock im Werke sei, so ließ er alsbald nach Schwerin und Strelitz schreiben, was dieser Mecklenburger alles verbrochen habe: »Seine Majestät haben geglaubt, den großherzoglichen Höfen Kenntnis von den Handlungen eines Mannes geben zu müssen, der in einem Lehramte an einer Universität nur höchst nachteilig auf die studierende Jugend wirken kann.« Die mecklenburgischen Regierungen fürchteten sich vor der drohenden Sprache des Welfen; sie beteuerten, der Wahrheit zuwider, die Verhandlungen seien längst abgebrochen, und erklärten, nunmehr könne von der Berufung »natürlich gar nicht die Rede sein«. Auf die Nachricht, daß Jakob Grimm die Seinigen in Göttingen heimlich besuchen wolle, erging sofort der Befehl, den Verbrecher durch Landdragoner über die Grenze zu schaffen. Um die offenbare Ungesetzlichkeit ihrer Entlassung auf dem einzigen gerichtlichen Wege, der ihnen noch offenstand, zu erweisen, klagten die Sieben auf Auszahlung ihres rückständigen Gehalts für das letzte Halbjahr. Da befahl der König der Justizkanzlei in Hannover durch ein Kabinettsschreiben des allezeit willigen Leist: sie solle die Klage einfach abweisen. Als der redliche Kanzleidirektor von Hinüber sich diesem rechtswidrigen Ansinnen widersetzte, da befürchtete Leist, die Justizkanzlei würde das königliche Kabinett verurteilen, oder auch die Professoren könnten beim Bundestage wegen verweigerter Justiz klagen. Um beides zu verhindern, beschloß man den Kompetenzkonflikt zu erheben. Die Kommission, welche die Kompetenzkonflikte zu entscheiden hatte, war freilich durch die Aufhebung des Staatsgrundgesetzes vernichtet; welches Recht stand denn noch fest in dem zerrütteten Staate? Indes gelang es, die Sache so lange hinzuhalten, bis Ernst August einen neuen Staatsrat gebildet hatte, und dieser entschied (1841): Das Gericht dürfe die Klage nicht annehmen, weil Entlassung und Gehaltsentziehung zu den Hoheitsrechten des Landesherrn gehörten. Der Welfe hoffte noch lange, die Federfuchser würden sich demütigen, und sagte in Alexander Humboldts Gegenwart: Professoren, Huren und Ballettänzerinnen kann man für Geld überall haben. Sobald Schele das falsche Gerücht hörte, daß Albrecht und Ewald das Geschehene bedauerten, schrieb er sogleich nach Göttingen: Die Wiederanstellung sei nicht unmöglich, falls die beiden wirklich Reue bezeigten.

Leider gab die Haltung der andern Professoren dem Könige einigen Grund, so niedrig zu denken von dem Mute der Gelehrten. Die Gelehrsamkeit der Georgia Augusta hatte sich den Kämpfen des öffentlichen Lebens von jeher grundsätzlich ferngehalten; manche der alten Hofräte empfanden es wie eine Beleidigung ihrer Amtsehre, daß sie jetzt in die Wirren der Politik hineingerissen wurden. Wenige Tage, nachdem die Erklärung der Sieben ruchbar geworden, fuhren der Prorektor und die Dekane nach dem Jagdschlosse Rotenkirchen im Solling, um dem Könige untertänig auszusprechen, »daß sie in dem Vertrauen zu den landesväterlichen Absichten Seiner Majestät überall nicht wanken und niemals Gesinnungen hegen werden, welche dem entgegen sind«. Sie wagten sogar kein Wort der Erwiderung, als die amtliche »Hannöversche Zeitung« nachher dem Prorektor eine völlig gefälschte, die Tat der Sieben entschieden verwerfende Rede unterschob. Nur sechs jüngere Professoren, Otfried Müller voran, entschlossen sich, angeekelt durch dies Übermaß der Lüge, zu der öffentlichen Erklärung, daß sie den Schritt ihrer entlassenen Kollegen nicht mißbilligten. Aber niemand wollte sich den Sieben rückhaltlos anschließen. Der schon durch Rauschenplatts Revolution verdunkelte Glanz der Universität verblich jetzt gänzlich, für viele Jahre; die auswärtigen Studenten mieden den verrufenen Ort, der Abgang so trefflicher Lehrkräfte ließ sich nicht ersetzen. Ernst August wünschte vornehmlich die Lehrstühle Dahlmanns und Albrechts mit ergebenen Leuten zu besetzen, damit den Studenten die neue Lehre von der unbeschränkten Gewalt des alleinigen Dienstherrn eingeprägt würde; allein solche Gelehrte waren in Deutschland selten. Der Marburger Vollgraff, der in einigen verworrenen Schriften, nicht ohne Geist »die Täuschungen des Repräsentativsystems« bloßgelegt hatte, genügte doch zu wenig den hohen wissenschaftlichen Ansprüchen, welche das Orakel des Kuratoriums, der greise Historiker Heeren, an die Lehrer der Georgia Augusta zu stellen pflegte, und man wagte nicht, ihn zu rufen. Umsonst baten die Universität und die Stadt in wiederholten Eingaben um die Rückkehr der Sieben. Selbst der Gothaer G. Zimmermann, der einzige namhafte deutsche Publizist, der in die Dienste des Welfenhofes gegangen war, hielt die Rückberufung für nötig, um das Land und die tief erbitterte gelehrte Welt zu beruhigen. Ernst August blieb unerbittlich. Als man im Herbst 1846 erzählte, Dahlmann, Jakob Grimm und Gervinus wollten auf Besuch nach Göttingen kommen, entschied der Welfe kurzab: Es bleibe bei den früheren Befehlen.

Wie gründlich täuschte er sich, als er in der ersten Schadenfreude zu Canitz sagte, »diese Leute haben meiner Sache eher genützt als geschadet«. Es währte nicht lange, da rief er zornig: »Hätt' ich gewußt, was mir die sieben Teufel für Not machen würden, so hätt' ich die Sache nicht angefangen.« Seit der Julirevolution hatte kein Ereignis mehr eine solche Aufregung hervorgerufen. Die Frage lag so einfach, sie berührte so unmittelbar die empfindlichste Seite des deutschen Gemüts, die Treue, daß die schlichten Leute mit ihrem Urteil rasch fertig wurden. Der Nation war zumute, als sei ein englischer Räuber plötzlich in ihren Garten eingebrochen. Der burschikose junge Poet Hoffmann von Fallersleben sagte nur grob heraus, was Tausende empfanden, als er sang: »Frisch Knüppel aus dem Sack! Aufs Lumpenpack! Aufs Hundepack!« Und wer noch irgend zweifelte, den mußten die Verteidigungsschriften der Sieben gewinnen. Dahlmanns Büchlein »Zur Verständigung« war ein Meisterwerk deutscher Publizistik; die leidenschaftlich bewegte Sprache blieb immer würdig und vornehm, und nirgends verleugnete sich die gemäßigte Gesinnung des Monarchisten: »Ich kämpfe für den unsterblichen König, für den gesetzmäßigen Willen der Regierung, wenn ich mit den Waffen des Gesetzes das bekämpfe, was in der Verleitung des Augenblicks der sterbliche König im Widerspruch mit den bestehenden Gesetzen beginnt ... Ich traue nicht dem Mut des Liebeleeren und nicht der Liebe des Mutlosen. Hier gilt es Deutschland. Kann eine Landesverfassung vor den Augen des Bundes wie ein Spielzeug zerbrochen werden, eine Verfassung, von der es unmöglich ist zu leugnen, daß sie in anerkannter Wirksamkeit bestanden hat, dann ist über Deutschlands nächste Zukunft entschieden, aber auch über die Zukunft, die dieser folgen wird.« Wie Dahlmann die politische, so zeigte Jakob Grimm die menschliche Niedertracht des Staatsstreichs in einem Schriftchen, das mit den Worten der »Nibelungen« anhob: »War sint die eide komen?« Albrecht beleuchtete die Rechtsfrage in einer scharfsinnigen Erörterung, die um so stärker wirken mußte, weil der große Jurist nie verhehlte, daß er die landläufigen liberalen Lehren vom sogenannten Widerstandsrechte für eitle Zirkelschlüsse hielt. Auch Gervinus und Ewald sprachen sich freimütig aus, und von allen Seiten her kam ihnen Beistand.

Georg Beseler, der sich als Kampfgenosse wider die Dänen das Vertrauen Dahlmanns erworben hatte und jetzt an der Rostocker Hochschule lehrte, rechtfertigte die sieben in volkstümlichen Briefen. Anastasius Grün richtete an Jakob Grimm ein begeistertes Gedicht und wünschte:

Daß bis Hannover hin der Sang sich schwänge wundertönig,
Ans Ohr des Herzogs Cumberland, der jetzt Hannovers König.
Versteht er auch des Deutschen Lied von deutscher Ehre schwerlich,
Wird sich wohl einer finden dort, ihm's zu verwelschen ehrlich.

Ein Märchen »Anno 1937« schildert, wie die Großmutter dem Enkel von dem bösen König, dem zerrissenen Freiheitsbriefe, den Sieben und den Dreien erzählte, und der Bube verwundert antwortete: »Das kann unmöglich möglich sein!« Überall hatten die vertriebenen Mühe, sich den Huldigungen und Zuschriften zu entziehen. Die Bewegung ergriff alle deutschen Gaue, bis zu den fernen Grenzmarken. Die Kieler überschickten an Dahlmann, den alten Vorkämpfer des Holstenrechts, eine Dankadresse; die Elbinger Bürger sprachen ihrem Landsmann Albrecht ihre Zustimmung aus, und die Königsberger philosophische Fakultät sendete ihm ein von Lobeck verfaßtes Doktordiplom. Ein Hamburger Reeder ließ in Kuxhaven ein auf Dahlmanns Namen getauftes Schiff vom Stapel laufen. An den Fenstern der Spielwarenläden sah man den Witzenhausener Abschied in Bleifiguren dargestellt, auf den Jahrmärkten wurden Pfeifenköpfe mit dem Bilde der Sieben feilgeboten. Und es blieb nicht bei den Worten und Bildern. Zum ersten Male seit dem Befreiungskriege veranstalteten die Deutschen wieder eine Geldsammlung für ihre eigenen politischen Zwecke; in den letzten zwanzig Jahren hatten sie nur zugunsten der Griechen und der Polen freiwillig gesteuert. In Leipzig entstand der Göttinger Verein, der sich bald über ganz Deutschland verzweigte und den Sieben bis zu ihrer Wiederanstellung ihren alten Gehalt zahlte. Einige der unternehmenden Bürger, welche die erste Eisenbahn bauten, Gustav Harkort und Dufour, standen an der Spitze, dazu die Besitzer der Weidmannschen Buchhandlung, Karl Reimer, und der junge Schweizer Salomon Hirzel; in Berlin übernahm Gans die Leitung, in Baden Rotteck, in Königsberg der radikale Jacoby, in Jena der streng kirchlich gesinnte Buchhändler Frommann, in Marburg sein Gesinnungsgenosse V. A. Huber. Alle guten Kräfte des Bürgertums fanden sich zusammen.

In der amtlichen Welt waren die Meinungen geteilt. Die Taten des Welfen in Schutz zu nehmen, wagte fast niemand; nur da und dort jubelte ein übermütiger Junker, wie der Prinz von Noer, das sei brav, daß man die Kerls fortgejagt habe. Aber nach den Anschauungen des alten Beamtenstandes erschien das kühne Auftreten einfacher Professoren, die kein obrigkeitliches Amt bekleideten, als eine gefährliche Anmaßung. Selbst Canitz, der das Treiben am hannöverschen Hofe mit wachsender Sorge betrachtete und mit seinen Landsleuten, den Brüdern Grimm, auf freundlichem Fuße stand, meinte doch ängstlich: die Sieben hätten still ihren Abschied fordern sollen, ohne die Gewissen anderer zu verwirren. Diesen Kleinmut der Regierungen verstand der Welfe sehr geschickt auszubeuten; er wußte aus seiner parlamentarischen Erfahrung, wieviel die Frechheit über die Menschen vermag. Seine Gesandten traten mit einer Zuversicht auf, als ob sich Hannover durch seinen Staatsstreich besondere Ansprüche auf Dank und Dienst aller Kronen erworben hätte. Als Beselers Schrift erschienen war, sendete Ernst August den Prinzen Solms nach Schwerin, um die Bestrafung des Verfassers zu verlangen; der gutherzige Großherzog Paul Friedrich ordnete auch eine Untersuchung an, er berief aber in die Kommission drei verständige Männer, die natürlich erklärten, daß keine strafwürdige Handlung vorliege, sobald er hörte, daß einige der Sieben in Leipzig Vorlesungen halten wollten, verbot Ernst August seinen Untertanen sofort den Besuch der Leipziger Universität, worauf sich denn herausstellte, daß nur ein einziger Hannoveraner an der Pleiße studierte. Wo immer ein Buch zugunsten der Sieben oder des Staatsgrundgesetzes erschien, erhoben die welfischen Diplomaten alsbald Beschwerde; der Gesandte General von Berger in Berlin, ein alter Herr, der sich sogar unter ihnen durch Beschränktheit auszeichnete, fand es immer wieder unbegreiflich, wie die Zensur solchen Produkten »das Ultimatum erteilen könne«!

Ganz ohne Erfolg blieben diese Einschüchterungsversuche nicht; Dahlmann und Jakob Grimm mußten ihre Rechtfertigungsschriften, zur Schande Deutschlands, in der Schweiz erscheinen lassen. Am willfährigsten zeigte sich der dänische Hof, weil er selbst eine streng konservative Politik verfolgte und wohl auch, weil er einen alten Haß gegen Dahlmann hegte. Er erteilte den Kieler Professoren, welche den Sieben geschrieben hatten, einen Verweis und forderte die Zensoren Schleswig-Holsteins zur Wachsamkeit auf, da »unzeitiges und böswilliges Aussprechen der öffentlichen Meinung« den Erfolg der in Hannover beabsichtigten Maßregeln gefährden könne. In Berlin äußerte sich Eichhorn sehr freimütig; er hoffte, der König würde die Brüder Grimm, vielleicht auch Dahlmann oder Albrecht an eine preußische Hochschule berufen. Bettina von Arnim ergriff den Gedanken mit ihrem hochherzigen Eifer und suchte, unterstützt von ihrem Schwager Savigny, den Kronprinzen dafür zu erwärmen. Minister Rochow dachte anders. Auch er mißbilligte das Verfahren des welfischen Hofes und war sehr unglücklich, als er späterhin für einige dem Sohne der Königin Friederike erwiesene Gefälligkeiten den Guelphenorden erhielt; für einen Bundesgenossen Ernst Augusts wollte er durchaus nicht gelten. Aber die Einmischung Unberufener in die hohe Politik hielt er für staatsgefährlich; nur unter der Hand durfte in Berlin für die Sieben gesammelt werden. Da übersendete ihm der Kaufmann Jakob van Riesen die Adresse, welche die Elbinger an Albrecht geschickt hatten; der ehrliche altpreußische Liberale hoffte arglos, den Minister dadurch für Albrechts Berufung günstig zu stimmen. Rochow brauste auf; er glaubte sich verhöhnt, und heftig wie er war, unterzeichnete er eine Antwort, deren maßloser bureaukratischer Hochmut den preußischen Staat vor aller Welt bloßstellte. Da hieß es: »Dem Untertanen ziemt es nicht, die Handlungen des Staatsoberhauptes an den Maßstab seiner beschränkten Einsicht anzulegen und sich in dünkelhaftem Übermut ein öffentliches Urteil über die Rechtmäßigkeit derselben anzumaßen.« Die Torheit sollte sich schwer bestrafen. Die Fama gestaltete aus diesen Sätzen das geflügelte Wort vom »beschränkten Untertanenverstande«, und fortan haftete an Rochows Namen unaustilgbar der Fluch der Lächerlichkeit. Man hielt den Minister für einen ausbündigen Narren, obwohl er sich eben jetzt bei der Beratung des Eisenbahngesetzes sehr verständig und neuen Ideen zugänglich zeigte.

Den konstitutionellen Höfen war übel zumute. Alle Welt rief, jetzt sei es an ihnen, durch sofortige Berufung der Sieben den alten Ruhm deutscher akademischer Gastfreiheit von neuem zu bewähren und dem beleidigten Gewissen der Nation Genugtuung zu geben. Du Thil freilich blieb für solche Mahnungen taub und schrieb in seine Aufzeichnungen: »Mir träumte der Teufel«, als Gervinus sich um eine Stelle an dem heimischen Darmstädter Archiv bewarb. Als entschiedene Protestanten konnten die Sieben auch von Bayern und Baden wenig erwarten, seit dort die klerikale Luft wehte. Der gütige König Friedrich August von Sachsen dagegen und seine Minister wünschten lebhaft, die zurzeit etwas erstarrte Landesuniversität durch eine großartige Verstärkung der Lehrkräfte zu heben – wenn sie sich nur nicht vor der Grobheit des Welfen, vor dem Unwillen der Hofburg gar so sehr gefürchtet hätten. Wie viele diplomatische Widerwärtigkeiten hatte Minister Lindenau noch vor drei Jahren ertragen müssen, als ihm die Zeitungen eine halb erfundene radikale Äußerung in den Mund gelegt hatten. Solche Erfahrungen genügten, um den abhängigen kleinen Hof behutsam zu stimmen. Man sagte den Sieben in Dresden freundliche, unzweifelhaft ehrlich gemeinte Worte, allein man wagte nichts, und zornig schrieb Dahlmann in der Vorrede zu Albrechts Verteidigungsschrift: »Solange es bei uns nicht in politischen Dingen, wie seit dem Religionsfrieden gottlob in den kirchlichen, ein lebendiges Nebeneinander der Glaubensbekenntnisse gibt (solange die das beste Gewissen haben, könnten sich gebärden, als ob sie das schlechteste hätten, solange der feigherzigste Vorwand genügt, um nur alles abzuweisen, was an dem trägen Polster der Ruhe rütteln könnte), ebensolange gibt es keinen Boden in Deutschland, auf dem einer aufrechtstehend die reifen Früchte politischer Bildung pflücken könnte.« Die eingeklammerten Worte strich ihm der Leipziger Zensor, Professor Bülau, ein geistloser Vielschreiber, der den Sieben nicht an die Schultern heranreichte und ihnen nun wie Schulbuben das Konzept korrigierte. Zu solchem Aberwitz führte das Karlsbader Preßgesetz.

Nach langen Erwägungen erhielt Albrecht in der Stille die Erlaubnis, an der Leipziger Universität Vorlesungen zu halten; nachher empfing er auch Gehalt, als geheimer Professor, wie die Kollegen spotteten, und erst nach längerer Zeit, als die Luft wieder rein war, wurde er förmlich angestellt. Dahlmann freilich schien den Kursachsen zu gefährlich; der politische Führer der Sieben lebte fortan mehrere Jahre lang ohne Amt in Jena und leitete von dort aus unverdrossen den Federkrieg wider die hannöverschen Gewalthaber. Unter allen deutschen Fürsten wagte allein König Wilhelm von Württemberg dem Welfen offen entgegenzutreten. Er berief Ewald nach Tübingen, der als der einzige geborene Hannoveraner unter den Sieben dem welfischen Hofe besonders verhaßt war. Natürlich verbot Ernst August seinen Landeskindern sofort den Besuch der schwäbischen Hochschule. Als die beiden Könige nachher in Berlin zusammentrafen, fragte der Welfe grob: »Warum haben Sie einen Professor angestellt, den ich fortgejagt habe?« Darauf der Württemberger: »Ebendeswegen!«

Der welfische Staatsstreich rüttelte die halb entschlummerte öffentliche Meinung wach und zwang die Deutschen, ihre politische Leidenschaft wieder dem Vaterlande zuzuwenden. Seit dies Schandmal auf Deutschlands eigener Stirn brannte, begann die Presse die Fragen des Bundesrechts wieder ernstlich zu erörtern, die früher beliebten weltbürgerlichen Betrachtungen über die Pariser Kammern und die orientalischen Wirren erschienen jetzt schal. Leider wurde die dringend nötige Klärung unseres verworrenen Parteilebens durch diesen wohlberechtigten sittlichen Unwillen mehr gehemmt als gefördert. Die wilden Brandschriften der Flüchtlinge aus Frankreich und der Schweiz mußten jedem Besonnenen zeigen, daß die deutsche Opposition längst zwei grundverschiedene Parteien umschloß, die auf die Dauer nicht zusammenwirken konnten. Jetzt aber warf eine rein menschliche Entrüstung alles, was nicht schlechthin servil war, Radikale, Liberale, gemäßigte Konservative wieder in einen Haufen zusammen. Seit es auch im Norden konstitutionelle Märtyrer gab, verbreitete sich die doktrinäre Überschätzung der Verfassungsformen weithin über Deutschland. Dahlmanns politischer Takt empfand dies sogleich. Auf den Festgelagen, mit denen man ihn ehrte, betrachtete er ohne Freude die radikalen Feuilletonsschreiber, »mit denen wir doch nur sehr zufällig in dieselbe Gesellschaft geraten sind«. Den Freunden gestand er: ich hoffe bald »die Ähnlichkeit mit so vielen, denen ich mich in keiner Weise verwandt fühle, abzustreifen«. Beides gemeinsam, das Königtum und die bürgerliche Freiheit, macht den Staat aus, so sagte er in seinem Dankschreiben an Johann Jacoby: »Der Staat wäre eine ebenso flache und frivole Sache, als er eine tiefsinnige und heilige ist, wenn er nicht gerade diese Verbindung von Dingen zu leisten hätte, die allein dem oberflächlichen Beobachter unvereinbar scheinen.« Herrliche Worte, nur waren sie leider an eine falsche Adresse gerichtet, an einen Radikalen, der sie entweder nicht verstand oder als klägliche Halbheit verdammen mußte. Doch wie konnten diese Gegensätze sich scheiden, solange ein gemeinsamer edler Zorn sie zusammenhielt? Dahin war es mit uns gekommen, daß die härtesten und wirksamsten Anklagen gegen die bestehenden Gewalten jetzt von treuen Monarchisten ausgingen.

Die Vertreibung der Sieben verwirrte und verwischte nicht bloß die Parteigegensätze, sie begründete auch die politische Macht des deutschen Professorentums, die erst durch den Krieg von 1866 gebrochen werden sollte. Als der Streit begann, sagte eine englische Zeitung: In Deutschland sind die Universitäten auch politische Mittelpunkte, welche dem übrigen Lande Impulse geben; die Professoren gelten als Magistrate, beauftragt, die Rechte des Volks so gut wie die Grundsätze der Vernunft zu verteidigen. Das Urteil war verfrüht, denn bisher hatten nur die Hochschulen von Jena, Kiel, Freiburg für kurze Zeit eine politische Rolle gespielt, doch es sollte sehr bald durch die Tatsachen gerechtfertigt werden. Aus dem Göttinger Gewaltstreiche entwickelte sich ein großer Kampf der deutschen Gelehrtenwelt wider einen Despoten, der seine Geringschätzung der Wissenschaften höhnisch zur Schau trug; keine deutsche Universität, die den Sieben nicht irgendwie ein Zeichen der Zustimmung gegeben hätte. In diesem Kampfe war alles Recht unzweifelhaft auf seiten der Gelehrten; an ihrer Spitze standen tapfere, makellose, schuldlos verfolgte Männer, während der Welfe sich nur auf gemeine Knechte und auf die Ängstlichkeit der deutschen Höfe stützen konnte.

Wenn je im politischen Streite ein moralischer Sieg erfochten wurde, so war es hier. Ein solcher Erfolg mußte das ohnehin starke Selbstgefühl der Gelehrten mächtig heben; von den Sieben blieben fünf als Menschen schlicht, edel, liebenswert, in Gervinus aber und in Ewald verkörperte sich der unausstehliche Professorendünkel. Die einmal erregte politische Leidenschaft hielt an; die Gelehrten begannen durch Schriften und Reden unmittelbar an der politischen Erziehung der Deutschen zu arbeiten, und da sie gewohnt waren, zur ganzen Nation zu reden, so drangen ihre Stimmen weiter als die Reden der Landtagsabgeordneten. Die Gelehrtenversammlungen der nächsten Jahre wurden zu Vorparlamenten, in denen die Nation die großen Tagesfragen erörterte, und als nachher das wirkliche Parlament zusammentrat, da drangen die Gelehrten in Scharen ein, weil sie fast die einzigen Männer waren, welche ganz Deutschland kannte. Es war eine tragische, durch keines Menschen Willen abzuwendende Notwendigkeit, daß diese idealistische Nation, indem sie von den Höhen des literarischen Schaffens langsam zur politischen Arbeit hinabstieg, auch noch die Durchgangsstufe der Professorenpolitik überschreiten mußte. Durch dies Übergewicht des Professorentums wurde der doktrinäre Zug, der die Politik der deutschen Liberalen von jeher auszeichnete, ungebührlich verstärkt, und es entstand auch der falsche Schein, als ob der Liberalismus die Sache der Bildung verträte, während in Wahrheit die Helden der deutschen Kunst und Wissenschaft: Goethe, Cornelius und Rauch, Niebuhr, Savigny und Ranke, großenteils dem konservativen Lager angehörten.

Zu Taten vermochte diese Gelehrtenpolitik sich nicht zu erheben, denn in der Stille der wissenschaftlichen Arbeit bilden sich nicht leicht politische Charaktere; unter den Sieben selbst war Dahlmann der einzige politische Kopf, auch er mehr ein Denker als ein Mann der Tat, während Gervinus' staatsmännisches Talent nur in seiner eigenen Einbildung beruhte, und die übrigen allesamt gar keinen politischen Ehrgeiz hegten. Aber an Ideen, an groß und tief gedachten Ideen, war dies Menschenalter des politisierenden Professorentums sehr fruchtbar. Bei der Lampe deutscher Gelehrten sind die Pläne für die Einheit des Vaterlandes zuerst erdacht worden, welche nachher durch die schöpferischen Hände großer Praktiker ihre Gestaltung empfangen sollten. Die deutsche Wissenschaft – so stark und unverwüstlich war ihr Wachstum – erlitt durch die politische Leidenschaft der Gelehrten durchaus keinen Schaden. Unter der Mehrheit der Göttinger Professoren befanden sich einige, die nicht aus Furcht, sondern grundsätzlich den Schritt der Sieben verwarfen, so Herbart, Hugo, Gauß. In einer nachgelassenen Schrift »Die Göttinger Katastrophe« hat sich Herbart über die Gründe seines Verhaltens freimütig ausgesprochen; er glaubte, der tiefe Ernst, die gesammelte Stille des deutschen akademischen Lebens würden verschwinden, sobald die Universitäten sich in politische Kämpfe einließen. Diese im Munde des strengen Philosophen wohl begreifliche Befürchtung erwies sich als irrig. Die Forscher arbeiteten rüstig weiter, und die Sieben selber gingen ihnen mit gutem Beispiele voran. Die historische Wissenschaft gewann sogar durch die politische Tätigkeit der Gelehrten. Ganz wertlose historische Tendenzschriften erschienen während der nächsten Jahre selten, seltener sicherlich als in dem Zeitalter des Rotteck-Welckerschen Liberalismus; wohl aber viele tüchtige Werke, welche den Deutschen ihre Vergangenheit wissenschaftlich erklärten. Die Blüte der politischen Geschichtschreibung in den vierziger und fünfziger Jahren, die Vertiefung unserer historischen Selbsterkenntnis ward nur darum möglich, weil die Historiker der Welt der politischen Taten so nahe, oft allzu nahe getreten waren. (657–668.)


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