Ludwig Tieck
Denkwürdige Geschichtschronik der Schildbürger
Ludwig Tieck

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Caput I.

Einleitung des Verfassers. – Geographische Nachrichten. – Beschreibung der Einwohner.

Es ist sonder Zweifel für den Menschen ein sehr interessantes Studium, zu sehn und zu erfahren, was sich vor seiner Zeit in der Welt zugetragen hat, um nach den verschiedenen Vorfällen in der alten Welt die Begebenheiten seines Zeitalters beurtheilen zu lernen. Die Wissenschaft der Geschichte ist eben darum von je sehr hochgeachtet worden, so daß man von ihr sogar behauptet hat, sie könne den Staatsmann, so wie den Kriegshelden erziehn; aber auch für den, der in keiner von diesen Laufbahnen groß zu werden denkt, sondern nur zum Nutzen seines Geistes die Begebenheiten aus einer ruhigen und sichern Ferne beschauen will, ist es angenehm, in denen Sachen, die in der Welt vorgefallen sind, nicht unwissend zu bleiben.

Darum sind von je an billig die Männer geachtet worden, die ihre Zeit und Arbeit darauf verwandten, Begebenheiten zu sammeln, um sie dem Verstande des Lesers in einer zierlichen und klugen Ordnung vorzuführen. Auch können wir in unserm Zeitalter nicht klagen, daß es uns ganz und gar an Geschichtsbüchern mangle, wenn der Mensch deren gleich nie genug erhalten kann, und noch manche Lücken auszufüllen wären. Dem Leser ist es vergönnt, alle Nationen genau 4 kennen zu lernen, um von allen Ländern und Städten die Beschreibungen in den Händen zu haben; daneben gebricht es ihm auch nicht an dem nöthigen Räsonnement, sondern wir haben unzählige weitläufige Werke, in denen fast nur geurtheilt wird, und wo die Geschichte selbst nur dem Scharfsinne des Scribenten dient. Es darf sich überdies der Leser nicht über Einseitigkeit der Anschauungen beklagen, denn er kann es häufig inne werden, wie man ohne sonderliche Verdrehung die größten Menschen zu kleinen, so wie die kleinsten zu den größten macht; ein Handgriff, der jetzt in der Geschichte fast nothwendig geworden ist, um den alten, längst bekannten Thaten und Männern wieder den Reiz der Neuheit zu geben, damit wir uns zugleich ergötzen können, indem wir uns um dergleichen alte Historien bekümmern.

Die Vergangenheit ist mit Recht ein Spiegel der Zukunft zu nennen, und deswegen ist schon zum bessern Verständniß der Zeitgeschichte die Kenntniß der alten Welt nützlich. Ich darf mir daher vielleicht einigen Dank von einem großgünstigen Leser versprechen, wenn ich ihm nachfolgende alte, längstvergangene Vorfälle erzähle, indem er dadurch vor der Einseitigkeit bewahrt wird, mit der er sonst gar zu leicht die moderne Weltgeschichte lesen könnte, die in Hamburg, Berlin, Leipzig, Erlangen, Bayreuth u. s. w. wöchentlich in zweien oder dreien kleinen Heften erscheint; ich habe darum auch keine Mühe bei'm Sammeln dieser Nachrichten gescheut.

Ich darf überhaupt in dieser Chronikgeschichte wohl am meisten auf den Beifall des Lesers rechnen, weil es doch viel ehrwürdiger ist, ein Historiograph, 5 als ein Mährchenerzähler zu seyn; ich hoffe daher hier auch diejenigen mit mir zu versöhnen, die wegen der andern Erfindungen vielleicht übel mit mir zufrieden sind. Der Leser hat es auch nur dem Zufall zu danken, daß diese Geschichtsdarstellung in diese Mährchen geräth, für die ich sie anfänglich gar nicht bestimmt hatte, und man erlaube mir, hierüber nur noch ein paar Worte zu sagen.

Wenn man sich einem Beschützer und Gönner empfehlen will, indem man wünscht, bürgerliche Pflichten zu erfüllen, oder ein gutes Auskommen zu erhalten, und man bei einer solchen feierlichen Gelegenheit seinen Verstand zu zeigen wünscht, so wäre es höchst lächerlich, irgend etwas Poetisches hervor zu bringen und es als ein Beglaubigungsschreiben einzureichen. Darum wird auch kein vernünftiger, im kultivirten Staate erzogener Mensch darauf verfallen, den Aufschneider umzuarbeiten, oder den Finkenritter zu elaboriren, wenn er sich zu einer geistlichen oder Civilstelle melden will, denn es sind Mährchen und Possen, und kein Gönner glaubt an den Eulenspiegel und Aufschneider, selbst dann nicht, wenn er sogar einer von beiden in eigener Person seyn sollte. Die Dankbarkeit des Staats, die Liebe unsrer Mitbürger, das Eingreifen und Mitwirken, das Helfen bei'm Fortschieben des Jahrhunderts, die zunehmende Aufklärung und Humanität, alle diese Sachen, die doch gewiß keine Mährchen sind (weil sonst ja der dankbare Staat keine Gehalte dafür bezahlen würde), wird man nie durch Mährchen erlangen; sondern eben deswegen hat es ja Griechen und Römer gegeben, und deswegen haben so manche Männer unter ihnen etwas 6 gethan und gelitten, daß man in unsern Zeiten Programme und Disputationen darüber schreiben kann, um Ruhm und Aemter zu erlangen. So wenig es sagen will, ein Gedicht hervorzubringen, so viel hat es zu bedeuten, wenn man eine Abhandlung über ein Gedicht zu verfertigen im Stande ist, und dazu haben wir auch die alten Classiker.

So war ich neulich des unthätigen Lebens überdrüssig geworden, und beschloß also, am Baue des Staates mit Hand anzulegen. Ich hatte einen alten Verwandten von Einfluß, der mich aber schon längst vergessen hatte; darum wollte ich ihm das Gedächtniß auffrischen und ein kleines Buch schreiben, das den Beweis enthalten sollte, wie Nero nichts weniger als ein grausamer Kaiser gewesen sey, sondern im Gegentheil ein sehr gütiger Mann, ein Charakter, der in der Ausbildung zu groß und daher für diese kleine Welt unpassend geworden; unser Zeitalter liebt solche Bücher, und ich hätte mich dadurch vielleicht sehr empfohlen. Nachher wollt' ich von des Caligula Pferde schreiben und davon Gelegenheit nehmen, unser Zeitalter und unsre Bürgermeister zu loben; aber ein guter Freund warnte mich noch zur rechten Zeit und versicherte mich, daß man keinen Spaß verstehe. Ich schwur ihm, es sey mein bittrer Ernst, aber da er am Ende Recht behielt und ich nicht gern für boshaft ausgegeben seyn wolle, so ließ ich auch diese interessante Abhandlung liegen. Doch da ich wußte, daß mein Oheim, als ein rechtschaffener Geschäftsmann, alles Unernsthafte und Poetische verachtete, so mußte ich doch an irgend etwas Gründliches die Hand legen; und so verfiel ich denn auf die Geschichte der 7 Schildbürger, die ich nach allen meinen Kräften auszuarbeiten versucht habe. – Aber kaum war ich mit dem Werke fertig, als mein Oheim starb und ich auch nach bürgerlichen Geschäften zu streben aufhörte; damit aber meine Untersuchungen nicht ganz unnütz seyn sollten, habe ich, um der Welt zu nutzen, einen kleinen Verstoß gegen die Schicklichkeit begangen und diese wahre Geschichte in diese Erfindungen hineingetrieben.

So viel zur Einleitung!

Es fällt mir ganz unmöglich, dem wißbegierigen Leser nur einigermaßen befriedigende Nachrichten über die Geographie dieses Landes, Volksmenge, Anzahl der Feuerstellen u. s. w. zu geben, ob es gleich meine erste Pflicht wäre, denn ich habe davon gar keine Notizen, trotz aller wiederholten Nachforschungen, angetroffen. Der Leser kann sich überhaupt schwerlich vorstellen, welche Schwierigkeiten ich habe überwinden müssen, um ihm gegenwärtige Geschichtserzählung zu liefern, denn die Quellen dazu sind fast alle versiegt und vertrocknet. Ich ließ in den angesehensten Bibliotheken nachsuchen, ich gab vielen Buchhändlern Aufträge, um mir von der Messe dahin einschlagende Bücher mitzubringen, aber Alles vergebens; in den Buchläden selbst war keine Spur eines zu meinem Endzwecke brauchbaren Werkes anzutreffen. Ich ließ mich aber nicht irre machen, sondern besuchte aus reinem Enthusiasmus die Leipziger Messe in eigner Person. Einige unverständige Buchführer wollten mir Schmids Geschichte der Deutschen oder dergleichen aufheften, aber ich merkte bald, daß das nicht einmal Hülfsmittel, viel weniger gute Quellen zu nennen wären. Als ich schon 8 alle Hoffnung aufgegeben hatte, fand ich auf der Straße endlich noch einen kleinen, unansehnlichen Buchhändler sitzen, der aber bei aller seiner wenigen Figur die seltensten Werke feil hatte, die man vergebens in den größern Handlungen suchen wird. Das Exemplar, das ich hier von der Geschichte der Schildbürger antraf, ist daher billig für ein Manuscript zu achten, und aus diesem habe ich auch in der That das Meiste geschöpft. Der kleine Kaufmann erzählte mir unter Thränen, wie sehr er sich wundere, daß ich dergleichen Bücher kaufte, da ich doch wahrscheinlich zu den aufgeklärten Männern gehörte, die jetzt dergleichen Bücher so sehr verachteten und ihnen einen so schlimmen Einfluß auf die Sitten des gemeinen Mannes zuschrieben, daß er bisweilen wohl gar auf den Gedanken gekommen sey, sich für ein verderbliches Mitglied des Staats zu halten. Man suche ja zum Besten der Aufklärung und der Menschheit den Till Eulenspiegel, die Heymonskinder, den gehörnten Siegfried und dergleichen Bücher durch andere neuere, ungemein abgeschmackte, zu verdrängen; es stehe, fuhr er fort, zu befürchten, daß man ihn nächstens als einen Sittenverderber über die Grenze bringen würde, so wie er prophezeite, daß man diese Volksgeschichten mit der Zeit den Bauern so gut mit Gewalt wegnehmen würde, wie das Schießgewehr.

Ich wußte auch um diese Projekte, und hatte schon oft gelesen, wie jeder unbeholfene Schriftsteller in neugedruckten Büchern jene altgedruckten verachtet hatte, ich suchte daher den Mann, mit dem ich ein inniges Mitleiden hatte, einigermaßen zu trösten. Ich sagte ihm, nach meiner Ueberzeugung, daß er doch nur 9 glauben solle, es sey der pure Neid, der die neuen Schriftsteller dahin bringe, daß sie diese guten alten Deutschen zu verdrängen trachteten, denn sie fühlten, daß jene besser geschrieben hätten, als sie im Stande wären; daß überhaupt diese Vorschläge, dem Volke bessere Lesebücher unterzuschieben, eben ein Projekt seyen, recht im Sinne der Schildbürger gedacht; daß die Menschen das Volk am liebsten erziehn möchten, die das Volk nicht kennen und selbst der Erziehung bedürfen, so wie diejenigen gern Lesebücher für alle Stände anfertigen, die für keinen Stand lesbar schreiben. Er sollte, fuhr ich immer fort, der Noth- und Hülfsbücher, der Boten aus Thüringen und dergleichen Bücher wegen nur unbesorgt seyn, eben so wegen der neuen moralischen Volkserzählungen, die so unbeschreiblich albern sind, weil sich die Verfasser das Volk so gar dumm vorstellen und daher nicht wissen, wie sie sich genug herablassen wollen; denn in jenen alten sogenannten Scharteken stecke eine Kraft der Poesie, eine Darstellung, die im Ganzen so wahr sey, daß sie bei'm Volk, so wie bei jedem poetischen Menschen, noch lange in Ansehn bleiben würden. Seyd nur zufrieden, sagte ich weiter, denn, mein lieber Mann, wenn jene Herren aufrichtig seyn wollen, so denken sie vom Homer nicht besser, wie von den schlichten Heymonskindern; so ein Curius incomptis capillis kommt ihnen mit seiner natürlichen Natur, mit seiner Wahrheit der Gefühle viel zu unhöflich vor, sie möchten sich Alles auf Popische Weise in langweilige Stanzen auflösen und übersetzen lassen, damit sie aus diesen Büchern heraus nicht mit einer zu harten altfränkischen Stimme angeredet würden, damit man ihnen den Honig noch 10 verzuckerte, und statt der rohen Lächerlichkeiten lieber nichtswürdige, charakterlose Albernheiten zu genießen vorsetzte. Sie möchten gar zu gern, daß der simple, treuherzige Bauersmann eben so bei langweiligen, kraftlosen Büchern gähnte, wie sie, damit sie sich an seiner Bildung erfreuen könnten. Ich weiß es auch, daß die alten guten Jägerlieder, so wie die naiven verliebten Arien und Gesänge, die oft so kindlich reden und es so ehrlich meinen, abgedankt werden sollen, und daß der Märkische Herr Schmidt und noch ein anderer großer Dichter, Lieder bei'm Melken und Waschen will singen lassen, um die Kühe und das Gesinde poetischer Weise zu ermuntern; indessen, wie gesagt, seyd unbesorgt, ich hoffe, das Bessere wird oben bleiben. – Ich ging endlich so weit, daß ich dem Manne entdeckte, wie ich die Absicht hätte, diese alten Volksbücher zum Theil umzuschreiben und sie spitzbübischer Weise sogar in die öffentlichen Lesebibliotheken zu bringen, damit selbst aufgeklärte und wahrlich nicht schlecht fühlende Demoiselles sie mit lesen und sie eine der andern empfehlen möchte, ohne zu merken, daß es so alte verlegene Waare sey. Der Mann war sehr erfreut darüber und wir schieden als gute Freunde.

Der Leser verzeihe mir diese Abschweifung; sie kann dazu dienen, ihm zum Theil deutlich zu machen, was ich von jenen Volksbüchern denke, und warum ich sie von Neuem abschreibe.

Von der Geographie des Landes also weiß ich nichts beizubringen. Einige haben die Scene nach Utopien legen wollen; indessen halte ich dies nur für einen gelehrten Kunstgriff, um sich aus der 11 Verlegenheit zu ziehn, weil Utopien eine Gegend ist, die es verträgt, daß man ihr Alles aufbürde.

Aus dem Mangel der geographischen Nachrichten so wie der historischen Quellen, so wie aus der Geschichte der Schildbürger selbst, die fast etwas Possierliches an sich hat, haben Einige schließen wollen, daß diese Schildbürger niemalen existirt hätten, sondern nur eine Erfindung der Imagination seyen. Ich will nicht weitläuftig untersuchen, welche gefährliche Folgen dergleichen Hypothesen für die ganze Geschichte haben können und daß diese Sucht, Alles allegorisch zu erklären, am Ende nothwendig Geschichte und Poesie zerstören müsse. Ein guter Freund von mir ist dieser Erklärungsmethode gänzlich ergeben, und liest deswegen Banier's Mythologie, so wie die neueren noch tiefern Abhandlungen und etymologisch, mystisch-allegorischen Werke fleißig; dieser leugnet mir gradezu, daß die Schildbürger jemals existirt hätten. Er hat sich die Mühe gegeben, die Odyssee und Ilias prosaisch aufzulösen, um zu beweisen, daß diese beiden Gedichte nichts sind, als eine wunderliche Einkleidung von allerhand Sittensprüchen und Gemeinplätzen. Er hält daher die Mühe der Botaniker für etwas sehr Ueberflüssiges, wenn sie sich quälen, den Homerischen Lotos ausfindig zu machen, denn er findet in der Geschichte der Lotophagen und der Gefährten des Odysseus, die sich in der Lotosspeise überessen, wieder nur eine scharfsinnige Allegorie. Ulysses war nämlich mit seinen Kameraden lange nach Art der Vagabunden umhergeirrt, die keine Gelegenheit fanden, sich zu fixiren, bis sie endlich in ein Land geriethen, das ordentlich mit Collegien, Accise, Lotterie und dergleichen eingerichtet war; 12 sie erhielten Alle Bedienungen, und schmeckten nun die Süßigkeit eines bestimmten bürgerlichen Einkommens; sie waren in die politischen verschiedenen Fächer versetzt, übten Pflichten aus und hatten überdies noch die Hoffnung, zu avanciren. Als Ulysses sie nun wieder abrufen wollte, um das unstäte Leben von vorn anzufangen, hatte, wie begreiflich, Keiner Lust, ihm zu folgen; und diese schöne Wahrheit hüllte nun Homer in das Gewand der Fabel, und erfand so ferne Lotophagen, die also nichts Anderes significiren, als einen gut eingerichteten Staat. Ich will dem Leser in der Beurtheilung dieser Erklärung nicht vorgreifen; nur werfe ich die Frage auf: Wohin führt das endlich? Wenn Jemand nach mehreren hundert Jahren unsere ordentliche deutsche Geschichte läse und ihm die religiöse und statistische Einrichtung bekannt würde, wenn er die verschiedenen Collegia und ihre Gewalt kennen lernte, unsere Methode zu arbeiten, die mannigfaltigen Spaltungen, das verschiedene wechselnde Interesse, die Wirkungen des Aberglaubens und der Aufklärung, die Akten, die Registraturen, die Controllen, die tausend und aber tausend Bogen, die Keiner liest, die Tabellen, die Steuern, die Finanzprojekte, würde er, sag' ich, nicht vielleicht in die Versuchung kommen, unser ganzes Zeitalter, und Alles in ihm, nur für eine witzige, scharfsinnige Allegorie zu erklären? So absonderlich dürfte ihm Alles dünken; so daß ich und alle meine wirkenden und gewiß nicht zu verachtenden Mitbürger nur allegorische Personen wären, das heißt, abstrakte Verstandesbegriffe. Und doch versichern wir gegenwärtig (und ich thue es hier um so lieber, damit auf keinen Fall in der Zukunft ein Irrthum entstehe), und unser 13 ganzes Zeitalter stimmt mir darin bei, daß wir Alle wirklich existiren und also an Scharfsinn und Witz bei uns gar nicht gedacht werden darf, daß wir uns auch daran begnügen wollen, lebende Personen zu seyn und uns das gute Zutrauen verbitten, für Verstandesbegriffe zu gelten.

Ich habe dies Exempel nur darum anführen wollen, um dem geneigten Leser recht klar zu machen, wohin die verderbliche Allegoriensucht führen könne.

Es scheint mir daher auch außer allem Zweifel zu seyn, daß die Schildbürger wirklich existirt haben, und in dieser Ueberzeugung will ich nun endlich zu ihrer eigentlichen Geschichte übergehn.

Höchst wahrscheinlich war es eine Colonie vertriebener griechischer Staatsmänner und Philosophen, die sich zuerst im Lande Schilda niederließen. Es entstand in diesem Lande wenigstens nach und nach eine Generation von Menschen, die einen ganz verwundernswürdigen Verstand in sich hatten. Sie unterschieden sich durch ihre Weisheit von allen übrigen Menschen, und wußten beständig, was recht und gut sey und was man schlimm und unrecht zu nennen habe; sie waren nicht nur im theoretischen Theile der Klugheit wohl erfahren, sondern auch im praktischen, so daß Alles, was sie thaten und riethen, einen glücklichen Ausgang gewann.

Dergleichen Vortrefflichkeit konnte nicht lange verborgen bleiben, und die ganze Welt sprach bald von der großen Weisheit und dem fast übermenschlichen Verstande der Schildbürger. Einige der benachbarten Könige und Fürsten zogen die berühmtesten an ihren Hof und machten sie zu Ministern, ja, was noch mehr 14 war, sie folgten ihrem Rathe und befanden sich wohl dabei; andere ahmten diesem Beispiele nach, und so war bald ganz Schilda von Einwohnern entblößt, die ihr eignes Land unregiert lassen mußten, um dafür alle übrigen vortrefflich zu regieren.

Es war also nun dahin gekommen, daß ein jeder Fürst einen Schildbürger als einen weisen Mann an seinem Hofe hielt, und daß der Verstand aller übrigen Länder in Mißkredit kam. Es schien, als hätte die Natur alle ihre Kräfte aufgewandt, um in dem kleinen Lande Schilda die allervortrefflichsten Rathschläger aufsprossen zu lassen, und daß es deshalb bald Mode und haut goût werden mußte, einen rathschlagenden Mann nirgends anders her zu verschreiben, so daß auch einige Fürsten, die keinen mehr überkommen konnten, sich innerlich schämten und wenigstens ein Paar Schildknaben an ihrem Hofe erziehen ließen, um mit ehestem Verstand und guten Rath als eine sichere Erndte davon zu bringen. Auch gab es hier und da Surrogate und nachgemachte Schildbürger, und der Rath war dann freilich so, daß er einer feinen verwöhnten Zunge nicht schmecken wollte.

Man darf sich übrigens über dieses anscheinende Wunderwerk nicht verwundern, denn die Natur scheint überall ihre Oekonomie so eingerichtet zu haben. An irgend einem bestimmten Orte ist jeglichesmal jede Sorte von Früchten die beste, so daß alle übrigen nur Abarten von dieser Art zu seyn scheinen. Die Krebse sind in manchen Gegenden weit vorzüglicher, als in andern. Die Römer konnten es zu des Horatii Zeiten den Fischen anschmecken, wo sie waren gefangen worden. In den neueren Zeiten hat man beobachten 15 können, wie die Treue so in dem engen Bezirke der Schweiz zusammengedrängt gewachsen war, daß kein anderes Volk ein Talent dazu hatte, eine Leibwache der Fürsten zu formiren, bis sich in den neuesten Zeiten diese Fähigkeit der Schweizer wieder verloren zu haben scheint, so wie auch die Früchte manchmal plötzlich wieder aus der Art schlagen. So haben die Pariser Pasteten, so wie die englischen Guineen, immer alles gute Vorurtheil für sich; so wie ich auch nicht begreifen kann, warum ein Fürst seine Unterthanen nicht als Soldaten solle vermiethen oder verkaufen können, wenn er einmal eine ganz besondere Anlage in ihnen dazu verspürt. Sollen denn Talente vergehen und verwesen? Ja, so wie ich es eben nicht unbillig finde, daß der berühmte Redner Demosthenes zweien gegeneinander streitenden Partheien die Reden machte, mit denen sie sich vortrefflich bekriegten, so halte ich es für bloße Einseitigkeit, daß man nicht öfter beiden Partheien zu dem doch nothwendigen Kriege die Soldaten aus Einem Lande übermacht hatte. Der Tadel dürfte auch übel angebracht seyn, da in frühern Jahrhunderten schon die edle Unpartheilichkeit der Schweizer auch hierin mit schönem Beispiele vorangegangen ist.

Auf diese Art waren also die Schildbürger im Rathschlagen unvergleichlich; denn da sie vielen Fürsten dienten, geschah es eben so, daß einer oft Rath gegen den Rath seines Mitbürgers geben mußte, und sie sich also mannigfaltig mit dem einen Verstand bekriegten, der auf demselben Boden gewachsen war. 16



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